Direkt zum Seiteninhalt

Zwei neue Zeitschriftennummern

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen



Hendrik Jackson


Über die Müdigkeit des Rezensenten und wie sie verfliegt angesichts zweier neuer Zeitschriftennummern (Schreibheft 86 und Randnummer 6•7•8)



Vorrede

Es gibt zwei Arten von Müdigkeit, die den Rezensenten zuweilen befallen und von denen ich sprechen mag anlässlich der neuen Ausgaben der Randnummer und der Schreibhefte: die eine Müdigkeit ist die des fehlenden Ablehnungsfurors. Er wird nachsichtig, der Kritiker, der Gute, er hat zu viel gesehen, er weiß, welch Kraft und Energie in den zu beurteilenden Erzeugnissen liegt, er hat ein solches Vielfaches der Herausgeb-x, Schriftstell-x und Übersetz-x kennen gelernt, er anerkennt die Redlichkeit des Bemühens, des Ausgrabens, des abplackenden Nachdichtens. Aber zugleich mit dieser Milde verschwimmen ihm seine eigenen Geschmackskonturen: wenn vieles, was ihn nicht recht, nicht wirklich flammend interessiert, dennoch ehrenwert und intelligent ist, so vieles seine Berechtigung hat, was soll er dann empfehlen, aussortieren, wie noch vehement sondieren?
Die andere ist die der fehlenden Begeisterung: Da ist das Thema, auf das er lange gewartet hat, da ist das große Talent, das etwas höchst Eigenwilliges macht, da ist der große Wurf! Allein, er kennt die Mechanismen, die ein Werk groß machen, allein, er erkennt die Vorgänger, allein, er möchte nicht immer mit Großem oder Ambitionösem befrachtet werden. Für wen denn groß, fragt er sich grimmig. Muss es heute auch für mich groß sein? Darf ich nicht warten, bis das Werk mir zugereift ist? Das wirklich Relevante, doziert er in sich hinein, kommt organisch daher und schleicht sich leichtfüßig ins Herz.

Ja, es ist schwer, den Rezensenten aus seiner Lethargie zu reißen, ist er doch berufsmäßig geradezu verpflichtet, sich permanent zu begeistern oder zu zerreißen und ist dessen überdrüssig. Besonders augenscheinlich wird das, wenn er Zeitschriften zu besprechen hat. Für wen sind diese bunten Sträuße Allerlei denn gemacht, die es meist nur im Netz zu bestellen gibt. Wer liest diese ganzen Konglomerate, mal strategisch, mal konzeptuell, mal kontingent zusammen-geschnipselt?-klebt?-komponiert? Meist doch nur die, die dort selber publizieren.
Zugleich, o Bastelei! ist so viel Rührendes dabei, so viel Sorge, Aufmerksamkeit, Ausgraben, Übersetzen, Dichten und Singen! Mindestens Milde walten lassen, bestenfalls vor Begeisterung entbrennen – ach.   

Exemplarisch für diese Müdigkeit, die den Rezensenten angesichts solcher literarischer Publikationen überfallen mag, sollen hier die Dreifachausgabe 6•7•8 der Randnummer und die neue Nummer 86 des Schreibhefts stehen. Denn sie weisen zugleich einen Weg aus dieser Müdigkeit.
Zwar zeichnet beide Hefte eben jene Fülle an Disparatem aus, die leicht überfordern kann ... übrigens auch die Rezension: so dass das Wesentliche zusammenzufassen – unmöglich scheint. (Und deshalb verzeihe der geneigte Leser dies rein subjektive Protokoll der Gefühle und grundsätzlichen Gedanken anstelle akribischer Zusammenfassungen oder Beschreibungen der Texte: solche würde jeden Rahmen sprengen und nur Benennungsungerechtigkeit erzeugen.)
Doch seien beide Zeitschriften schlicht und einfach ans Herz gelegt, sie ersetzen wunderbar in den anstehenden Sommerferien jene dicken Wälzer, die man nicht zu Ende liest, und sind doch voll kleiner, verdaulicher Portionen und funkelnder Fundstücke.

