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Walter Fabian Schmid: Das Scheitern des zersungenen Orpheus

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Walter Fabian Schmid

Das Scheitern des zersungenen Orpheus
Lied und Gesang bei Paul Celan





Abstract

Zwar arbeitet der Autor gern mit musikalischen Begriffen: die gerühmte ,Todesfuge’ aus ,Mohn und Gedächtnis’
oder, in dem vorliegenden Band, die ,Engführung’. Doch dies sind eher kontrapunktische Exerzitien
auf dem Notenpapier oder auf stummen Tasten – Augenmusik, optische Partituren.
¹


Nicht nur der obige Ausschnitt der vernichtenden Kritik von Günter Blöcker zum Gedichtband Sprachgitter zeigt, dass an die Gedichte Celans in der Rezeption seiner Zeit immer wieder ihre Musikalität und musikalische Gattungstraditionen herangetragen wurden. Klaus Demus‘ Interpretation z.B. geht sogar über einzelne musikalische Elemente hinaus und setzt die Gedichte gleich mit Liedern gleich, wie er in einem Brief vom 07.12.1948 schreibt: «Das Lied. Eins nach dem andern, viele. Unübersichtlich. Bruchstücke des Ganzen, tragisch und anonym. Gemacht um zu dauern, ausser Ihnen, nach Ihnen, ohne Sie. Durch die unbeschreiblich traurige Melodie.» (BW PC / KND, S. 14) Das freundschaftliche Urteil von Nani Demus geht noch ein bisschen weiter, indem sie die Gedichte Celans als Lieder überhöht. Am 16.11.1951 schreibt sie von «Lieder[n], die alles Gesungene weit übertönen» (BW PC / KND, S. 82).

Die Celan-Rezeption seiner Zeit setzte häufig seine Lyrik mit einem musikalischen Kunstwerk gleich. Widersprüchlicher Weise fand der Einfluss der Musik auf die Gedichte Celans bis auf strukturelle Analysen und intertextuelle Einzelreferenzen wenig Aufmerksamkeit. Das ist umso verwunderlicher, da sich Musik in der Dichtung Celans als ein werkgenetisches und poetologisches Prinzip herausstellt. Dieser Aufsatz beschränkt sich aber auch erst einmal auf die musikalische Motivik, genauer gesagt auf Liedformen, das Lied als Thema und das Motiv des Singens. Verzichtet werden muss auf strukturelle Merkmale wie die Analyse von Kontrafakturen oder jenen Gedichten, die vorgegebene musikalische Formen adaptieren, wie dies etwa in Form vom Volkslied, dem Air, der Fuge, dem Shanty, dem Chanson oder dem Responsorium bei Celan vorkommt. Genau so wenig erfolgt eine Untersuchung, inwiefern die Gedichte musikalische Gebilde sind und selbst Musikalität herstellen. Hierzu müsste man Adorno fortschreiben, der Sprachgitter ausschliesslich als ein musikalisches Konstrukt wahrnahm und plante, einen Essay darüber zu verfassen, zu dem es allerdings nie kam. Am schönsten zeigt sich dessen Hinhaltetaktik im folgenden Brief an Celan:


Theodor W. Adorno


Gehofft hatte ich, die längst projektierte Arbeit über Ihre Lyrik, die sich auf das Sprachgitter beziehen wird, so rechtzeitig fertig zu stellen, dass ich sie bei einer Veranstaltung des Radio Zürich im Theater am Hechtplatz am 25. Februar hätte vortragen können. Das ist nun nicht gelungen, ganz einfach wegen des unsinnigen und zum grossen Teil ganz fruchtlosen Drucks der während der letzten Semesterwochen auf mir lastet [...]. Ich hoffe aber, sobald ich Atem schöpfen kann, diese Sache zustande zu bringen; entworfen ist sie längst. Die Konzeption hat sich unmittelbar angeschlossen an eine Sitzung des Berliner Seminars von Peter Szondi, die wir gemeinsam über die «Engführung» abhielten; ob, was ich zu sagen vorhabe, und was sehr schwierig sein wird, sich nur an dieses Gedicht oder an den ganzen Band halten wird, vermag ich noch nicht zu übersehen, glaube aber doch eher, dass ich den zweiten Weg gehe. (BW PC / TWA, S. 197f.)

Zwar könnte man meinen, wenn die Konzeption steht, wüsste man, welche Gedichte man einbezieht, aber das sei hier egal. Hier werden alle von Celan abgefassten Gedichte einbezogen – auch wenn Beda Alleman die Gedichte aus dem Frühwerk als «Randbestände» sieht, die «den geschlossenen Charakter des von Celan sehr bewusst komponierten Gedichtwerkes beeinträchtigen können»,² und er somit einen Teil des Werks negiert, nur um eine Scheinkonstruktion der Geschlossenheit aufrecht zu erhalten. Das «Gedichtwerk» Celans wird aber vom Frühwerk insofern beeinträchtigt, als dass die spätere Schreibauffassung nur in Opposition zu ihm verstanden werden kann. Mit Frühwerk, ist hier allerdings nicht die gleichnamige Publikation gemeint, sondern aus musikalischer Sicht reicht dies bis einschliesslich Von Schwelle zu Schwelle.



Urzustand Gedicht=Lied

Am deutlichsten wird Celans frühes Verständnis von Lyrik anhand des Liedes. Die bereits per Titel definierten Lieder³ zeugen von seiner damaligen Auffassung der Deckungsgleichheit von Lied und Gedicht bzw. der Annäherung der Lyrik an ihren Ursprung als musikalischen und musikbegleitenden Text. Als Beispiel sei hier der Zauberspruch (G 398) zitiert:


ZAUBERSPRUCH

Blut der Regenmaid wie Wein
schläfere die Erlen ein.
Wind der Welt im Sternenkleid,
bring der Dunkelheit Bescheid.

Silberried und Silberrohr,
stellt euch durch das Rosentor,
holt den Tau fürs Augenlid,
Silberrohr und Silberried.

Still aus jeder hohlen Hand,
Reiher, taucht der Purpurstrand.
Stiehl dir Pracht und raub dir Tag
und die Perlenbrücke schlag.

Solche gleichgebauten, nach derselben Melodie zu singenden Lieder von drei Strophen zu je vier Versen sind typisch für den frühen Celan und werden bis hin zu Von Schwelle zu Schwelle 35 Mal verarbeitet. Dabei kann man durchaus eine Poetisierung und Romantisierung der Welt erkennen. Häufig verschmelzen die Traumwelt und die Realität in einem Bereich der Dunkelheit, die in ihrer völligen Konturlosigkeit für Celan einen Übergangsbereich darstellt.

Die Ausarbeitung der Gedichte als Strophenlieder geschieht aber nicht immer, obwohl sich die Titel auf die Musik beziehen.
Diese Gedichte geben weder eine eigene Melodie vor noch können sie abgesungen werden, wenn man das Kriterium der Sangbarkeit heranzieht. Der Gesang der Brüder (G 384) thematisiert sogar das Stammeln:


GESANG DER FREMDEN BRÜDER

Wir Finstern. Für uns
stammeln die Schluchten ihr schwarzes
Geläut
splittert die Nacht von geschwungenen
Keulen;
singt unser Schrei
in den Wimpern der Toten …
Dann schaufeln wir Mond in ihr Grab.

Die Abweichung von der Strophenliedtradition hat sich aber nicht schrittweise entwickelt, sondern beides existiert von Anbeginn an parallel. Allein, dass die Titel betreffender Gedichte auf Musik rekurrieren, bringt zum Ausdruck, dass Celan die Musik auch dort in den Vordergrund stellt, wo zunächst gar keine ist. Vielmehr spielt er damit auf die Abhängigkeit vom musikalischen Vollzug an bzw. die Gedichte sollen an sich schon ein musikalischer Vollzug sein und sind wie durchkomponierte Lieder verfasst.

Zwar kann man dadurch Erwin Holthusens Kritik nachvollziehen, wenn er schreibt: «er (Celan) erhebt, so scheint es, noch einmal den Anspruch der symbolistischen Schule auf Einsetzung der Poesie in die Rechte der Musik»;
allerdings ist das ein bisschen differenzierter zu sehen, denn die Kritik erschien zu einem Zeitpunkt, an dem bereits etliche Gedichte aus Von Schwelle zu Schwelle erstveröffentlicht waren. Und in diesem Gedichtband zeichnet sich eine wesentliche Veränderung in der Lied- bzw. Gedichtform ab, die anhand des folgenden Gedichtes dargelegt sei:


ASSISI

Umbrische Nacht.
Umbrische Nacht mit dem Silber von Glocke und Ölblatt.
Umbrische Nacht mit dem Stein, den du hertrugst.
Umbrische Nacht mit dem Stein.

           Stumm, was ins Leben stieg, stumm.
            Füll die Krüge um.

