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Timo Brandt: Gedanken zur und wegführend von der Eröffnungsrede zum Lyrikpreis Meran von Thomas Kunst

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Timo Brandt

Gedanken zur und wegführend von der Eröffnungsrede zum Lyrikpreis Meran
von Thomas Kunst


I
 
"Die Geschichte des Schwafelns hat längst begonnen." (Zitat aus der Rede)

Natürlich hat sie längst begonnen. Sie hat ja auch nie aufgehört.
 
Das Lamento, mit dem eine/r lautstark seine/ihre Drehung gegen den Wind verkündet, ändert nichts am Wind, obgleich es durchaus die zu entlarven scheint, die sich mit dem Wind bewegen, ihr Segel hineinspannen - wobei die Unterstellung, sie hätten ihre Segel nach diesem Wind ausgerichtet und würden es vielleicht auch mit ihm drehen, zwar Beifall sichern mag, aber eigentlich eine an allen Stühlen vorbeigeworfene Mitteilung ist: entweder muss man eine solche Anklage an klare Namen binden oder sie wird in Besitz genommen werden von jeder Person, die sie gerade für ihren Groll, eine Positionierung, Verdammung, Verteidigung, etc. gebrauchen kann.
 

II

Eigentlich würde ich der Thomas Kunst Eröffnungsrede zum Lyrikpreis Meran gerne applaudieren, zumal er viele Namen und Werke anführt (allen voran die von Nicolas Born und Thomas Brasch), die mir am Herzen liegen, wenn sie jemand anbringt, bin ich (allzu) schnell mit Dankbarkeit bei der Hand. Aber ich kann nicht applaudieren, weil mir bei aller Wortgewalt, Plädoyerschönheit und dem Mitreißenden, das jeder Ritt zur Attacke mit sich bringt, das Ganze doch schnell wieder zu viel, die Schlagrichtung zu grundsätzlich wird.

Ich teile die in dem Text transportierte Sorge insofern, dass ich schon oft bei Leuten, die außerhalb des Lyrik- und des Literaturbetriebs stehen, das Vorurteil angetroffen habe, dass die deutsche Gegenwartslyrik (mal abgesehen von den lustigen Verseschmieden hier und da und vielleicht noch Jan Wagner) aus unverständlichen oder bildungslastigen, artistischen Sprachströmen besteht, die sich ohne Rechtfertigung oder Entgegenkommen nur um sich selbst drehen.

Auf der einen Seite stimmt das zwar nicht, aber auf der anderen Seite kommt dieses Vorurteil auch nicht von irgendwoher. Die deutsche Lyrik hat teilweise ein Imageproblem, das zusätzlich dadurch befeuert wird, dass es Elemente im Betrieb gibt, die die elitäre Haltung und (Selbst)Wahrnehmung der Lyrik stärken und betonen und das Einfache und Schlichte verdammen, kleinreden oder ignorieren.

Vielleicht bin ich zu jung, um mich an dieser Debatte zu beteiligen. Ich weiß zu wenig darüber, ob und wie weit Kunst-Kritik an den Preisvergaben und der Akademisierung des Lyrikbetriebs tatsächlich greift, ob es Zahlen gibt, die dafür sprechen, und ob wir es hier mit den üblichen, leider zu erwartenden Hierarchien zu tun haben oder ob man schon über Kartelle oder dergleichen sprechen müsste. Ich bin irgendwie zu nah dran (weil in meinem Umfeld, in dem es viele lyrikschreibende Personen gibt, ständig über alles debattiert wird und ich meine letzten vier Jahre kreatives Schreiben studiert habe), und doch zu weit weg (weil ich noch nicht in der Phase bin, in der meine Karriere weit genug fortgeschritten ist und ich sowieso als Lyriker nicht stark im Betrieb verankert bin).

Einmal saß ich in einem Seminar an der Uni und wir besprachen einen Lyrik-Text. Die Dozentin hatte sich bisher nicht zu Wort gemeldet. Schließlich sagte sie: "Mir gefällt der Text zwar, aber irgendwie riskiert er mir zu wenig. Er ist wie ein Seiltanzakt, aber ich habe den Eindruck, der Seiltänzer kann nicht fallen. Es ist kein wirkliches Kunststück, es scheint nur so." Mir ist dieses Bild im Gedächtnis geblieben. Und auch wenn ich mich bis heute weigere, manchen Gedichten und manchen Dichter*innen ein ähnliches Verfahren zu unterstellen, hallt ein Hauch dieser Anekdote sofort wieder, wenn ich sie lese. Ich finde in ihr die vage Entsprechung jenes Unmuts, den ich empfinde, wenn ich das Gefühl habe, dass ein Gedicht nichts riskiert, über den Dingen schwebt, glatt ist, klinisch.  


III

Ich bewundere viele Lyriker*innen und bei vielen ist es mir unverständlich, warum sie euphorisch besprochen werden oder interessant sein sollen. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass das nicht mit Qualität oder Authentizität zusammenhängen muss. Es gibt Werke, bei denen kann ich argumentieren, warum sie (aus meiner Sicht) gut sind, lesenswert sind und bei anderen kann ich argumentieren, warum sie sprachlich oder inhaltlich meinen Ansprüchen nicht genügen. Aber es gibt Werke, bei denen ich weder das eine, noch das andere tun kann; sie sind wie eine Musik, die mich einfach nicht berührt, ihre Worte sprengen in mir keine Ketten, verdichten keine Symptome meiner Existenz, schlagen nicht auf Keile ein, die ich vor langer Zeit an kritischen Stellen in meinem Geist befestigt habe, in Erwartung eines Hammers, der eines Tages niedergeht und spaltet.
    Manchmal führt mich jemand doch noch an diese Texte heran, zeigt mir, was in ihnen steckt. Das bedeutet mir dann manchmal viel und manchmal nur genauso viel wie zu dem Zeitpunkt, als ich noch nichts darüber wusste.