Schreibheft 86

Das Schreibheft widmet sich wie immer Schwerpunkten, diesmal: Orson Welles, sowie einem (historischen) ukrainischen Futurismus und seinen Einflüssen in der Gegenwart. Den größten Teil aber macht ein Briefwechsel zwischen Henry James und Louis Stevenson aus.
Natürlich stürzt sich der Rezensent als Russischübersetzer in freudiger Hoffnung auf den Ukraineteil, deren Texte übersetzt und zusammengestellt wurden von Claudia Dathe. Es dreht sich vor allem um Mychail Semenko und Mykola Chwyljowyj, der eine beinharter Futurist und Zerstörer der Tradition, der andere eher proletarisch-bodenständig gesinnt, voll erdschwerer Erzählkraft, wie eine seiner Erzählungen belegt.

Dazu wird noch eine Handvoll junger Lyriker, die als vom Futurismus beeinflusst beschrieben werden, mit je einem Gedicht vorgestellt, krönend abschließend mit dem allseits präsenten Serhij Zhadan.


Doch zu Semenko und Chwyljowyj: zwei so typische, tragische Sowjetschicksale, der eine wird erschossen, der andere wählt den Freitod.
Sofort überkommt den Rezensenten die große Gutmüdigkeit. Ja, das ist bestimmt höchst überfällig, was da sorgsam zusammengetragen wurde. Er beginnt zu lesen und denkt sich: das ist bestimmt engagiert, liebevoll und empathisch übersetzt. Und doch verstärken die Texte seine Milde-Müdigkeit: Diese Proklamationen! Aus heutiger Sicht ist kaum auszuhalten, was der Semenko so verzapft. Sein rabaukenhaftes Zerstören und Propagieren des Neuen, das wir freilich allzu gut kennen vom Futurismus, steht dabei in merkwürdigem Kontrast zu seinen fast rührend anmutenden Texten, so wie seine literaturhistorische Destruktivität von einer regelrecht unbedarften Literatur- und Wirklichkeitsauffassung akkompagniert wird. Und es ist vermutlich keine große Literatur. Nichtsdestotrotz fühlt sich der Rezensent verpflichtet, sein Urteil zu mäßigen: Sind das nicht Dokumente von höchstem literaturhistorischem Interesse? Gibt es nicht immer wieder faszinierende Ansätze in den Texten, die ja nur Beispiele eines größeren Schaffens sind? Ist gerade der Widerspruch zwischen Berserkertum, Zukunftsglauben und dann so kindlich-gutmütigen Gedichten wie "Streunendes Herz", in dem es melancholisch heißt: "Diesen Herbst irre ich umher in Qualen", nicht wenigstens aufschlussreich? Und doch verwirrt sich der Kopf des Rezensenten zunehmend, er weiß nicht mehr recht, wo er sich befindet: in der Ukraine, im Deutschland der Jetztzeit (immerhin ist es eine neue Übersetzung, die, auch weil sie den Futurismus so flutschschnell in die Gegenwart übergehen lässt, nicht ganz unpolitisch oder unaktuell gelesen werden kann) oder in der Sowjetunion? Womöglich einfach im ganz eigenen Biotopraum der Schreibhefte ... Er schimpft sich selbst Ignorant, weil er nicht weiß, wo ansetzen, weil er nicht die Schärfe hat, das Thema so zu durchdringen, dass sein Ansatz der Kritik nicht nur streng, sondern auch stringent wäre. Die Hitze macht ihm zu schaffen, er liest sich nicht – nein, steckt lediglich fest.
Das alles macht ihn nur verzweifelter und – nur noch milder. Er blättert, um eine schöne, zitierbare Stelle zu finden – eine schlechte Herangehensweise! Und dann findet er doch etwas, wie nicht selten in den Schreibheften, im letzten Teil (einmal fand er dort einen Briefwechsel, der eine großartige Beschreibung eines Treffens mit einem dauerfluchenden Handke enthielt: unvergesslich!): Eine Flaschenpost von Olga Martynowa, die imponierende Unterscheidungen trifft und dem schiffbrüchigen Rezensenten vor dem selbstverschuldeten Verdursten rettet. Eine höchst eigenwillige Poetologie der Kassiber. Dankbar kehrt er nun und frohgemuter zu den anderen Beiträgen zurück, zu dem Briefwechsel und zu den Futuristen. Und schon liest es sich leichter, wacher, bereichender.