Irdener Krug.
Irdener Krug, dran die Töpferhand festwuchs.
Irdener Krug, den die Hand eines Schattens für immer verschloss.
Irdener Krug mit dem Siegel des Schattens.

           Stein, wo du hinsiehst, Stein.
           Lass das Grautier ein.

Trottendes Tier.
Trottendes Tier im Schnee, den die nackteste Hand streut.
Trottendes Tier vor dem Wort, das ins Schloss fiel.
Trottendes Tier, das den Schlaf aus der Hand frisst.

          Glanz, der nicht trösten will, Glanz
          Die Toten – sie betteln noch, Franz.

Auch wenn Voswinckel hier einen Schritt zur Depoetisierung sieht, ist aus Sicht des Liedes eher von einem Innehalten zu sprechen. Beobachtet werden kann das Zusammenspiel zwischen der Statik, die im Strophenlied vorherrscht, und der Dynamik des durchkomponierten Liedes. Wo allerdings im Strophenlied die Statik durch die festen Formen von Verse und Strophen hergestellt wird, also eine Selbstreferenz der Form diese Statik begründet, so geschieht das hier durch eine Selbstreferenz der Bestandteile, der Syntagmen. Gerade aus den statischen Syntagmen heraus entwickelt sich aber die Dynamik, die gleichsam von ihnen wieder eingefangen wird. Zwar könnte man das als einen elliptischen Refrain bezeichnen, für die poetologische Fortentwicklung ist allerdings die Konzentration auf das eigene Material wichtiger. Denn Celan geht hier schon andeutungsweise den Weg in die «allereigenste Enge», indem er die Multikontextualität der Syntagmen vorführt, die später in das einzelne Wort als Kristallisationspunkt eingelagert ist. Ebenso wichtig ist, dass Celan hier nicht mehr die Musik mittels schlichter Nennung, Motivik oder Form evoziert, sondern dass sie dem Gedicht schon inhärent ist und beginnt, sich in die Struktur zu verlagern.



Orpheus

Bedenkt man die Gleichsetzung von Lied und Gedicht, liegt die Vermutung nahe, dass sich Celan als orphischer Sänger verstanden hat. Allerdings mag das vielleicht für ihn selbst gelten, wenn er an Petre Solomon schreibt, er sei bei einer Lesung in München als «orphischer Sänger» wahrgenommen worden (BW PC / PS, S. 61), das Selbstverständnis Paul Celans soll hier aber egal sein, sondern untersucht werden soll, welches Orpheusbild er in seinen Gedichten verarbeitet.

Trotz dem Glauben an das Lied wird von Anbeginn an ein negatives Orpheusbild transportiert. Die Macht des Gesanges scheint verloren gegangen, was sich am deutlichsten im Gedicht Jenseits (G 389) zeigt: «Was vorher war ist nun von uns gesunken. / Nun gibt es keinen mehr, der mit Gesängen fleht. / Und keinen mehr mit Dunkelheit zu täuschen.» Somit besitzen die Lieder keine magische Macht mehr, weil auch die Dunkelheit als romantisch-sehnsuchtsvoller Übergangsbereich von Traum und Realität nur Trug war. Mit einer solchen Interpretation ergibt sich allerdings eine Diskrepanz: Zwar würde Celan formell unbeirrt am Lied festhalten, thematisch spräche er den Liedern aber jegliche Wirkung ab. Wichtig ist aber vor allem der Titel des Gedichtes: Jenseits. Denn dahin hat sich Orpheus längst verzogen.

Damit benutzt Celan ein durchaus tradiertes Orpheusbild als Versöhnung zwischen Leben und Tod.
¹⁰ Die Vereinigung Liebender und Toter zeigt sich v.a. in Corona (G 39) («Mein Auge steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten: / wir sehen uns an, / wir sagen uns Dunkles, / wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis»¹¹). Das Auge von Orpheus steigt aber eben aus dem Jenseits hinab, wie der verdeckte Bezug im Sternenlied (G 423) klar macht:

STERNENLIED

Nichts kann, das sich im Mondschein noch begibt,
je sein wie damals, als der große Wagen
uns tönend aufnahm. Keinen den er liebt
wird er, wie einst uns zwei, begeistert tragen,

dass laut die Leier aufklingt, wenn sein Rad
durch Fernen hinrollt; dass die unsichtbaren
Gestirne aufblühn, wenn er strahlend naht,
und staunen, dass hier andre also fahren;

und sich das Schwanenlied dort oben, bang
vor eignem Tod, bekennt zum fremden Leben;
[…]

Nimmt man an, dass mit dem Schwan Orpheus gemeint ist, so steht er hier zwar in der Bedeutung einer harmonisierenden, Liebe ausstrahlenden Gestalt¹² und seinem Lied ist bang, weil es in Erinnerung an das eigene Schicksal um jenes der beiden Liebenden fürchtet; nur letztlich ist Orpheus bereits gestorben, weil der Sage nach seine Leier in ein Sternenbild verwandelt wurde. Den vollzogenen Tod hat das Schwanenlied aber noch vor Augen. Wenn Celan in einem Brief vom 3.November 1946 an Max Rychner schreibt «jedes Gedicht geht mit dem Gefühl einher, dass ich nun mein letztes Gedicht geschrieben habe»,¹³ dann wird so ein Orpheus zum Sinnbild, wenn nicht sogar zum Antrieb, des künstlerischen Schaffensprozesses.

Dennoch gibt Orpheus im Jenseits nie den Kampf um die Vereinigung auf wie z.B. in Brandung (G 49):


[...]
noch einmal mit dem Tod im Chor die Welt herübersingen,
noch einmal aus dem Hohlweg rufen: Seht,
wir sind geborgen,
seht, das Land war unser, seht,
wie wir dem Stern den Weg vertraten!

Die Funktion des Gesanges zur Vermittlung zwischen dem Dies- und Jenseits wirft auch ein neues Licht auf das im Hauptwerk viel interpretierte Gedicht Fadensonnen (G 179).

FADENSONNEN
über der grauschwarzen Ödnis.
Ein baum-
hoher Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.

Auch dieses Gedicht wird aus dem Jenseits, also der Unterwelt und dem Schattenreich, gesprochen, oder wie Celan es nennt: aus der «grauschwarze[n] Ödnis». «Ein baum- / hoher Gedanke greift» von da aus nach oben und erhascht den «Lichtton», womit das Jenseits und Diesseits zusammengeführt werden. Bei der Verschmelzung und deren Versöhnung sind dann die «Lieder» zu singen. Mit dieser Perspektive kann Fadensonnen nicht als Hoffnung auf eine erlösende Zukunft jenseits der Menschen gelesen werden, wie es aber vielfach gedeutet wurde, und wie es beispielsweise auch Erich Fried mit seiner Entgegnung Beim Wiederlesen eines Gedichtes von Paul Celan verstand. Auf allgemeiner Ebene resultiert daraus die Erkenntnis, dass die Lieder nur noch im Jenseits ihre Macht entfalten können und der Gesang dazu im Stande ist, beide Welten miteinander zu versöhnen oder zumindest diese Vereinigung zu versuchen, was nichts anderes als eine perspektivisch umgekehrte Romantik wäre.



Themen der Lieder

Wenn in der vermittelten Orphik das Lied aus dem Jenseits tönt und zur Vereinigung von Liebenden und Toten dient, so müsste das aufgrund der Deckungsgleichheit von Lied und Gedicht rückwirkend ein metapoetisches Prinzip für die Gedichte sein, die den Titel «Lied» tragen und als Lieder ausgestaltet sind.

Zunächst ist festzustellen, dass auch das lyrische Ich in Steppenlied (G 393) schon mit der Welt abschliesst, wenn es fragt: «Wo, sag, war Heimat, und was, sag, war Welt?» Allerdings müsste auch eine Verschmelzung von Liebe und Tod stattfinden, was man tatsächlich im Schlaflied (G 395) beobachten kann:


SCHLAFLIED

Mit den faltern, mit der Nacht
lass mich ein in deinen Schlummer:
              über dir bin ich ein stummer
             Atemzug der wacht,

dass der Spiegel nicht zu spät
deine Stunde krönt und kündet,
[…]

Wenn du dann die Hände hebst
und das Dunkel feierst, freier,
           bin ich der flüsternde Schleier,
           dem du fremd entschwebst.

Was sich oberflächlich zunächst wie ein Liebeslied liest, bei dem eine mystische Verschmelzung von Ich und Du stattfindet, entpuppt sich in seiner doppelten Konnotation als Todeslied. Der besungene Schlaf ist nichts als die Einkehr in den Tod, der allerdings aufgrund seiner Poetisierung mit einem geborgenen Gefühl besetzt ist. Das Lyrische Ich wacht zunächst als «stummer Atemzug» über dem «Schlummer» des Du. Dieser Atemzug wird bei Eintreten des Dunkel – das, wie eingangs dargelegt, einen Zwischenbereich von Traum und Realität und hier konkret von Tod und Leben darstellt – zum «flüsternden Schleier», dem das Du «freier» «entschwebt», es also seine Seele aushaucht. Effektiv wird hier also das Hinübergleiten der geliebten ins Jenseits besungen und gefeiert.

