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Timo Brandt: Ungeheure menschliche Dimensionen

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Ungeheure menschliche Dimensionen

Ein Essay über das Werk von Kazuo Ishiguro

von Timo Brandt



Wie vertraut kann einem eine Romanfigur werden? Es kommt natürlich oft vor, dass Figuren der Literatur über ihr Dasein zwischen den Buchdeckeln hinauswachsen und das nicht nur im Fall von prominenten, sprichwörtlichen Beispielen wie Don Quijote & Hamlet oder den vielen Charakteren, mit denen ein größeres Publikum durch die Verfilmungen der Buchvorlagen in Berührung kam, wie etwa Tom Ripley aus Patricia Highsmiths quintlogischer Charakterstudie oder zahlreiche der von George R. R. Martin geschaffenen Figuren aus seiner Buchreihe Game of Thrones.

Aber in den meisten Fällen kann man nicht von wirklicher Vertrautheit reden, es sind eher Faszination, Spannung, Ergriffenheit, Projektion, die uns diese Figuren näher bringen oder sie fungieren als Stellvertreter*in für eine größere gesellschaftliche Realität, eine historische Entwicklung, für einen Menschen-Typus etc.
    Mit Vertrautheit meine ich im Übrigen auch nicht, dass man eine Figur oder ihre Beweggründe nachvollziehen kann und nicht, dass man Sympathie, Mitleid oder andere (auch negative Gefühle) für sie entwickelt. Ich will auf jene Wirkung hinaus, die mich dazu bringt, dass ich mich – im Zuge der Lektüre – nahezu uneingeschränkt mit der Figur eines Buches identifiziere, egal wie ich zu ihrer moralischen Einstellung oder ihren sonstigen Eigenschaften stehe; diese Figur ist einem so vertraut, als stecke man in ihrer Haut, obgleich die eigenen Sorgen, Einstellungen oder Lebensumstände dabei keineswegs durch sie repräsentiert werden müssen (und man außerhalb der zwischen den Buchdeckeln erzählten Geschichte, niemals ihre Ansichten, Urteile und Entscheidungen in Erwägung ziehen würde). Ein bekanntes Beispiel (unter vielen), und zugleich ein drastisches und streitbares, wäre Humbert Humbert, der pädophile Opportunist aus Vladimir Nabokovs Roman Lolita.

Um Lesenden eine Figur wirklich vertraut zu machen, bedarf es nicht nur der Hingabe und des handwerklichen Könnens, sondern auch einer gewissen Behutsamkeit, einer enormen Zurückhaltung. Man muss sich quasi in den Dienst seiner Figur stellen und darf keine Gelegenheit auslassen, dem Publikum einen zusätzlichen Einblick in ihr Seelenleben, ihre Überlegungen, ihr Wesen zu geben, und neue Facetten herauszuarbeiten, ohne dabei auf bestimmte Effekte für die Handlung abzuzielen. Die Geschichte muss sich um Figuren gruppieren und darf nicht mehr bedeuten als sie, darf nicht ihre Stellung zentral einnehmen.

Man kann eine Figur konzipieren und sie – mit Motivationen ausgestattet – in den Strudel einer Geschichte werfen, sie in Konfliktsituationen bringen und dann darüber schreiben, wie sie diese Geschichte erlebt/erleidet. Man kann auch eine Figur in die Welt setzen und ihr Innenleben zum Schauplatz erklären, ihr Nachdenken und Reflektieren, sie zu einem sprudelnden Gefäß für eine Mixtur aus Ansichten und Überlegungen machen; beides Blaupausen für erfolgreiche Romane. Aber was, wenn es das Ziel eines Romans wäre, nicht nur die Geschichte eines Menschen zu erzählen und die Geschichte seiner Abenteuer, seines Lebens, sondern in diesem Roman die Lesenden ganz nah an diese Figur heranzuführen, sie zu offenbaren – die in dieser Person manifestierte menschliche Dimension zum entscheidenden Element zu machen? Womit wir bei Kazuo Ishiguro angekommen sind.

Ich will natürlich nicht behaupten, dass Ishiguro der einzige ist, dem das oben geschilderte Phänomen in seinen Romanen geglückt sei. Es gibt zahlreiche Beispiele, von Thomas Mann über Virginia Woolf bis zu Hilary Mantel oder früheren Werken von Mario Vargas Llosa; wer hat da nicht eine eigene Liste? Aber ich würde doch behaupten, dass es Ishiguro auf besondere, eindringlich-eindrückliche Weise geglückt ist.

