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Tobias Roth: 2 Übersetzungen (Pontano & Poliziano)

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Dirk Uwe Hansen

Verkörperungen


Giovanni Gioviano Pontanos "Baiae" (Verlagshaus Berlin) und Angelo Polizianos "Sylva in scabiem" (hochroth Wien), übersetzt und mit Nachwörtern versehen von Tobias Roth


Tobias Roth ist ein gelehrter Dichter, das weiß man spätestens seit seinem Debutband „Aus Waben”, dessen Gedichte sich immer mal wieder elegant mit der Antike oder der Renaissance verknüpfen lassen. Nun legt er in diesem Jahr gleich zwei Übersetzungen lateinischer Texte des 15. Jahrhunderts vor, die, wenn auch von berühmten Autoren stammend, sicher zu den weniger bekannten Werken der Weltliteratur gehören. Das macht gespannt, und der Rezensent spitzt sogleich den Bleistift, legt sich Hovens Lexikon bereit und geht daran, die Bücher durchzuarbeiten.
Allein, schon nach kurzer Zeit findet der Bleistift sich tatenlos hinter dem Ohr und das Lexikon der Bequemlichkeit halber zwischen Hinterkopf und Sofalehne wieder und ich gebe mich hemmungslos dem Lesevergnügen hin. Daran mag auch die schöne Ausstattung der Bände schuld sein. Die Bücher der Edition ReVers sind mit der offenen koptischen Bindung, dem kartonfarbenen Einband, dem in beinahe goldener Schrift am Ende der Seite gedruckten Originaltext ja ohnehin Beispiele für prachtentfaltende Bescheidenheit, die fröhlichen, holzschnittartigen Illustrationen von Petrus Akkordeon tun das Ihrige hinzu, dass man sich in den Bädern Pontanos mit Lust schauend und lesend verlieren kann.


Bei dem Badeort Baiae am Golf von Neapel, in dem Pontano seine Elfsilber schreibt oder doch spielen lässt, befindet sich, wie Roth in seinem kenntnisreich und erfrischend (wer wissen möchte, wie sich Lust auf Literatur und gerade auf die Literatur der Renaissance anfühlt, lese dieses Nachwort zuerst!) geschriebenen Nachwort wissen lässt, einer der Eingänge zur Unterwelt. Aber der Ort ist viel mehr als das Portal zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Er gewährt in diesen Gedichten auch den Aufenthalt in einem Dazwischen zwischen Antike und (Renaissance-)Gegenwart auf der historischen und zwischen Jugend und Alter auf der persönlichen Ebene. Dies zeigt sich schön und exemplarisch an den beiden Eröffnungsgedichten des ersten und zweiten Buches, in denen die intellektuellen Musen zum Tanzen gebracht werden und schließlich mit den „hübschen Nymphen” verschmelzen:

I.1
Schwarzäugige Muse, die gefällt, durch die
Gesänge und Tänze lebendig bleiben,
schwarzhaarige gottgefällige Muse,
die den Neid der hübschen Nymphen auf sich zieht,
wenn du in Sirmiones heißen Quellen
dir die Haare wäschst, dir deine Locken kämmst...

II.1
Und die Camenen lieben heiße Quellen
und die Musen baden im heißen Wasser
und die Musen leben zurückgezogen
und die Camenen lieben süße Lieder
und die Musen führen Tänze, es tanzen
die Camenen Sonne in dunkle Grotten...


Wir mögen die Renaissance dafür loben, dass sie den Geist der Antike wiederentdeckt hat — Pontano können wir darüber hinaus dafür loben, dem wiederentdeckten Geist einen Körper geschenkt zu haben.

Es sind Gedichte eines alten Mannes, die wir zu lesen bekommen, der sich, dem Portal von Baiae sei Dank, seiner Jugend noch einmal annähert, ohne Larmoyanz und Gequengel, eher mit stiller und ein wenig melancholischer Freude:

Die Liebe beim Wein und das Mädchen beim Mann,
das Spiel der Jugend, die Ruhe des Alters,
und sanfte Scherze, die die Seele wärmen,
deshalb gehe in die Bäder, Marino:
Hier sind Wein und Friede und Scherze, die den
matten Greisen wärmen, kitzlige Hände
im Liebesspiel aber Venus selbst steht dem
ranzigen Greisen bei. ...