In Opposition der Vereinigung der Liebenden im Tod steht die Trennung der Geliebten im Taglied (G 416). Schon der Titel deutet auf diese Thematik hin, denn er spielt auf das Tagelied des Minnesangs an, in dem die Trennung eines Liebespaares nach einer unerlaubten Liebesnacht beklagt wird.
¹⁴  Die Opposition von Trennung und Vereinigung, von Taglied und Schlaflied, wird aber in den letzten beiden Versen mit «Was weinst du, wenn ich jetzt ein Segel hisse, / das langsam dunkelt, wenn es tagt?» aufgehoben. Denn damit erfolgt am Tag schon der Aufbruch in die Nacht, also die Aussicht auf eine Wiedervereinigung wie sie im Schlaflied stattfindet.

Wenn am Tag der Aufbruch ins Dunkel und im Schlaf die jenseitige Vereinigung stattfindet, dann müsste am Abend eigentlich der Tod stattfinden. Genau das vermittelt Abendlied (G 413), schliesslich hiess eine frühere Fassung des Gedichtes noch «Todeslied» (Vgl. G, S. 900). Der Tod erscheint hier als eine übermächtige Kraft, die das lyrische Ich anzieht, denn «Die Rufe, die zum Bleiben überreden, / bestehen nicht vor dem verborgnen Ruf» und das Ich schreitet notfalls selber zur Tat: «Dem fremden Engel spann ich selbst die Schwinge». Zwar bleibt trotz dem festen Entschluss die Unsicherheit: «Schliesst sich das Aug? Und fällt von mir die Fessel?»; dennoch liefert es genügend Hinweise, um den thematischen Kreis zu schliessen, der zeigt, wie Celan in seinen Liedern den Tod besingt, um in jenes orphische Jenseits zu gelangen, wo die Lieder wieder eine Wirkung haben.




Lied als Thema


Zwar werden die Lieder in dieser Funktion auch innerhalb der Texte als Themen präsentiert, so wie es Nachts ist dein Leib (G 27) der Fall ist, allerdings erscheint die auftretende diskrepante Verarbeitung viel interessanter:

Denn mit Gedichten wie Träne (G 385) kommt den Liedern eigentlich eine Nichtigkeit zu: «Nicht Lieder sind es, Lieder verwandeln mich nicht». Vertrauen kann auch keins mehr gesetzt werden ins Lied, denn «Mein Herz verlässt dein Lied, Scheherezade ...» (Sindbad, G 418) und in Finsternis (G 385) «staut sich schwarz / die Schwüle sprachloser Lieder». Diese erklingen nicht einmal mehr, weil ihre Grundbedingung, die Sprache, nicht mehr vorhanden ist, so dass nur noch ihre leere Aura herabdrückt.


Celan spricht dem Lied jegliche Wirkung und Funktion ab. Unter Berücksichtigung seiner Gleichsetzung von Lied und Gedicht heisst das aber, dass das Gedicht zum Scheitern verurteilt ist, weil es sich selbst aufhebt. Ob die Erkenntnis darüber ein Grund ist, warum in Von Schwelle zu Schwelle kein einziges Gedicht mehr den Titel Lied trägt und auch in keinem einzigen Gedicht das Lied explizit erwähnt wird, kann hier nur gemutmasst werden.




Singen

Diese Diskrepanz zeigt sich auch im Motiv des Singens. Zwar erfüllt sich einerseits reichlich romantisiert die Vereinigung von Diesseits und Jenseits, andererseits wirkt das Singen aber ebenso vernichtend.

Zunächst lässt die Chronologie von einer Vereinigung der Geliebten über die Anziehung des Todes bis hin zum Gesang aus dem Jenseits nachvollziehen: Wo im Gedicht Leise, Geliebte, Leise (G 382) die Geliebten zueinander finden, ist Gemurmel der Toten (G 392) eine Lockung ins Jenseits eingeschrieben. Denn mit «Erde, du singender Samt», ist durchaus der Erdboden gemeint, der einen in Samt bettet, also als samtausgekleideter Sarg aufnimmt. Als Schlussfolgerung erscheint dann wieder Celans perspektivisch umgekehrte Romantik mit dem Gesang aus dem Jenseits, der nicht das Tor zur Transzendenz öffnet, sondern durch das Tor ins Diesseits zurückblickt wie in Talglicht (G 29): «Schwarz springt das Tor auf, ich singe: / Wie lebten wir hier?»

Andererseits kolportiert Celan dieses Konzept, weil das Singen zugleich eine fatalistische Konnotation besitzt wie in Aschenkraut (G 30), wo er schreibt: «Du sangst auch ein Lied, und wir flochten ein Gitter im Nebel: / vielleicht, dass ein Henker noch kommt und uns wieder ein Herz schlägt; / vielleicht, dass ein Turm sich noch wälzt über uns, und ein Galgen wird johlend errichtet». Letztlich können durch die Evokation des Fremdmediums die beiden Verse nach dem Doppelpunkt als Inhalt des im Gedicht gesungenen Liedes gelesen werden. Geht man von so einer Intradiegese des Gedichts aus, wird eindeutig ein Henkerslied angestimmt. Eine ähnliche Konnotation zeigt auch Russischer Frühling (G 426), wo die «Katjuscha», ein Maschinengewehr, das im Volksmund «Stalinorgel» (Vgl. G 909) genannt wird, zu singen beginnt. Deswegen sind auch die «Orgelstimmen», vor denen das Gedicht auffordert zu knien, gleichsam die Geschütze, vor denen man zu Boden geht. Das Singen geht aber noch einen Schritt weiter und treibt sogar den Krieg voran wie in Notturno (G 393), wo es heisst: «Die Pappeln mit singendem Schritt / ziehn mit dem Kriegsvolk mit:» Die Pappeln, die hier singen, sind zu verstehen vom Wortursprung her, der mit dem Lateinischen «populus» also «Volk» zusammenfällt, so dass eben auch das «festgewurzelte» Volk, das nicht einschreitet, indirekt das Kriegsvolk unterstützt.




Instrumente

Die Frage bei dieser Diskrepanz ist dann, wie sich die Instrumente verhalten, die quasi das Singen durch das Frühwerk begleiten. Aber diese sind ebenso widersprüchlich. Dazu muss man sich nur einmal die am häufigsten verwendete Harfe anschauen, die wiederum mit dem Multinstrumentalisten Orpheus in Verbindung gebracht werden kann. Zum einen dient sie zur romantischen Poetisierung, so dass in Leise, Geliebte, Leise (G 382) die Sträucher wie eine Äolsharfe einen «goldnen Gesang» anstimmen, zum anderen wird genau dieses Bild in Schwarze Krone (G 58) wieder zerstört: «In die Winde, in die scharfen / reißt du alle sanfte Harfen». Und quasi als Entgegnung des Sternenlieds schreibt Celan: «Von meinen Sternen nur / wehn noch zerrissen, die Saiten einer überlauten Harfe» (Es fällt nun, Mutter, Schnee in der Ukraine, G 399). Celan widerspricht also den eigenen Texten und der musikalischen Überhöhung, die er selbst konstruiert hat. Und dabei ist das Negativ nicht weniger emphatisch als die Konstruktion, was sich auch anhand der Pauke zeigt: Genauso wie sie romantisiert wird («Wie schwärmerisch, Pauke, dein Schall» (Schöner Oktober, G 424), wird sie auch wieder ins Gegenteil verkehrt, denn «die feurige Pauke wird laut (…) wie Scherben erklingts» (Halbe Nacht, G 29).