Das hängt zum einen damit zusammen, dass sein Stil keine größeren Auffälligkeiten aufweist, auch wenn ein kontinuierlicher Glanz, eine Eleganz, darin liegt. Er ist nicht über die Maßen kunstvoll, lyrisch, verknappt, distinguiert, gesetzt, furios, ausufernd. Ihm wohnt eine bewundernswerte Balance inne; seine Strukturen sind so gewählt, dass sie tragen, wovon gesprochen wird, aber nicht erheben oder ausstellen. Dennoch wird sein Englisch als eines der schönsten in der derzeitigen Romanliteratur gelobt. Diese Schönheit liegt meiner Ansicht nach gerade in seinem geringen Streben nach Außergewöhnlichkeit. Womit ich keinesfalls sagen will, dass sein Stil gewöhnlich ist – er ist einfach auf die gelungene Vermittlung und Formulierung seiner Inhalte konzentriert, geht nie darüber hinaus, bleibt nirgendwo darunter. Seine Eleganz ist immer bestechend, aber unaufdringlich.
    Zum anderen findet sich in Ishiguros Büchern wenig, das Rückschlüsse auf eine umfassendere Agenda, eine persönliche Positionierung oder Meinung erlauben würde. Liest man Virginia Woolfs Mrs. Dalloway, wird man schwerlich die darin zwar nicht ausgewalzten, aber fest in ihrem Werk verankerten feministischen Positionen ausblenden können, auch wenn der Roman viele Qualitäten besitzt, die sich nicht direkt damit in Verbindung setzen lassen. Und bei den Romanen Thomas Manns scheint immer wieder der Ironiker und nachdringliche Erforscher menschlicher Abgründe durch; seine großen Konstrukte offenbaren auch immer etwas von seinen Obsessionen und Extravaganzen. Ich will nicht so tun, als wären Ishiguros Romane klinisch frei von solchen Dingen, aber mir sind in seinen sehr unterschiedlichen Werken sehr wenige Indizien für eine Verschmelzung von Stoff und Autor aufgefallen.

Deshalb ergibt sich auch die Schwierigkeit, Ishiguro einer Tradition zuzuordnen oder einer Kategorie; er passt, wie es bei taz.de anlässlich der Nobelpreisvergabe hieß, „in keinen Kanon“. Bei seiner letzten Publikation im März 2015, dem im 6. Jahrhundert spielenden Roman The Buried Giant/Der begrabene Riese, bemerkt man trotz vielerlei Lob auch eine gewisse Irritation der Kritikerkaste, und manche Besprechung konnte es sich nicht verkneifen, Ishiguros halb historische, halb mythische Erzählung aus dem Dark Age Großbritanniens als „Ausrutscher“ oder leichte Abweichung zu klassifizieren. Diesen unsicheren Stimmen hat Daniel Kehlmann in einer großartigen Besprechung in der FAZ Grundsätzliches entgegengesetzt. Ich selbst kann an dieser Stelle nur noch ergänzen, dass ich Der begrabene Riese für eine faszinierende und gelungene Auseinandersetzung mit dem verschütteten Erbe der Mythologien einerseits und der komplexen Konstruktion historischer Narrative (an denen Verdrängung, Überhöhung und Ausklammerung stets einen großen Anteil haben) andererseits halte. Und abgesehen davon, dass die Komposition und der mit Archaik angeschlagene, aber dann viel feiner ausklingende Erzählton diesem Buch eine einzigartige Atmosphäre verleihen, ist es Ishiguro auch hier wieder gelungen, eine sehr eigenständige Geschichte mit sehr eigenständigen Figurendimensionen aufzuziehen. Aber um genauer auf diese Figurendimensionen zu sprechen zu kommen, gehen wir in der Werkschau ein paar Schritte zurück.

Im ersten Kapitel von Ishiguros drittem Roman, seinem ersten großen Erfolg The Remains of the day/Was vom Tage übrig blieb, in dem der alternde Herrenhaus-Butler Stevens in langen, sich auffächernden Reflektionen aus seinem Leben erzählt, während er, zwecks eines Besuchs bei einer vormaligen Angestellten, eine kleine Reise durch die Grafschaften von England unternimmt, gibt es eine Stelle, wo der Protagonist, bei einem kurzen Zwischenstopp, einem Bauern begegnet, der auf einem Stein am Abhang eines Hügels sitzt und der ihn heranwinkt.