Roths Übersetzung fängt den unaufgeregten Ton, mit dem Pontano ein Wohlbefinden zwischen Melancholie und Frivolität zu schildern weiß, aufs Schönste ein. Geschickt hält er dabei das Gleichgewicht zwischen Nähe zum Original und Freiheit, etwa bei der Wiedergabe der häufigen Assonanzen in Pontanos Versen durch Wiederholungsfiguren in den deutschen Versen. Das Versmaß Pontanos, der sich mit seinen Elfsilbern implizit und auch ganz explizit („havete, hendecasyllabi” z.B. in II.38, dem letzten Gedicht der Sammlung,  evoziert natürlich Catulls carm. 42) an Catull anschließt, behandelt Roth mit Respekt, aber ohne sklavische Treue; auch seine Verse haben jeweils elf Silben, aber er verzichtet auf die starre Positionierung der Doppelkürze und verleiht den Versen dadurch eine Flexibilität, die der des Originals weit mehr entspricht.


Aber bevor wir nun im wohligen Schwelgen im warmen Bad dieser Gedichte ganz und gar versinken, reißt Roths zweite Übersetzung uns wieder heraus und hinein in einen ganz anderen Taumel von Körperlichkeit.

Wenn die Mähne des ikarischen Sternes heraufblitzt,
Sehen wir so die zottigen Molosser sich auf der
Straße bald mit der Pfote, bald mit der Schnauze und bald mit
Schlägen des Schwanzes vergebens gegen die gierigen Mücken
Wehren, knurrend, hilflos gegen die Bisse der Flöhe,
Gegen blutgeschwollene Bremsen, beißend und winselnd.
Wenn sich aber die trockenen Ränder der Wunde verschließen,
Hoffnung kommt, dass die heilige Dumpfheit bald aufhört,
Glaub ich ihr nicht. In meinem verbrannten Körper erneuern
Stets sich Eiterblasen, knospt erneut auf die Krankheit
Und die todgeweihten Narben gebären beständig
Erben. Von ekelhaften Beulen sind meine Glieder
Übersät, gefüllt mit stinkendem Eiter, dem fetten
Blut und Dreck der Därme. ...


Auch Polizianos Epos über die Krätze verleiht dem Geist der Antike einen Körper. Aber was für einen! Nicht Catulls elegante Elfsilber, sondern Homers Hexameter tauchen auf (wieder mit der gleichen Mischung von Freiheit und Treue übertragen) und mit ihnen das gesamte epische Arsenal von Gleichnissen und Schlachtgetöse, Waffenschau und Wundbeschreibung, Heeresbewegungen und Herrscherlob. Und nicht nur der geballte Ansturm von Körperlichkeit, ein ebenso heftiger Ansturm von Gelehrsamkeit wird uns in diesem atemlosen Werk um die Ohren gehauen („Was gedenk ich noch Dipsas, Leukochroon, Apodas, Philagon, Helkodamas [weitere Namen folgen]...), das von der Beschreibung körperlicher Qualen schnell zu historischen Erwägungen und Darstellungen übergeht, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns diesem Strom von ausufernden Versen (dies gilt für die Sprache ebenso wie für den Inhalt) zu überlassen. Gestaltet ist auch dieses Buch — wie bei hochroth üblich — mit großer Sorgfalt und doch unprätentiös.


Tobias Roth ist es gelungen, in einem Jahr gleich zwei Texte herauszubringen, die — nicht zuletzt dank seiner Übersetzung — neben einem großartigen Lesevergnügen auch noch einen frischen Blick auf die Literatur der Renaissance erlauben und sich dabei aufs Schönste ergänzen. Man sollte sie sich nicht entgehen lassen.


Giovanni Gioviano Pontano: Baiae. Deutsch / Latein. Übersetzt und mit Nachwort von Tobias Roth. Berlin (Verlagshaus Berlin - Edition ReVers) 2016. 200 Seiten. 18,90 Euro.

Angelo Poliziano: Sylva in scabiem // Wald aus Krätze. Latein / Deutsch. Übersetzt und mit Nachwort von Tobias Roth. Wien (hochroth Verlag) 2016. 32 Seiten. 8,00 Euro.

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