Fazit

Paul Celan pendelt in seinem Frühwerk zwischen poetisierter Romantik und dramatisiertem Fatalismus mittels der Musik. Aus seinem naiven Glauben an das Lied heraus schreibt er der Musik eine Doppelfunktion zu, die sie nicht widerspruchsfrei erfüllen kann. Da es schwierig ist, Widersprüche – und in diesem Fall sogar Antithesen – gleichberechtigt zu akzeptieren, könnte man ihm einerseits einen Missbrauch zur Poetisierung und anderseits einen Missbrauch zur Expressivität vorwerfen. Weil aber die Ästhetisierung und die Katastrophierung mittels der Musik mit derselben Entschiedenheit und derselben Endgültigkeit umgesetzt wird, allerdings auf verschiedenen Ebenen, ergibt sich daraus nichts anderes als ein klassisches Inhalt-Form-Problem: Wo er formell und titelgebend an einer aktualisiert romantischen Musikauffassung festhält und die Musik überhöht, wird sie als Motiv und Thema teilweise willentlich zerstört. Mit seiner Orphik als poetologische Grundlage ist das allerdings unmöglich zu vereinen. Wohlklang und Dissonanz, die nicht einmal umgesetzt wird, sondern die nur assoziiert werden kann mit den zerschrammten Instrumenten, lässt sich nicht gleichzeitig herstellen. Schwerwiegender ist allerdings noch die Verwendung des Singens: Letztendlich benutzen die Mörder und die Toten, die bei Celan immer auch die vermeintlich Ermordeten sind, dasselbe Medium. Den Gesang einerseits zu beschönigen und als einziges Kommunikationsmittel der Toten gelten zu lassen und ihm andererseits eine todbringende Funktion zuzuschreiben muss mit der Sensibilität Celans für dieses Thema zu einer schockierenden Erkenntnis führen.


Paul Celan



Langsamer Wandel

Auch wenn Celan auf halbem Weg eine Verneinung einschlägt, kann noch lange nicht von einer Wende die Rede sein. In der Form, die ja sozusagen hinterherhinkt, zeigt sich der dortige Wandel erst langsam und von der thematischen Verarbeitung lässt er zeitweise lieber gleich die Finger. Zwischen 16.09.1951, dem Datum von Brandung, und dem 27.07.1959, dem Datum von Es war Erde in ihnen aus dem Band Die Niemandsrose, der gleich wieder mit zwei musikalischen Gedichten beginnt, lag die Verarbeitung dieses Themenspektrums beinahe brach. Lediglich Schiboleth (G 83), Argumentum e Silentio (G 87) und Windgerecht (G 101) ist eine eindeutige musikalische Thematik eingeschrieben.

Auch wenn die formelle Verarbeitung beziehungsweise die sich nun einlagernde implizite Musikalität eine detaillierte Strukturanalyse bräuchte, die hier nicht geleistet werden kann, sei wenigstens auf deren Beginn hingewiesen, der sich aus der bereits emanzipierteren Motivik ergibt und bei Argumentum e Silentio ansetzt. Dieser Text ist strukturell zunächst als eine Fortentwicklung von Assisi zu lesen. Die Konzentration des Gedichtes auf seine eigenen Bestandteile geschieht aber nicht mehr auf die Syntagmen, sondern auf das einzelne Wort: «Jedem das Wort. / Jedem das Wort, das ihm sang, / als die Meute ihn hinterrücks anfiel – / Jedem das Wort, das ihm sang und erstarrte.» Wenn das Wort erstarrt, erstarrt aber auch das Singen und in Anspielung auf den Titel – der auf eine Beweisführung rekurriert, bei der die Wahrheit aus dem Schweigen heraus gewonnen wird –, kann die Wahrheit nur gefunden werden, wenn auch der Gesang aufhört. Die Verknüpfung von Singen und Wort wird aber von seinen Einzelteilen her zerstört, nämlich «als der Giftzahn / die Silben durchstieß». Demnach muss sich die Dichtung zukünftig nicht nur auf das Wort, sondern auch auf die Silbe und (zerschnittenen) Wortbestandteile konzentrieren. Für die implizite Musikalität heisst das, dass sie auf die kleinsten Bestandteile entkleidet wird und die Formen – in Analogie zur Entwicklung der Zwölftontechnik – den zerlegten Strukturen weichen.

Die musikalische Entwicklung kann aber nicht nur aus werkimmanenten Erscheinungen erklärt werden. Hierzu müssen auch die ausserpoetischen Erscheinungen erläutert werden, die eine Erklärung dafür abliefern, weshalb Celan eine solche Entkleidung der Musik und damit einhergehend eine Entpoetisierung der Dichtung vornimmt. Und damit ist die musiktheoretische Selbst- und Fremdkonfrontation Celans gemeint.



Änderung der musikalischen Auffassung

In dem Zeitraum von 1951 bis 1959 unterzieht sich Celan einer enormen Konfrontation mit Musikästhetik. Zunächst wird auf die dafür relevante Celanrezeption und Celans Reaktionen darauf eingegangen, die an sich schon zeigen, dass er eine derartige Fremdwahrnehmung nicht akzeptieren konnte und sich deswegen auch vermehrt zum Thema Musik in diesem Zeitraum geäussert hat. Aus diesen Äusserungen geht eindeutig eine Änderung der musikästhetischen Anschauung und der Verarbeitung musikalischer Phänomene in seiner Dichtung hervor. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss, vor allem auch auf die Poetik in Form der Bremer-Rede und des Meridian, hatte zudem Celans Rezeption von Adornos musikästhetischen Schriften. Diese beeinflusst nicht nur unmittelbar die Poetik, sondern anhand der geänderten und radikalisierten Struktur der Gedichte kann auch auf eine ideelle Beeinflussung Adornos geschlossen werden.




Rezeption der Todesfuge

Die Kritik am Ästhetizismus und an der Musikalität mag zwar objektiv wie eine Marginalie erscheinen, allerdings müssen die heftigen Reaktionen Celans beachtet werden. Vor allem auf die Auslegung der Todesfuge als ein ästhetisches musiko-poetisches Stück hat Celan entsprechend reagiert. Wie die Kritik von Heinz Piontek zeigt, wurde sie als zu künstlich und ästhetisch empfunden, wobei die musikalische Ausgestaltung als «falsche Poetisierung» angeklagt wurde:


Seine Lyrik ist poésie pure, zaubrische Montage […] Sie hat französischen Schmelz und die Pracht des Balkans, die Suggestivität des Chansons und die Modulation des Schwermuts. […] Wo aber das Unverbindlich-Spielerische die Oberhand gewinnt, wo zwei Dutzend reizgeladene Vokabeln zu glitzernden Arrangements  angeordnet werden, scheint uns die Artistik bedenklich. […] Wir wünschen uns für die nächste Vers-Sammlung  Paul Celans nur solche Stücke, in denen er etwas zu sagen hat, was ihm wirklich unter den Nägeln brennt – nicht aber seine Etuden und Fingerübungen.¹⁵

Ins gleiche Horn bläst die Besprechung von Andreas Donath, der die Todesfuge streng nach ihrer fugalen Ausgestaltung untersucht und mokiert:

Die Todesfuge ist alles andere als ein naturalistisches Gedicht. […] Leider hat Celan in fast allen anderen Gedichten auf den surrealistischen Inspirationsvorgang des ,Diktats` aus dem Unbewussten zurückgegriffen. […] Ein weicher, fast wehmütiger Tonfall ist allen Gedichten gemeinsam. Ausdruck des Mitleidens und vielleicht auch des Schmerzes über die Vergesslichkeit der Menschen. Konkrete Inhalte lassen sich selten nachweisen […] Entsprechend ihrer Entstehung aus dem Unbewussten sind diese Gedichte aber oft nur musikalische Inventionen, kontrapunktische Übungen mit den lyrischen Urworten.¹

Als absolutes Metaphernspiel und musikalische Ornamentik sah auch Holthusen den Band Mohn und Gedächtnis.

Was Celan sagen will, das will er auf eine absolut ,ästhetische` Weise sagen: er erhebt, so scheint es, noch einmal den Anspruch der symbolistischen Schule auf Einsetzung der Poesie in die Rechte der Musik. […] Also keine ,bestimmte Vorstellung` soll das Gedicht hervorrufen, sondern eine rhythmische Disposition, eine Kadenz von Empfindungen und deren Anschauungen, deren Erlebniswirkung um so bestimmter ist, je unbestimmter ihre ,Bedeutung` bleibt. […] Alles Wesentliche sollte Klang, Assoziation, sprachliche Magie sein, der Sinn eines Gedichts sollte grundsätzlich in der Schwebe bleiben. […] So ist es ihm in seiner (schon berühmt gewordenen) ,Todesfuge` gelungen, eines der schrecklichsten und bedeutsamsten Ereignisse der jüngsten Geschichte, den massenhaften Verbrennungstod der Juden in deutschen Konzentrationslagern, in einer  Sprache zu besingen, die von der ersten bis zur letzten Zeile wahre und reine Dichtung ist […] Der Gegenstand dieser Dichtung ist so ungeheuerlich, so sehr Geschichte gewordenes Absurdum, daß die sinnverkehrende Bildersprache des Autors wie selbstverständlich und wie von langer Hand eingespielt wirken kann […] Trinken ist Sterben als äußerste Selbstverwirklichung […] Mit ganz wenigen einfachen Paradoxien hat Celan ein alle menschliche Fassung sprengendes, alle Grenzen der künstlerischen Einbildungskraft überschreitendes Thema bewältigen können: indem er es ganz ,leicht` gemacht, es in einer träumerischen, überwirklichen, gewissermaßen schon jenseitigen Sprache zum Transzendieren gebracht hat, so daß es der blutigen Schreckenskammer der Geschichte entfliehen kann, um aufzusteigen in den Äther der reinen Poesie.¹⁷

Was Celan einerseits verärgert, so dass er die Kritiker als «Metaphernpflücker» (TCA, Der Meridian, S. 159) bezeichnet, führt andererseits auch das Scheitern seiner musikalischen Ästhetik vor, wozu er notiert: «Todesfuge / Gründe es zu bedauern – [aber man schreibt [zieht] sich ja wohl auch das zu und herauf.] (TCA, Der Meridian, S. 158).

