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Thorsten Krämer: The Democratic Forest

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Meinolf Reul

„Diese Ortlosigkeit des Backsteins”.

Zu Thorsten Krämer: The Democratic Forest


Die Reise beginnt mit den Fingerspitzen: Sie
ertasten den Weg um den Globus. Inverses Relief
der Erfahrung, die Kugelform der Prädestination.

MEMPHIS, AT THE TRAVEL AGENT'S


Dies Motto-Gedicht eröffnet Thorsten Krämers Gedichtband The Democratic Forest, der soeben als Buch Nr. 008 in Ulf Stolterfohts BRUETERICH PRESS erschienen ist. Er enthält 147 Gedichte zu Photographien von William Eggleston aus dessen gleichnamiger Monographie (1989, die deutsche Ausgabe kam letzten Herbst bei Steidl heraus).
Der Verlag wirbt – es hat sich herumgesprochen – mit dem kessen Wort: „Schwierige Lyrik zu einem sehr hohen Preis – dann ist es BRUETERICH PRESS!”. Der in diesem Fall zu veranschlagende Einzelgedicht-Preis ist allerdings vernachlässigenswert, und schwierig sind die Gedichte von Thorsten Krämer mindestens auf den ersten Blick auch nicht, allerdings: Sie bergen eine konzeptuelle und handwerkliche Raffinesse und Strenge, die etwas Verzwicktes hat. Krämer hat diese Komplexität mehr ins Innere oder ins Dahinter der Texte genommen, was nicht heißt, dass sie formal simpel wären. Man wird nicht so schnell fertig damit.

Das inverse Relief der Erfahrung aus dem Eröffnungsgedicht wird im Schlussgedicht wieder aufgenommen, wenn auf das Ankommen nicht ein Abschied, sondern auf den Abschied ein Ankommen folgt:

Die verlassene Erde: ein letzter Blick
auf den Abschied, dann hat schon
das Ankommen begonnen.

OVER ST. LOUIS AT NIGHT


Der Photograph befindet sich vielleicht auf dem Heimflug. Die Destination des Dichters ist der Schreibtisch, wo die abgelichtete Welt in der Sprache wiederersteht.

Ein Wort vorab zum Aufbau des Bandes. Nach dem Motto-Gedicht (s.o.) und einer poetologischen Notiz („Auf der Durchreise”) kommt eine erste Abteilung mit 15 Gedichten, dann der Hauptteil mit 100 Gedichten (59 + 41), denen sich wiederum 15 Gedichte anschließen und dann noch einmal 15+1 Gedichte; das +1te Gedicht ist spiegelbildlich zum Motto-Gedicht gesetzt, das es – wie gesehen – auch thematisch fortspinnt, und wird darum hier extra gezählt.

Krämer nennt Eggleston „einen stellvertretenden Reisenden”.

„Ich mache die Orte seiner Fotografien zu Orten meiner Gedichte. Sie sind deshalb mehr als nur Material, sind immer auch schon situativ und atmosphärisch zu verorten. Und doch kann es auch sein, dass die Gedichte dann am Ort der Fotografie einen anderen Bildausschnitt wählen, auf ein anderes Licht warten oder selbst in das Geschehen eingreifen. Sie sind deshalb mehr als bloße Bildbeschreibungen: Ich durchreise den demokratischen Wald – den Eggleston für mich, für uns erschlossen hat – und kehre zurück an den Ort meines Schreibens.”


Die Frage nach dem Übergang vom Bildzeugnis zum Sprachwerk ist allen Texten des Bandes eingeschrieben, mindestens geht sie ihnen als Bedachtes voraus – ein Metathema, das das nachfolgend zitierte Gedicht „Family Mementos in Memphis” in kunstvoller Doppelbelichtung ausbuchstabiert.

Hier endet es: ein Zuschauerplatz auf dem
Sideboard, eskortiert von Nippes. Vom Foto
zur Textur, die Toten als Tapete: So legen sie

Bedeutung ab. Der Eintritt in die Umwelt kostet
nur das Leben und dann etwas Zeit. Ein passiver
Wortschatz aus Vergangenen, ein strenges Gesicht

in der Zimmerecke.