„Hab mich nur gefragt, Sir“, sagte er, als ich näher kam, „ob Sie gute Beine haben.“
„Wie bitte?“
Der Mann deutete zu dem Pfad hin. „Sie brauchen zwei gesunde Beine und gute Lungen, wenn Sie da hinauf wollen. Ich habe weder die einen noch die anderen, deshalb bleibe ich hier unten. Aber wenn ich besser beieinander wäre, würde ich da oben sitzen. Es gibt ein hübsches Plätzchen dort, mit einer Bank. Und eine bessere Aussicht finden Sie in ganz England nicht.“
„Wenn das stimmt, was Sie da sagen“, entgegnete ich, „dann bleibe lieber hier unten. Ich bin gerade am Anfang einer Reise mit dem Auto, in deren Verlauf ich hoffe, viele schöne Aussichten genießen zu können. Das Beste schon zu sehen, ehe ich richtig angefangen habe, wäre etwas voreilig.“
Der Mann schien mich nicht zu verstehen, denn er sagte noch einmal: „Sie finden in ganz England keine bessere Aussicht. Aber ich sage Ihnen, Sie brauchen zwei gesunde Beine und gute Lungen.“ Dann setzte er hinzu: „Man sieht, dass Sie für Ihr Alter gut in Form sind, Sir. Ich würde sagen, Sie können es mühelos da hinauf schaffen. An einem guten Tag, schaffe sogar ich es noch.“
Ich blickte den Pfad hinauf, der steil und recht steinig aussah.
„Ich sage Ihnen, Sir, es wird Ihnen leid tun, wenn Sie das versäumen. Und man kann nie wissen. Noch zwei, drei Jahre, und es könnte zu spät sein.“ Er lachte eher unschön. „Gehen Sie lieber hinauf, solange Sie noch können.“
(Was vom Tage übrig blieb, Seite 35/36, Rowohlt Taschenbuch 1990, übersetzt von Hermann Stiehl)


In dieser Szene klingt es noch sehr fein an, das Motiv, welches die ins Nichts laufenden Überlegungen und Rechtfertigungen, die Stevens für den zentralen Inhalt seines Lebens, den Butlerstand, in langen Monologen entwickelt, ausformt und vertritt, immer wieder durchstößt, ja, zusammenfaltet. Ein Motiv, ganz simpel und doch unbarmherzig: wofür hat man gelebt? Wofür kann man leben?
    Der französische Schriftsteller Albert Camus legte in seinem ersten Romanfragment Der glückliche Tod seinem Protagonisten den Satz in den Mund: „Ich rede nicht gern ernsthaft. Denn dann gibt es nur eine Sache, über die man reden kann: die Rechtfertigung, die sich jeder von uns für sein Dasein zurechtgelegt hat.“ Liest man Ishiguros Werke oder jeden anderen guten Roman, in dem ein Ich erzählt, wird man diesem Zug begegnen; diesem inneren Zwist entgeht kaum ein denkendes Wesen. „Da wo man ist, muss man schließlich hingekommen sein“, wie es in Charles Simmons Novelle Salzwasser heißt, und das Individuum kommt nicht umhin, diesen Weg selbst zu benennen, selbst zu erklären, egal wie fremdbestimmt es war, und egal, wieviel dabei übernommen wurde von dem, was von außen kam oder von innen an Verdrängung und Umdeutung den klaren Blick auf die Geschehnisse überwucherte.

Die Konfrontation des ins Dasein geworfenen Individuums, mit den Fragen: Wofür leben? und: Was denn sein? – das ist, zusammengefasst und verkürzt, Ishiguros Thema. Nicht nur, weil Ishiguro immer wieder faszinierende und eigenständige Szenarien entwickelt (von Japan nach dem 2. Weltkrieg über das ins postkoloniale Zeitalter tretende England bis zu den dystopischen und historischen Dimensionen seiner neusten Werke), in denen diese Konfrontation stattfindet und in deren Verlauf seine Figuren oftmals jene bereits geschilderte Vertrautheit erreichen.

Sondern vor allem, weil seine Bücher in jeder Faser dieser Konfrontation Raum geben, sich darauf einlassen, sie nicht transformieren, intellektualisieren oder im finalen Showdown auflösen. Seine Figuren existieren mit diesen Fragen, tragen den Kampf damit bis in die tiefste Schicht ihres Daseins – oder versuchen, die Selbsterkenntnis von sich fernzuhalten.  

Diese Darstellung gelingt ihm ohne überdramatische Zuspitzungen, behutsam und doch nachdrücklich. Die Behandlung von Daseinslügen, denen man die eigene Wahrheit entgegensetzen muss, aber wie soll man sie entwickeln, auf was kann man beim Selbsterkennen Bezug nehmen, und wie verpasst man dabei nicht das wenige Lebenswerte?

Ich weiß, dieser letzte Satz klingt recht pathetisch. Ich gebe zu, dass ich in diesem Fall das Pathetische nicht fürchte, weil es für mich, was diese Aussage betrifft, nichts Abgeschmacktes, Zeremonielles hat. Ich schätze Literatur, die den Komplex des Menschlichen nicht einfach in Positionen aufteilt und sagt: dies ist hier einzuordnen und das andere dort, sondern den individuellen Umgang thematisiert. Und nachdem ich einst nach der Lektüre von Never let go/Alles, was wir geben mussten zitternd in meinem Sessel saß, von dem Buch in physische Turbulenzen versetzt, kann ich auch heute noch im Rückblick sagen: solche Literatur ist dies nicht. Diese Literatur sucht, Menschliches auch dort zu schildern, wo es schwer zu schildern ist.



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