Besonders ärgerlich für Celan war aber ein Unterrichtsentwurf von Charlotte Rumpf,
¹⁸ bei dem die Schüler die Todesfuge rein als musikalisches Stück interpretieren sollten und sich mit Buntstiften die verschiedenen Stimmeneinsätze der einzelnen Durchführungen markieren sollten, um die Struktur offen zu legen. Dabei verfolgte sie das Ziel, die «Schönheit» des Gedichtes herauszuarbeiten. Dahingehend lenkt Rumpf das Lehrer-Schüler-Gespräch so, dass das Gedicht mit «menschenverwandelnde(r) Zauberkraft»¹⁹ als eine Versöhnung verstanden wird. Von Celan selbst existieren diesbezüglich zwei Äusserungen: So beschwert er sich in einer zynischen Bemerkung darüber, dass die Todesfuge bereits «lesebuchreif gedroschen»²⁰ wurde und zum anderen könnte auch die ansonsten zusammenhanglose Notiz «Zur Herren- und Frauenzimmerlyrik ist jetzt auch die Klassenzimmerliche getreten» [M 86] dem zugeordnet werden. Anhand einer solchen Rezeption musste Celan aber auch erkennen, dass er sich diesem Thema nicht auf einer hochpoetischen und ungebrochen musikalischen Ebene nähern kann.




Blöcker-Kritik und weitere einflussreiche Kritiken dieser Zeit

Ein weiteres einflussreiches Element auf Celans musikästhetische Auffassung ist die bereits zu Beginn anzitierte Kritik von Günter Blöcker vom 11. Oktober 1959, die an dieser Stelle noch einmal erwähnt sei:


Zwar arbeitet der Autor gern mit musikalischen Begriffen: die gerühmte ,Todesfuge’ aus ,Mohn und Gedächtnis’ oder, in dem vorliegenden Band, die ,Engführung’. Doch dies sind eher kontrapunktische Exerzitien auf dem Notenpapier oder auf stummen Tasten – Augenmusik, optische Partituren. Nur selten ist in diesen Gedichten der Klang bis zu dem Punkt entwickelt, wo er sinngebende Funktionen übernehmen kann»²¹


Celan selbst reagierte auf diese Kritik wie auf sonst keine: Er erwidert sie mit einem Leserbrief an den leitenden Redakteur und ruft zahlreiche einflussreiche literarische Personen, darunter Ingeborg Bachmann, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Walter Höllerer, Max Frisch und Nelly Sachs zu Hilfe, indem er einen Durchschlag des Leserbriefs mit der Bitte um Gegenzeichnung zur Unterstützung samt der Kritik selbst an sie schickt (Vgl. BW PC / PSZ, S. 141). Zwar bezieht sich Celans heftige Reaktion zunächst auf den von ihm empfundene Antisemitismus seitens Blöcker,²² das Einzige, was er allerdings in der Abschrift der Kritik für Ingeborg Bachmann in der Beilage des Briefes vom 17.10.1959 unterstreicht, bezieht sich auf das Musikalische. Celan hebt für Bachmann folgende Stellen hervor:

«vielgerühmte Todesfuge» und «eher kontrapunktische Exerzitien auf dem Notenpapier oder auf stummen Tasten» (BW PC / IB, S. 124)


Musikästhetische Äusserungen Celans

Explizit äussert sich Celan über seine geänderte musikalische Auffassung 1958 in seiner Antwort auf eine Umfrage der Libraire Flinker:


Düsteres im Gedächtnis, Fragwürdigstes um sich her, kann sie [die deutsche Lyrik], bei aller Vergegenwärtigung der Tradition, in der sie steht, nicht mehr die Sprache sprechen, die manches geneigte Ohr immer noch von ihr zu erwarten scheint. Ihre Sprache ist nüchterner, faktischer geworden, sie misstraut dem ,Schönen‘, sie versucht, wahr zu sein. Es ist also, wenn ich, das Polychrome des scheinbar Aktuellen im Auge behaltend, im Bereich des Visuellen nach einem Wort suchen darf, eine ,grauere` Sprache, eine Sprache, die unter anderem auch ihre ,Musikalität` an einem Ort angesiedelt wissen will, wo sie nichts mehr mit jenem ,Wohlklang` gemein hat, der noch mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönte. […] Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen wer-den. (GW III, S. 167f)

Wichtig in dem genannten Zitat erscheint vor allem, dass die Sprache trotz ihrer Grauheit noch Musikalität hat. Es findet keine Trennung statt, sondern die geänderte Sprache will ihre Musik einfach woanders «angesiedelt wissen». Folglich wäre für diesen Zeitraum nur eine andere Verarbeitung der Musikalität in den Gedichten Celans zu untersuchen, nämlich eine Musikalität, die nicht mehr «mit und neben dem Furchtbarsten mehr oder minder unbekümmert einhertönt[e]».




Celans Adorno Rezeption

Den weitaus grössten Einfluss auf die Änderung der musikästhetischen Auffassung hatten Adornos musiktheoretische Schriften. Wider der Erwartung, dass Celan Adorno aufgrund seiner These, «nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch»,²³ schmähen müsste, suchte Celan immer wieder vertrauensvoll Kontakt zu «Teddi»,²⁴ was am deutlichsten in dem Brief vom 21. Jänner 1962 zum Ausdruck kommt:


Lieber Herr Professor, lassen sie mich noch einmal für Ihre Worte am Telefon danken. […] Ich hatte Ihren Essay im jüngsten ,Merkur` gelesen, mit den letzten Sätzen war, über die Entfernung hinweg, Ihre Person nahe und ansprechbar, ich musste zu Ihnen sprechen, es war unabdingbar […] ja, so wars, ich musste mit Ihnen sprechen.²⁵

In Bezug auf die Poetik ist vor allem die von Celan rezipierte Auseinandersetzung Adornos mit Arnold Schönberg von grosser Bedeutung. In der Bibliothek Paul Celans in Marbach finden sich diesbezüglich die relevanten Aufsätze. Den Essay Arnold Schönberg²⁶ besass Celan im Erstdruck und die Philosophie der neuen Musik²⁷, die den Teil Schönberg und der Fortschritt enthält, in der Erstausgabe von 1949.

Bezüglich der Entkleidung des Poetischen, die Celan anstrebt, findet sich im Schönberg-Aufsatz eine entscheidende Stelle, die sich Celan nach Joachim Seng doppelt anstreicht:
²⁸


Gegen sie [die Naivität] wendet sich freilich das kunstfeindlich explosive Element Schönbergs. Die Klavierstücke op. 11 sind anti-ornamental bis zum Gestus der Zerschlagens. Utilisierter, nackter Ausdruck und Kunstfeindschaft sind eins. Etwas in Schönberg, vielleicht Gehorsam vor jenem ,Du sollst dir kein Bild machen`, das einen Text der Chorstücke op. 27 zitiert, möchte in Musik, der bilderlosen Kunst, die abbildlich-ästhetischen Züge ausmerzen.²⁹

Arnold Schönberg


In diesem Absatz steckt nämlich das, was Celan selbst im Meridian so formuliert: «Und das Gedicht wäre somit der Ort, wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen» (TCA, Der Meridian, S. 10). Gegenüber der Scheinhaftigkeit aller Kunst formuliert Adorno im besagten Aufsatz noch konkreter: «Um so durchsichtiger wird die Idee der Musik selber, je weniger die Werke auf ihrem Schein bestehen. Sie nähern sich dem Fragmentarischen»
³⁰. Daraus ergibt sich für Celan die Folgerung, dass die geschlossene Form zerstört werden muss, um den Kern der Dichtung aufzudecken. Dementsprechend muss sich Celan aller Scheinhaftigkeit, die im Frühwerk noch durch romantische, symbolistische und surrealistische Verschleierung gegeben war, entledigen. Auch dazu kann er Anregungen bei Adorno finden, nämlich im Schönberg-Teil der Philosophie der neuen Musik:

Nichts ist in ihnen [Schönbergs Stücken] von den Konventionen übriggeblieben, welche die Freiheit des Spiels garantierten. Schönberg steht so polemisch zum Spiel wie zum Schein. […] Beides hat er formuliert: ,Die Musik soll nicht schmücken, sie soll wahr sein` und ,Kunst kommt nicht vom Können sondern vom Müssen`. Mit der Negation von Schein und Spiel tendiert Musik zur Erkenntnis.³¹