FAMILY MEMENTOS IN MEMPHIS


Beschrieben wird – durch den Filter oder über den Umweg einer Photographie Egglestons, von der nur der Titel als verlässliche Referenz bleibt – ein Interieur. Auf einer Anrichte stehen Andenken an die Familie, speziell an deren schon verstorbene Mitglieder. Auch in der Zimmerecke befindet sich ein nicht näher klassifiziertes Bild, vielleicht das Konterfei eines weiteren Familienangehörigen, vielleicht eine Ikone, vielleicht auch ein Spiegelbild. Situation und Sinn erscheinen eindeutig.
Man kann den Text jedoch ebenso (ohne die vorige Lesart zu falsifizieren) als Allegorie der transpositorischen Arbeit deuten, die Krämer sich vorgenommen hat, nämlich Bilder in Sprache zu übertragen.

Das Demonstrativpronomen am Anfang meint im Kontext der zu Grunde liegenden Aufnahme: hier auf der Kommode, in einer Wohnung in Memphis. „Hier” kann aber auch verstanden werden als: hier im Gedicht, oder: hier an meinem Schreibort (der nicht der Ort ist, wo die Photographie entstand). Das Sideboard kann ebensowohl in Memphis wie in Köln stehen und da als Ablage für Egglestons Bildband dienen. Ein „Zuschauerplatz”, denn was Thorsten Krämer in seiner 'zweiten Schöpfung' kreiert, entzieht sich dem Zugriff des Urhebers.

Die Formel „Vom Foto / zur Textur” spielt auf die Verwandlung an, die in der Verschriftlichung einer Photographie liegt, in der Übertragung von ihrem ikonischen in ein sprachliches Zeichensystem. Damit sie erfolgen kann – damit die Einbettung in den Kontext („die Umwelt”) der Dichtung gelingt –, müssen für den Schreibenden die photographischen Vorlagen 'gestorben' sein („Der Eintritt in die Umwelt kostet / nur das Leben”), er muss sie in seinem Gedächtnis oder in seinem Unterbewusstsein begraben, wenn er mehr schaffen will als ein bloßes Abpausen. – Die nachschöpferische Arbeit, die er dann leistet, ist nicht zu denken ohne die Idee der Dauer („kostet / nur das Leben und dann etwas Zeit”).
Das Prinzip ist möglicherweise gar nicht sehr verschieden von Urs Engelers Erinnere einen vergessenen Text. Auch das biblische Wort drängt sich auf: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh. 12,24).

Die seltsame Wendung „So legen sie / Bedeutung ab” lässt offen, ob sich das „sie” auf die Nachfahren bezieht oder auf die Toten (bzw. die Photographien von William Eggleston). Wie auch immer, diese letzten – Fotos/Toten – spielen sowohl eine passive als auch eine aktive Rolle. Sie verblassen mit der Zeit im Bewusstsein der Hinterbliebenen, bringen sich diesen aber auch in Erinnerung. Der Ausdruck „Zeugnis ablegen” klingt an, was zu der Frage hinleitet, ob mit dem Ablegen von Bedeutung ein Bedeutungsverlust einhergeht oder nicht vielleicht eine Bedeutungszunahme. Müsste man das „So” betont lesen?
Das gestrenge Antlitz in der Zimmerecke ist (auch) das gespiegelte Abbild des Dichters bei der Arbeit, der „Family Mementos in Memphis” als optische Täuschung inszeniert, als Kippfigur – ein exzellentes Gedicht.

Die Verklammerung von Lichtbildnerei und Schriftstellerei erfolgt prägnant u. a. auch in „Near Greenville, East Tennessee”, wenn eine Tonne am Straßenrand ins Bild gerückt wird, wie sie so auch bei William Carlos Williams vorkommen könnte (an den die Gedichte hin und wieder erinnern). Dieser hätte aber den Akt des Schreibens nicht reflektiert, wie es hier geschieht:

[...] Auch diese Tonne
da am Straßenrand ist nur ein Platzhalter: Der Rost
frisst sich mit deiner Handschrift durchs Metall.