Randnummer 6•7•8

Aber angesichts des Konvoluts der Rand-nummer, einer anspruchsvollen Tripleausgabe, müsste ihn eigentlich eine nächste Müdigkeit überkommen. In allen drei Nummern höchst ambitionierte Texte! Dass bei solcher Über-befrachtung des Lesers Müdigkeit leicht, desto stärker, je besser man es eigentlich meint, in Gereiztheit umschlagen kann, bewies ja die dotzauersche Rezension im Tagesspiegel.
Doch sofort offenbart sich dem Rezensenten, wie wichtig der eigene Bezug zur Zeitschrift sein kann:

da er selbst in der mittleren Ausgabe mit einem Gedicht beteiligt ist, wiegt er erst einmal selbstzufrieden und wohlwollend diese famose Bindung in den Händen, delektiert sich an der cleveren Gestaltung, der avantgardistisch (!) anmutenden Grafik und dem Design (Comics, herausnehmbare Textquadrate etc.) – und ihm reicht es, dass die Ausgabe so schlicht-bibliophil und underground-prächtig daliegt.
Doch Adel und gute Gesellschaft verpflichten. Unmöglich es einfach ungelesen daliegen zu lassen. Und als er blättert und entdeckt, wer da alles publiziert hat, was für interessante Ansätze vertreten sind, und die schiere Anzahl an gehirntraktierenden Texten, seufzt er: so viel gute Literatur lässt sich ja kaum verarbeiten. Da warten ja noch mehr Bücher und diese drei Hefte muss man regelrecht studieren ... Und so kämpft er sich pflichtbewusst, und also doch von Müdigkeit umweht, durch. Obwohl ihm die meisten Texte Spaß machen, obwohl er sie schätzt, ihnen alles zuspricht, was er von guten Texten erwartet, will sich die letzte Euphorie angesichts dieses Pflichtdrucks nicht einstellen ... bis es passiert: Da ist er, der Text, der in jenem Geist, mit jener Strenge und zugleich flirrender Assoziativität geschrieben ist, für die man sich selber auch abmüht, für die man dies alles durchforstet, weshalb man doch angefangen hat mit all dem Schreiben und Lesen. Ein wunderbarer, rätselhafter und zugleich luzider (jedenfalls soweit man ihn entschlüsselt) Text von Frühauf: belauert sein, sich. Der Rezensent verdankt ihm nicht nur wunderbare neue Worte (fulgurant! nystagmisch!), er hinterlässt auch eine kriminalistische Spur. Irgendwie geht es um einen Schuss, eine Katastrophe womöglich? Doch verzettelt sich der Text fast halluzinös in Reflexionen, präzisen Verunsicherungen, poetischen Abschweifungen, obwohl er die ganze Zeit spricht, als wüsste er eiskalt genau, was er da mit dem Leser macht.
Von solch einem Text aus lässt sich erobern! Und so schreitet der Rezensent nach allen Seiten aus und findet Texte von Falb, von Kraus, von Reuther und Rudolph: Anthropozän, eigenartige Fremdsprachen, kernige Alltagsverwustungen, irre Kaskaden an Assoziationen und Sprachverkeilungen folgen, und nicht die Namen sind wichtig (weswegen sie vorbildhaft auch nur klein an den Rand geschrieben wurden) – sondern das rasante Auf und Ab von Stilen, Ansätzen, Wuchtigkeiten, Nichtigkeiten und Großkonzepten: Sammelsurium, bei dem kein Text völlig durchfällt, aber viele wirklich inspirieren. Eine Einschätzung, wo das alles hinführen soll, was das Konzept ist, fällt schwer, aber es ist, solange solche Energien freigesetzt werden, auch egal.
Eigenwerbungsfragen ignorierend, bekennt der Rezensent, dass spätestens jetzt alle Müdigkeit verfliegt und Lust, Hirnaktivität obsiegt.


Schreibheft #86. Essen (Rigodon-Verlag) 2016. Einzelheft 13,00 Euro (Abo = 4 Hefte 36,00 Euro)

randnummer 6 - 7 - 8. Berlin (randnummer literaturhefte) 2016. 15 Euro.

Zurück zum Seiteninhalt