Diesen Auszug wollte Celan in der Meridian-Rede sogar direkt übernehmen. In der Endfassung verzichtete er allerdings auf den folgend zitierten Ausschnitt:

Kunst – ich zitiere einen Ausspruch A. Schönbergs, ich zitiere ihn nach T. Adorno –, Kunst kommt nicht von Können, Kunst kommt von Müssen. Sie sehen, es gibt diese Art Etymologie: nicht an dem von der wahrnehmbaren Wurzel Derivierten haben wir das Wahre und Grund; an dem von der Wurzel in die Zeit getriebenen, wurzelfernen Zweig [in die Zeit hineinstehenden Zweig] nehmen wir ihn wahr. (TCA, Der Meridian, S. 106)


Eine Verbindung zu Schönberg wird auch von Klaus Demus in Hinsicht auf eine Vertonung hergestellt. Am 12.09.51 schreibt Demus an Celan: «Wegen der Vertonung Deiner Gedichte hab ich bis jetzt noch nichts unternommen, werde es aber tun. Schönberg ist vor einiger Zeit gestorben.» (PC / KND, 71) Das zeigt aber nicht mehr als die Feststellung einer Schönberg-Celan-Analogie seitens Klaus Demus.

Zur Entkleidung der Musik und Entpoetisierung ist noch auf einen wichtigen Einfluss seitens Adornos hinzuweisen, den ebenfalls die Philosophie der neuen Musik liefert, nämlich der Aussage: «Musik soll nicht schmücken, sondern wahr sein.»³²  Das Analog bei Celan findet sich in einem Brief an Jean Firges von 1958, wo er der Musikalität seiner Dichtung den Rang abspricht und schreibt: «Es geht mir nicht um Wohllaut, es geht mir um Wahrheit»³³.




Zum Diskurs Lyrik nach Auschwitz

Eine der Konsequenzen, die Celan daraus zieht, ist seine Hinwendung zum Verstummen. Aber auch das hängt mit seiner Musikrezeption zusammen. Wenn er im Meridian schreibt,


Gewiss, das Gedicht – das Gedicht heute – zeigt, und das hat, glaube ich, denn doch nur mittelbar mit den – nicht zu unterschätzenden – Schwierigkeiten der Wortwahl, dem rapideren Gefälle der Syntax oder dem wacheren Sinn für die Ellipse zu tun, – das Gedicht zeigt, das ist unverkennbar, eine starke Neigung zum Verstummen. Es behauptet sich [...] am Rande seiner selbst; es ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück (TCA, Der Meridian, S. 8),

so ist vor allem jene «Neigung zum Verstummen» wichtig, die wiederum auf Adornos Schönberg-Aufsatz verweist, in der sich dieses Idiom findet. Zusätzlich ist in der nachfolgend zitierten Adorno-Stelle das Verstummen für Celan gekoppelt an die These, dass nach Auschwitz Gedichte barbarisch seien. Nach Seng, der dabei den Abdruck des Essays in Der Goldene Schnitt. Große Essayisten 1890-1960 von 1960 untersucht,³ liegt der Grund, warum sich Celan die entsprechende Stelle dreifach am Rand anstreicht, darin, dass hier für Schönberg selbige Schaffensprobleme nach Auschwitz konstatiert werden wie für das Gedicht.³ Wo aber nach Adornos Kulturkritik und Gesellschaft 1955 die Berechtigung der Lyrik arg in Frage steht, macht er sie für die Musik geltend, weil sie das Barbarische kunstfeindlich verarbeitet:


Die Neigung zum Verstummen, wie sie in Weberns Lyrik die Aura jeden Tones bildet, ist dieser von Schönberg ausgehenden Tendenz verschwistert. […] Emphatisch arbeitet in Schönbergs Spätwerk die Vergeistigung der Kunst an deren Auflösung und findet sich so mit dem kunstfeindlichen und barbarischen Element abgründig zusammen.³

Genau das fasst Celan als Vorwurf auf, eben nicht kunstfeindlich, sondern romantisierend zu arbeiten. Denn dort, wo sich Celan zur Adorno-These äussert, bringt er sie ironischer Weise zusammen mit der Naivität von Gedichten als Vogelgesang:


Kein Gedicht nach Auschwitz (Adorno): was wird hier als Vorstellung von ,Gedicht` unterstellt? Der Dünkel dessen, der sich untersteht hypothetisch-spekulativerweise Auschwitz aus der Nachtigallen- oder Singdrossel-Perspektive zu betrachten oder zu berichten.³


In Bezug auf Adornos Auschwitz-These ist aber noch eine weitere Stelle in Adornos Schönberg-Aufsatz wichtig, die Celan offenkundig beeinflusst hat. Denn die Musik, wie es bei Schönbergs Kantate Ein Überlebender aus Warschau geschehe, zeichne sich gerade dadurch aus, indem sie die Gräuel aufzeigt und ihnen eingedenk bleibt.

Oratorium und biblische Oper werden aufgewogen von den paar Minuten der Erzählung des ,Überlebenden von Warschau`, in denen Schönberg von sich aus den ästhetischen Bereich suspendiert durchs Eingedenken an Erfahrungen, welche der Kunst schlechterdings sich entziehen. Schönbergs Ausdruckskern, die Angst, identifiziert sich mit der Angst der Todesqual von Menschen unter der totalen Herrschaft. […] Was die Schwäche und Ohnmacht der individuellen Seele auszudrücken schien, bezeugt, was der Menschheit angetan wird in denen, die als Opfer das Ganze vertreten, das es ihnen antut. So wahr hat nie Grauen in der Musik geklungen, und indem es laut wird, findet sie ihre erlösende Kraft wieder vermöge der Negation. Der jüdische Gesang, mit dem der ,Überlebende von Warschau` schliesst, ist Musik als Einspruch der Menschheit gegen den Mythos.³

Bedenkt man Celans Ansicht des Gedichts, das «solcher Daten eingedenk» bleibt (TCA, Der Meridian, S. 8), ist es nicht verwunderlich, dass sich Celan diese Stelle doppelt angestrichen und die hier vom Verfasser kursivierte Stelle noch einmal extra unterstrichen hat.³ Somit kann behauptet werden, dass Celan Adorno mit den eigenen Mitteln schlage: Was die Musik auszeichne und sie notwendig macht für die Aufarbeitung der Shoa, überträgt Celan auf das Gedicht und argumentiert so auch gegen Adornos These.



Die Dichtung als Flaschenpost

Um den Zusammenhang zwischen Adornos musikästhetischen Schriften und Celans Poetik zu vervollständigen sei hier auch noch die Diskussion um die Herkunft der Flaschenpost-Metapher ausgeführt. Nach Seng
⁴⁰ findet Celan diese nicht wie bisher angenommen in Mandel'štams Essay Über den Gesprächspartner, sondern ebenfalls in Adornos Schönberg-Aufsatz. Darauf deutet schon hin, dass Celan den Adorno-Essay bereits in der Erstausgabe von 1949 gelesen hat, während seine erste Mandel'štam-Ausgabe von 1957 stammt.⁴¹

Wenn Celan in seiner Bremer Rede erklärt:


Das Gedicht ist nicht zeitlos […] Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiss nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. (GW III, S. 186)

So führt das indirekt zurück auf Adornos Ausführung über Schönberg:

Alle Dunkelheit und Schuld der Welt hat sie [die Neue Musik] auf sich genommen. All ihr Glück hat sie daran, das Unglück zu erkennen; all ihre Schönheit, dem Schein des Schönen sich zu versagen. Keiner will mit ihr etwas zu tun haben, die Individuellen so wenig wie die Kollektiven. Sie verhallt ungehört, ohne Echo. Schiesst um die gehörte Musik die Zeit zum strahlenden Kristall² zusammen, so fällt die ungehörte in die leere Zeit gleich einer verderblichen Kugel. Auf diese letzte Erfahrung hin, die mechanische Musik stündlich durchmacht, ist die neue Musik spontan angelegt, auf das absolute Vergessensein. Sie ist die wahre Flaschenpost.³


Während Adorno die Flaschenpost gleichsetzt mit der neuen Musik, die der Schuld und der Dunkelheit eingedenk bleibt, verwendet sie Mandel'štam in vergleichsweise einfacher Verwendung:

Jeder Mensch hat Freunde. Warum sollte sich der Dichter nicht auch an seine Freunde richten, an die Menschen, die ihm ganz natürlich nahe stehen? Ein Seefahrer wirft im kritischen Augenblick eine versiegelte Flasche mit seinem Namen und der Aufzeichnung seines Schicksals in die Fluten des Ozeans. […] Der Brief in der Flasche ist an denjenigen adressiert, der sie findet […] Die vom Seefahrer in die Wellen geworfene Flaschenpost und das von Baratynskij ausgesandte Gedicht haben zwei klar zum Ausdruck kommende Momente gemeinsam. Der Brief, genau wie das Gedicht, ist an niemand Bestimmten gerichtet. Dennoch haben beide einen Adressaten: der Brief nämlich den, der die Flasche zufällig im Sand entdeckt, das Gedicht aber, den Leser der Nachwelt`.⁴⁴

Auch wenn Celan keinen expliziten Hinweis liefert in welchem Sinn er die Flaschenpost verwendet, so kann doch aus der Zusammenführung beider Standpunkte die Erkenntnis geschlossen werden, dass das Gedicht als Flaschenpost zum einen «die Dunkelheit und die Schuld der Welt» in sich aufgenommen hat, und zum anderen als «Notschrei» mit der Ungewissheit auf Ankunft hofft. Dennoch wird vor allem im Laufe der musikalischen Verarbeitung des Hauptwerkes der Bezug zu Adorno immer wichtiger. Wenn das Gedicht eine Flaschenpost in seinem Sinne ist, dann wäre sie dazu angelegt, ungehört zu verhallen und in die leere Zeit zu fallen, gerade weil der verschlossene Inhalt nach aussen hin verstummt ist. Genau in diesem Zwischenbereich von Hörbarem und Unhörbarem setzt Celan seine Gedichte an, wobei immer darum gerungen wird, das nach Adorno Unhörbare, nämlich die Musik mit der Last auf ihren Schultern, hörbar zu machen.

Dem Unhörbaren zu Gehör zu verhelfen, verhandelt auch das Gedicht Weißgeräusche (G 234) von 1966. Dabei geschieht dezidiert eine Bezugnahme zu Adornos Verständnis der Flaschenpost, indem das Unhörbare, also nach Adorno die «Dunkelheit und Schuld der Welt», die auf das Vergessensein angelegt ist, hörbar wird.


WEISSGERÄUSCHE, gebündelt,
Strahlen-
gänge
über den Tisch
mit der Flaschenpost hin.
[…]
Alle die
Schattenverschlüsse
an allen den
Schattengelenken,
hörbar-unhörbar,
die sich jetzt melden.

Das Gedicht ist zudem Hans Mayer gewidmet, der im Oktober 1957 unter Anwesenheit von Celan in Wuppertal bei der Interpretation des Goethe-Gedichts Vermächtnis von einer Flaschenpost gesprochen hat. Laut Seng⁴⁵ bekundete Celan selbst, dass er die Flaschenpost von da ableite.⁴⁶ Mayer wiederum beruft sich auf Nachfrage von Seng auf Adorno. Etwas paradox daran erscheint allerdings, dass Celan sich auf den Mayer-Vortrag berufe, wobei er den relevanten Adorno-Aufsatz schon vorher gekannt hat und sich später in Weißgeräusche auf die ursprüngliche Adorno-Stelle bezieht. Vermutet werden kann also, dass Celan aufgrund der öffentlichen Opposition zwischen ihm und Adorno nicht wollte, dass die Öffentlichkeit weiss, was er alles von Adorno übernommen hat. So bleibt diese Opposition nach aussen hin aufrecht erhalten. Zu dieser Vermutung gibt auch Anlass, dass er das Schönberg-Zitat nach Adorno, «Kunst kommt nicht vom Können, Kunst kommt vom Müssen», in der endgültigen Fassung des Meridian ausliess. Bei aller Vermutung ist jedoch sicher, dass sich Celan zum Zeitpunkt seiner ersten Begegnung mit der Flaschenpost – ob bei Adorno oder Hans Mayer – noch nicht mit Mandel'štam beschäftigt hat, was er erst ab 1957 tut.



Einfluss Ingeborg Bachmanns

Hingewiesen werden muss aber unbedingt noch auf den Einfluss des Essays Musik und Dichtung von Ingeborg Bachmann, den diese am 18.02.1959 brieflich an Paul Celan schickt und worin sie ihren grundlegenden Zweifel der Analogie von Musik und Sprache ausdrückt:


Wir haben ja aufgehört, nach ,poetischen Inhalten` in der Musik zu suchen, nach 'Wortmusik' in der Dichtung. Zwar sind beide Zeitkünste, aber wie verschieden wird in beiden gemessen: ungleich strenger in der Musik, ungleich unbefangener in der Sprache; die Dauer einer Silbe ist noch in den Ketten eines Metrums vage, unbestimmbar. Fürchtet daher vielleicht eine Musik, von der es heisst, dass sie nichts ausdrücke, ausdrücken wolle, und die Kommunion sucht, ohne sich gemein zu machen, an Reinheit zu verlieren in diesem Umgang? Mehr noch: fürchtet sie, die schon die Instrumente an die Grenzen der Spielbarkeit treibt, deren Eigentümlichkeiten neu behandelt oder sie abzuschütteln versucht, […] dass sie sich mit einer verschuldeten Sprache der menschlichen Stimme überantworten muss? […] Den geistigen Ansprüchen der Musik scheint also die Sprache, den technischen die Stimme nicht gewachsen zu sein.⁴⁷

Dabei lässt sich eine Analogie zu Celans Antwort auf Eine Umfrage der Libraire Flinker erkennen. Indem Bachmann konstatiert, dass die Musik ihre «Instrumente an die Grenzen der Spielbarkeit treibt» wird Celans Prinzip des Frühwerks in Bezug auf die zerstörten Instrumente wieder erkennbar. Die entscheidende Frage, die Bachmann allerdings stellt, ist ob die Musik mit der «verschuldeten Sprache der menschlichen Stimme» umgehen könne. Diese Frage wird sich unmittelbar auf Celans Verarbeitung des Singens im Hauptwerk auswirken. Der Zweifel, dass weder die Sprache noch die Stimme den Anforderungen der geänderten Musikauffassung entspricht, wird sich bei Celan auf sprachlicher Ebene in ein Lallen und Stottern und auf stimmlicher Ebene in ein Wiehern und Röcheln zurückziehen.


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Der komplette Essay als pdf.

¹ Blöcker, Günter: Gedichte als graphische Gebilde. In: Der Tagesspiegel vom 11.10.1959. Zitiert nach: Paul Celan – Peter Szondi: Briefwechsel. Mit Briefen von Gisèle Celan-Lestrange an Peter Szondi und Auszügen aus dem Briefwechsel zwischen Peter Szondi und Jean und Mayotte Bollack. Hg. von Christoph König. Frankfurt a.M. 2005, S. 79f.

² Allemann, Beda: Editorisches Nachwort. In: Paul Celan: Gedichte in zwei Bänden. Zweiter Band. Frankfurt a.M. 1975, S. 420.

³  Hierunter sind zu nennen: Lebenslied (G, 388), Steppenlied (G 393), Schlaflied (G 395) Abendlied (G 413), Taglied (G 416), Sternenlied (G 423), Schlaflied (G 14), Seelied (G 57), Trinklied (G 442); ferner auch: Gesang der fremden Brüder (G 384), Zwischenspiel (G 386), Zur Laute (G 407) und Ein Lied in der Wüste (G 27).

⁴  v.a. in Liebesgedichten wie Schlaflied (G 14), Beieinander (G 397) oder Zwischenspiel (G 386) ist dies zu beobachten.

Zu nennen sind hier vor allem die Gedichte Gesang der fremden Brüder, Zwischenspiel (G 386) Schlaflied (G 395, G 14) Saitenspiel (G 404) und Chanson einer Dame im Schatten (G 35).
Die Entstehungsdaten der beiden Gedichte Zauberspruch und Gesang der fremden Brüder können zwar nicht genau bestimmt werden, Celans Jugendfreundin Ruth Kraft setzt aber die Entstehung des Gedichts Zauberspruch für das Jahr 1940 (Vgl. G 892) an und für Gesang der fremden Brüder das Jahr 1941 (Vgl. G 885).

Holthusen, Hans Egon: Fünf junge Lyriker. In: Ja und Nein. München 1954, S. 124-165, hier S. 164.

Hierunter etwa Gemeinsam (G 64), Ein Körnchen Sands (G 65), Strähne (G 66), Der Gast (G 70), Assisi (G 72), Nächtlich geschürzt (G 80).

Vgl. Voswinckel, Klaus: Paul Celan - verweigerte Poetisierung der Welt. Heidelberg 1974, S. 173ff.
¹⁰ Daemmrich, Horst u. Ingrid: Themen und Motive in der Literatur. Ein Handbuch. Tübingen: Francke 1987, S. 248.