Das Bildzeichen wird zum Sprachzeichen, und dieses ist in jenem seit je enthalten und umgekehrt.

Nach der vorstehenden nahen Lektüre eines emblematischen Textes aus The Democratic Forest sollen nun die Gedichte im Ganzen in den Blick genommen werden, zunächst unter dem Aspekt ihrer formal-inhaltlichen, dann unter dem ihrer konzeptuellen Gestaltung.

Krämers Photographiengedichte sind kurz, dabei vielgestaltig. Die Versgliederung erfolgt in Strophenform und/oder durch Einrückungen. Er gebraucht Großschreibung und Interpunktion, verwendet runde Klammern – außerhalb von gelegentlichen Dedikationen – nur ein-zwei Mal, dafür, moderat eingesetzt, fremdsprachige Elemente (zumeist Englisch) und Kursivierungen. Er meidet typographische oder lexemische Extravaganzen, reagiert gemessen auf Egglestons Vorgaben.
Die Gedichte rufen Mythen und Ikonographie der US-amerikanischen Gesellschaft auf, sparen aber die großen einschlägigen Symbole aus (Freiheitsstatue, Lincoln Memorial, Kapitol usw.) und wählen eher geringfügige Motive, zitieren Alltagssituationen wie Autofahren oder Einkaufen, Brauchtum (Halloween, Thanksgiving), Kulturindustrie (Radio, Kino, Vergnügungsparks), samt kultureller Größen von Scott Joplin und Otis Redding bis E. E. Cummings oder Brian De Palma – ein breites Spektrum. Der Lesende ist Gast bei einem Frühstück mit Nachos und Ei, läuft mit Ölarbeitern durch schwarzen Matsch, steht Schlange, fährt Auto „in regenbogenbunten Schlappen”, lässt seinen Blick auf Graffitis ruhen, verharrt irritiert vor den Abschottungen der Reichen und hält (als Hund) still beim Familienfoto. Der Situationen sind viele, und alle illustrieren und illuminieren sie, mit dem schönen Wort von Michael Rutschky, Sensationen des Gewöhnlichen.
1891 erschien in Italien ein Gedichtbuch, das den Titel Myricae trug. Sein Verfasser, Giovanni Pascoli, hatte ihn einem Vergil-Vers entnommen: „Non omnes arbusta iuvant humilesque myricae”.
¹ Myricae, das brachte Pascolis Bekenntnis zur Sehenswürdigkeit und Schönheit des Alltäglichen, des gemeinhin wenig Beachteten zum Ausdruck: Sträucher und Tamarisken, die bescheidenen Gewächse, gefallen vielleicht nicht allen – so war der programmatische Titel wohl zu verstehen –, aber mir gefallen sie, und ich halte sie für wert, dass sie Gegenstand von Gedichten sind.
In Pascolis Fußstapfen, wenngleich mit anderer Gangart und wohl auch anderem Ziel, bewegt sich auch Thorsten Krämer. Die (abseits der Hochglanzprospekte) unspektakuläre Lebenswelt Nordamerikas wird von ihm unprätentiös in reimlose Verse von liebevoll-nüchterner Schmucklosigkeit gebracht. Doch unterschätze man diese nicht: Die Poesie, die poetische Technik, ist immer gegenwärtig, nur tritt sie beiläufig auf, untertreibend, gut getarnt. Unter dieser Maßgabe dürfen vereinzelt selbst daktylische oder jambische Sequenzen aufscheinen: klassisch-lyrische Einschlüsse in einer profanen Welt pragmatischer Schönheit.

[...] Auf Dauer gestellt
auch das Wippen der Wimpel, der Witterung
trotzend die künstlichen Farben.
[...]


Häufigeres Stilmittel sind Alliterationen und Assonanzen, oder es gibt strukturelle Ordnungen wie die Häufung einsilbiger Substantive in „Dandridge, Tennessee”, oder Anleihen an die japanische Ästhetik („[...] Es ist Herbst, / das Wasser ist kühl, der Wald nur / ein schwarzer Streifen am anderen / Ufer des Himmels[.]", oder, in einem direkt darauf folgenden Haiku: „Havarie im Herbst / herabsegelnde Blätter, / Birke und Barke[.]”).   