Auch ich schreibe derzeit eher Gedichte, die man schlicht nennen würde. Ich bin an leicht vermittelbaren Erkenntnissen, Eindrücken interessiert, an unverhofften Entsprechungen in Bildern. Und meine Gedanken drehen sich oft darum, wie jemand, der nur ein einziges Mal mein Gedicht liest, trotzdem etwas daraus mitnehmen kann. Obgleich ich sehr gerne Gedichte wieder und wieder lese und auch Spaß an tiefgehenden, kleinteiligen Interpretationen finde, habe ich mich irgendwann dazu entschieden, dass mir dieser Fokus auf einem möglichst klaren ersten Eindruck (oder einer möglichst leicht zugänglichen Eindrücklichkeit) im Moment wichtig ist, dass ich mich damit auseinandersetzen, dies erreichen will. Die Gedichte, die ich also zurzeit schreibe – und das mag ihr Fehler sein – taugen oft nicht zu einer weitgehenden Interpretation.

Und ja: das bringt wenig Aufmerksamkeit, das bringt mitunter viel Hohn. Das bringt keine Preise, keine Veröffentlichungsmöglichkeiten in Hülle und Fülle, keine coolen Connections. Und ja: das finde ich manchmal zum Kotzen. Aber deswegen empfinde ich die Lyrik derer, die anders dichten, nicht als schlechter. Überhaupt: warum muss es eigentlich immer so viel um Positionen gehen und so wenig um Gedichte. Geht es denn überhaupt noch um Gedichte?! Oder werden sie schleichend zu Artefakten von ästhetischen Weihen, Objekten eines sehr speziellen Fetisches? Geht es noch darum, dass Gedichte wirken oder darum, dass sie gemacht werden?

Aber mal im Ernst: Natürlich hat die Geschichte des Schwafelns längst begonnen. Aber nicht nur an den Akademien. Es wird überall geschwafelt, weil überall Positionen bezogen und Deutungshoheiten angemeldet werden. Es gibt einen viel zu verbreiteten Trend, Kunstwerke allein danach zu bewerten, ob man ihnen zustimmen kann oder nicht. Wenn es je einen Holzweg gab, dann ist es dieser. Es darf nicht nur darum gehen, wie wir sie bewerten, was also WIR mit IHNEN machen. Sondern es muss auch darum gehen, wie sie auf uns wirken, was SIE mit UNS machen.

Schwafeln kann schön sein, Poetologisches nett, wichtig, erhellend, faszinierend; die Fetzen, die bei den Debatten fliegen, sammle ich ein und werf sie ab und an gern noch als Konfetti hoch. Ich vermisse vielmehr, dass es neben dem Schwafeln auch um das gute, alte, schlichte, unprätentiöse "Das hat mich bewegt" geht.

Letztens sprach ich mit einer mir wildfremden Psychologiestudentin, die meine Aussage, ich sei Lyriker, mit einem unsicheren Lächeln und einem Blick beiseite quittierte. Aber dann sah sie mich mit einem Mal an, ein Leuchten in den Augen. Und erzählte, wie sie vor kurzem in der Wohnung einer Freundin war und da lag ein Buch auf dem Tisch. Ein Buch mit Gedichten. Sie las ein, zwei - und musste weinen. Von wem das Buch gewesen sei, fragte ich. Sie wusste es nicht mehr, irgendeine polnische Lyrikerin. Szymorla oder so. Ich sagte schnell: war es vielleicht Wislawa Szymborska. Aber sie ging darüber hinweg und sagte nur: Sie waren so schön. Ich habe wirklich geweint, einfach so.

Ich würde mir wünschen, dass das jemand auch über deutschsprachige Lyriker*innen sagen kann (meinetwegen auch ohne sich an ihre Namen zu erinnern), möglichst auch über ein paar, die vielleicht auch ein paar Preise gewonnen haben. Lyrik darf nicht zu einer Institution werden, die nicht mehr diese einfache und bewegende Komponente mitträgt und ihr frönen darf. Ich plädiere hier nicht für das über Bord Werfen von ästhethischen Prinzipien, aber für die Vielfalt an ästhetischen Prinzipen. Ich renne damit auch gerne offene Türen ein.

Ich lese Mascha Kaléko und heule wie ein Schlosshund, spüre tief in der Brust jene Enge und verstehe, warum man vom Herzen spricht, weiter sprechen kann. Und ich lese Ulf Stolterfoht und summe, singe, rattere Lyrik bis zum Umfallen mit, sie dehnt meine Vorstellungen, die ich nie für so dehnbar hielt, und dehnt sie weiter; ich verstehe, dass man von so viel anderem sprechen kann. Ich möchte sie nicht gegeneinander eintauschen. Ich will, dass möglichst viele Leute begreifen, wie großartig beide sind, wie großartig Lyrik sein kann.
Thomas Kunst: Der Angler und die Fische, bei Volltext »
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