¹¹ Einen entscheidenden Hinweis auf die Orphik dieser Zeilen liefert auch das 7 Jahre zuvor entstandene Gedicht Im Regen, wo ein Harfenspiel in gleicher Situation auftaucht: «Weil ich wie Harfenspiel kam und mich lang / im Mohnfeld mit Dunkel umgab».
¹²  Vgl. Frenzel, Elisabeth: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 7., verb. und erw. Auflage. Stuttgart: Kröner 1988, S. 574.
¹³ Brief an May Rychner vom 3. November 1946. In: Helmut Böttiger: Paul Celan: Mein Ehrgeiz fesselt mir die Hände. In: Stuttgarter Zeitung vom 15. April 1987, S. 20.

¹⁴ Vgl. Ranawake, Silvia: Tagelied. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. P-Z. S. 577-580, hier: S. 577.
¹⁵ Piontek, Heinz: Paul Celan: Mohn und Gedächtnis. In: Welt und Wort 8 (1953), S. 200f.
¹⁶ Donath, Andreas: Der Balken im eigenen Auge. In: Frankfurter Hefte 9 (1954), H.11, S. 868-870, hier S. 870.
¹⁷ Vgl. Holthusen (1954), S. 158-154.
¹⁸ Vgl. Rumpf, Charlotte: Die Todesfuge von Paul Celan. Ein Unterrichtsbeispiel. In: Gesellschaft, Staat, Erziehung 2/5 (1957), S. 232-241.
¹⁹ Rumpf (1957), S. 240f.

²⁰ Huppert, Hugo: Spirituell. Ein Gespräch mit Paul Celan. In: Paul Celan. Hg. von Werner Hamacher und Winfried Menninghaus. Frankfurt a.M. 1988, S. 319-324, hier S. 320.

²¹ Blöcker, Günter: Gedichte als graphische Gebilde. In: Der Tagesspiegel vom 11.10.1959. Zitiert nach BW PC / PSZ, S. 79f.

²² Dies zeigt sich wiederum in einem Brief von Paul Celan an Klaus Demus vom 04.07.1959, wo zudem die Enttäuschung über Bachmanns Verhalten zum Ausdruck kommt: «Wie bequem, diesen Paul Celan einen ‹Überempfindlichen› zu nennen – wie die Antisemiten … Schon einmal hat Ingeborg mir gesagt, solche Dinge in den Papierkorb zu tun; die Wahrheit und das Gewissen – in den Papierkorb!!» (BW PC / KND, S. 288).
²³ Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 10•1: Prismen. Ohne Leitbild. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 11-31, hier S. 30.

²⁴ So verabschiedet sich Adorno in einem Brief am 9. Februar 1968. Vgl. BW PC / TWA S. 198.
²⁵ BW PC / TWA, S. 186.

²⁶ Hier zitiert nach: Adorno, Theodor W.: Arnold Schönberg. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 10.1: Prismen. Ohne Leitbild. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 152-181. Nachfolgend zitiert als Adorno (1977). Der Erstdruck erschien in Neue Rundschau 64 (1953), S. 80-104.
²⁷ Die vorliegende Arbeit zitiert die um Anmerkungen über das Spätwerk Schönbergs erweiterte Auflage. Vgl. Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik. Frankfurt a.M.: 2003 ( = stw 1712). Nachfolgend zitiert als Adorno (2003).
²⁸ Vgl. Seng, Joachim: Von der Musikalität einer «graueren» Sprache. Zu Celans Auseinandersetzung mit Adorno. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 76 (1995), S. 419-430, hier S. 423. Nachfolgend zitiert als Seng (1995).

²⁹ Adorno (1977), S. 167.
³⁰ Adorno (1977), S. 179.
³¹ Adorno (2003), S. 46.
³² Adorno (2003), S. 50.

³³ Firges, Jean: Sprache und Sein in der Dichtung Paul Celans. In: Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der Deutschen Sprache 72 (1962), H. 9, S. 266f.
³⁴ Celan besass anscheinend drei Ausgaben des Schönberg-Aufsatzes. Er nahm ihn bereits als Erstveröffentlichung in der Neuen Rundschau 64 (1953) wahr, dann noch einmal 1955, wo der Aufsatz zusammen mit Adornos Kulturkritik und Gesellschaft in den Prismen erscheint, die Celan rezipiert, und letztendlich in besagter Anthologie von 1960.

³⁵ Vgl. Seng (1995), S. 422.
³⁶ Adorno (1977), S. 177.

³⁷ Zitiert nach Seng, Joachim: Die wahre Flaschenpost. Zur Beziehung Theodor W. Adorno und Paul Celan. In: Frankfurter Adorno Blätter VIII [2003], S. 151-176, hier S. 174. Nachfolgend zitiert als Seng (2003).

³⁸ Adorno (1977), S. 180.
³⁹ Vgl. Seng (1995), S. 426.
⁴⁰ Ebd.

⁴¹ Vgl. Lehmann, Jürgen: Osip Mandel'štam. In: Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Jürgen Lehmann u.a. Stuttgart / Weimar: Metzler 2008, S. 344.
⁴² Angemerkt sei an dieser Stelle, dass auch das Kristall-Motiv, das ab dem Band Sprachgitter auftaucht, musiko-poetologische Relevanz besitzt, v.a. in der Engführung mit den Versen: «ein / Porenbau, und / es kam. // Kam auf uns zu, kam / hindurch, flickte / unsichtbar, flickte / an der letzten Membran, und / die Welt, ein Tausendkristall, / schoss an, schoss an.» Was allerdings bei Celan als hörbar anschiesst, ist die ungehörte Musik (vgl. Unten: «angelagert dem kleinen / Kristall in der Tracht deines Schweigens»). Während Engführung auf begriffssprachlicher Ebene die Vernichtung durch die Atombombe thematisiert, verhandelt sie auf der musiksemantischen Ebene die Schaffung einer neuen Sprache, die symbolisch unter hohem energetischen Druck entsteht.
In Bezug auf die Engführung wäre es aber auch interessant sich die Verbindung zu Schönbergs A Survivor from Warsaw, Opus 46 (1947) anzuschauen. Intertextuell weist darauf schon einmal Lehmann hin (Lehmann [2005], S. 471). Lehmann zitiert hierzu die Stelle: «Then I heard the seargeant shouting: ,Abzählen!’ They started slowly and irregularly: one, two, three, four – ,Achtung!’ the seargeant shoutet again, ,Rascher! Nochmal von vorn anfangen! In einer Minute will ich wissen, wieviele ich zur Gaskammer abliefere! Abzählen!’ They began again, first slowly: one, two, three, four, became faster and faster, so fast, that it finally sounded like a stampede of wild horses, and all of a sudden, in the middle of it, they began singing the Šəma’ Yiśro’ēl […]» (Schönberg, Arnold: A Survivor from Warsaw. Opus 46. In: Ders.: Sämtliche Werke. Abteilung V: Chorwerke. Reihe A. Bd. 19: Chorwerke II. Hg. von Josef Rufer und Christian Martin Schmidt. Mainz / Wien: Schott Verlag und Universal Edition AG 1975, S. 91-120, hier S. 109-114).
Jedoch lässt Lehmann mit diesem Zitatausschnitt unberücksichtigt, dass damit auch das Motiv des Schlafes entscheidend zusammenhängt, wenn der Erzähler in A Survivor of Warsaw ausruft und die Schuldfrage stellt: «Get out! Whether you slept or whether worries kept you awake the whole night. You had been seperated from your children, from your wife, from your parents; you don’t know what happened to them – how could you sleep?» Darüber hinaus moduliert Schönberg im hebräischen Text des Finales von Takt 86-97 die Wortsilbe «ho» und isoliert sie in den Takten 89, 93, 94 und 95. Celans Worttrennung «ho / sianna» ist – wie anhand des Mozartzitates in Anabasis noch belegt werden wird – eine ebensolche Nachbildung eines Taktwechsels, und die Behandlung des «ho» als Einzellexem ist eine Folgerung aus Schönberg Wiederholungsprinzip. Zudem endet Survivor of Warsaw mit eben dieser Silbe «ho». Insgesamt legt das nicht nur Lehmanns Vermutung der Bezugnahme nahe, sondern legt nahe, dass Celan die Partitur gekannt hat und sie auch nachbildet.

⁴³ Adorno (2003), S. 126.
⁴⁴ Mandel`štam, Ossip: Über den Gesprächspartner. Gesammelte Essays I. 1913-1924. Zürich 1991, S. 9f.
⁴⁵ Seng, Joachim: Auf den Kreis-Wegen der Dichtung. Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1998, S. 282.

⁴⁶ Tatsächlich schrieb Celan auch während der Tagung in Wuppertal die Worte «Mayer – Flaschenpost – Gedicht» in sein Notizbuch (Vgl. M 107 und 535).
⁴⁷ Bachmann, Ingeborg: Musik und Dichtung. In: Dies.: Kritische Schriften. Hg. von Monika Albrecht und Dirk Göttsche. München 2005, S. 249-253, hier S. 249f.

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