„ein Fußabdruck / im Hirn”


Die Gedichte – allesamt auf Dinge der wirklichen Welt bezogen, wie sie sich, bereits formalisiert, in den photographischen Vorlagen darstellen – sind teils abstrakt, teils konkret-deskriptiv, zuweilen sogar erzählend. Dort gibt es Bildgegenstände, hier Textgegenstände. Beide können miteinander korrespondieren, müssen es aber nicht.
Für den Lesenden sind die Gedichte von vornherein 'ungegenständlich' – vorausgesetzt, dass die Photographien ihr Gegenstand sind. Diese bleiben außen vor und sind nur über ihre Bildunterschriften (bei Krämer gleich den Gedichtunterschriften) präsent: „Memphis”, „In the French Market, New Orleans”, „Abbeville, Mississippi”, „Water Valley, Mississippi” usw., nicht selten auch: „Untitled”. Man könnte alle diese zumeist geographischen Kennungen hintereinander weglesen und hätte ein schönes Listengedicht. Als Orientierungsmarken taugen sie nur bedingt. Im Falle der „Untitled”-Gedichte ist dies offensichtlich, aber es führt auch ins Leere, wenn gleich zehn Gedichte „Miami” heißen.
Ist dies als Hinweis darauf zu lesen, dass all diese Namen, so wie die oben zitierte Tonne, Platzhalter sind, die eigentlich für das Unentdeckte stehen, für die weißen Flecken auf der Landkarte (oder im Kopf)?
Jedenfalls zeigt sich hier ein referentielles Paradox, eine Verweisenskeuschheit. Das wird auch von den Gedichten selbst eingelöst. Ihnen allen ist etwas Diskretes eigen, sie scheinen ihre Inhalte abschirmen zu wollen. Gewiss, die Photographien, auf die sie sich jeweils beziehen, sind nicht zu denken ohne ein Zeigen, sind mit ihm identisch. Auch die Gedichte selbst haben diese deiktische Seite, doch es gibt gute Gründe, in ihrem Fall – mindestens in der Tendenz – von einem Entzeigen zu sprechen. Ihre Gegenständlichkeit oder Sachlichkeit ist in einem Geist aufgehoben, der eher an Suggestion interessiert ist als an Repräsentation. „Der Blick / entgleitet ins Off, wo immer schon das Interesse liegt.”
Sie sind, wie es in einer wunderbaren Wendung heißt, „[e]in aufblitzendes Schweigen / in Vertretung einer Begegnung.”
Der visuelle Reiz der Photographie bleibt so doppelt ausgespart. Krämers Wortbilder (Referenzen) liefern nicht-retinalen Stoff. Wenn aber der Sehnerv wenig zu tun hat, muss das Gehirn anspringen. Die Gedichte in The Democratic Forest sind eine erstklassige Aufforderung hierfür.

Abschließend ein Wort zur Buchgestaltung. Das Wechselspiel von Abstraktion und Konkretion, wie es sich in den Gedichten findet, bildet auch das intelligent (und schön) gemachte, aus gleichschenkligen schwarzen und weißen Dreiecken komponierte Cover ab. Zur oberen Hälfte hin mehren sich unregelmäßige Leerräume, die als Aneinanderfügung weißer Dreiecke gesehen werden können. Man kann das Bildmuster mit Bedeutung beladen (Wald, Fotonegativ, Licht und Schatten), aber auch als reine Anordnung von Formen und Flächen, als optische Struktur betrachten – so oder so ergibt es Sinn und strahlt Schönheit, Klarheit und Ruhe aus.  


¹  Vergil: Bucolica, IV, 2: „Freut dich nicht jeden Gebüsch und ein niedriger Strauch Tamarisken.“



Thorsten Krämer: The Democratic Forest. Gedichte. Berlin (Brueterich Press, BP 008) 2016. 160 S. 20,00 Euro.

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