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Thomas Wolfe: Die Geschichte eines Romans

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Thomas Wolfe

Die Geschichte eines Romans  (1936)


übersetzt von Hans Schiebelhuth (1951)



Ein Verlagsleiter, ein Mann, der auch ein guter Freund von mir ist, sagte mir vor etwa einem Jahr, es täte ihm leid, dass er nicht Tagebuch geführt hätte über jene Arbeit, die wir gemeinsam getan haben, das Zurechtschlagen, Abdämmen, Fliessenlassen, Auffangen und Zuendebringen, die zehntausend Anproben, Änderungen, Siege und Übergaben beim Fertigmachen eines Buches. Manches, bemerkte dieser Mann, wäre phantastisch, vieles unglaublich und das Ganze erstaunlich gewesen, und obendrein hatte er die Liebenswürdigkeit, zu sagen, diese Arbeit stelle die interessanteste Erfahrung dar, die er in den fünfundzwanzig Jahren seiner literarisch-verlegerischen Herausgebertätigkeit gemacht hätte.
Von dieser Erfahrung möchte ich hier sprechen.
Ich kann keinem Menschen sagen, wie man Bücher schreibt; ich kann auch nicht versuchen, Regeln aufzustellen, nach denen jemand instand gesetzt sein würde, seine Bücher bei Verlagen, seine Geschichten bei gutzahlenden Zeitschriften unterzubringen. Ich bin kein Erwerbsschriftsteller, ich bin nicht einmal gelernter Schriftsteller, ich bin einfach ein Schriftsteller, der im Begriff steht, sein Handwerk zu lernen, der gerade dabei ist, auf den Gebieten der Linienführung und Baufügung und der sprachlichen Verdeutlichung jene Entdeckungen zu machen, die er notwendig machen muss, um die Arbeit leisten zu können, die er leisten will. Gerade aus diesem Grund, eben weil ich patze, weil noch meine gesamte Lebenskraft und meine ganze Begabung in diesen Entdeckungsvorgang einbezogen sind, aus diesem Grund spreche ich, wie ich hier spreche. Ich möchte erzählen, wie und auf welche Art und Weise ich ein Buch schrieb. Das wird äusserst persönlich werden. Die Arbeit an dem Buch nämlich hat mich mehrere Jahre lang aufs äusserste und heftigste in Anspruch genommen, ist für mich des Daseins eigenster und innigster Anteil gewesen. Es ist nichts sehr Literarisches an der Sache. Es ist vielmehr eine Geschichte von Schweiss und Qual und Verzweiflung und teilweisem Gelingen. Ich weiss noch gar nicht, wie man eine Geschichte schreibt, ich weiss noch gar nicht, wie man einen Roman schreibt. Aber ich habe etwas über mich selbst und über schriftstellerisches Arbeiten ausfindig gemacht, und wenn ich's vermag, möchte ich sagen, was es ist.
Ich weiss nicht, wann ich zuerst auf den Gedanken kam, Schriftsteller zu werden. Wahrscheinlich bildete ich mir wie viele Amerikaner meiner Generation ein, es sei eine feine Sache, Schriftsteller zu sein, und damit ein Mann wie Lord Byron, Lord Tennyson, Longfellow oder Percy Bysshe Shelley. Ein Schriftsteller musste wie alle hier von mir Genannten Ausländer sein, und da ich selbst Amerikaner war, und nicht zur vermögenden oder studierenden Klasse gehörte, meinte ich, ein Schriftsteller gehöre einer isolierten Gruppe von Menschen an, zu der ich nie Zugang haben würde. Ähnlich dachten wir wohl alle oder doch wenigstens die meisten Amerikaner. Das seltsame Wesen des schriftstellerischen Berufes irritiert uns nach wie vor mehr als irgendein anderes Volk der Erde, das ich kenne. Ich glaube, das ist auch der Grund, weshalb viele unserer Landsleute, vor allem die arbeitenden Schichten und die Menschen vom Lande, von denen ich selbst abstamme, voller Verwunderung und Zweifel und voller romantischer Gefühle dem Schriftsteller gegenüberstehen. So können sie sich auch kaum vorstellen, dass ein Schriftsteller durchaus einer von ihnen sein kann und nicht unbedingt ein Mann aus fernen Ländern sein muss, wie es Lord Byron, Tennyson oder Percy Bysshe Shelley waren. Andere Amerikaner wieder, die den akademisch gebildeten Kreisen angehören und die sich ebenfalls, aber auf andere Art, von Glanz und Differenziertheit dieses Berufes blenden lassen, geraten unter den Einfluss der Literatur; ihre Verständnisbereitschaft geht dann weiter als die ebenso stark von ihr beeinflusster gebildeter Europäer. Sie gebärden sich flaubertischer als Flaubert. Die Besten unter ihnen gründen kleine Zeitschriften und betreiben in ihren Spalten literarische Haarspaltereien, wobei sie dann mehr Haare spalten, als es sich Europäer je einfallen lassen würden. In Europa fragt man sich: «Mein Gott, wo kommen nur alle diese ästhetisierenden Amerikaner her?» Wir kennen das ja alles. Ich glaube, jeder, der in diesem Lande den Versuch unternommen hat, zu schreiben, gehörte erst einmal zu einer dieser beiden Gruppen wohlmeinender aber irregeführter Menschen. Wenn wir schliesslich wirklich Schriftsteller geworden sind, so sind wir es trotz dieser Menschen geworden. Ich weiss nicht, wie ich Schriftsteller wurde, glaube aber, dass in mir eine gewisse Kraft danach verlangte, zu schreiben, die schliesslich durchbrach und sich ihren Weg bahnte. Meine Familie gehörte zur arbeitenden Bevölkerung. Mein Vater, ein Steinmetz, war ein Mann, der der Literatur Achtung und Bewunderung entgegenbrachte. Er besass ein erstaunliches Gedächtnis und liebte die Poesie. Und die Poesie, die er am meisten liebte, war rhetorischer Art, wie sie ein solcher Mann naturgemäss bevorzugen musste. Trotzdem war es gute Poesie. Hamlets Monolog, Macbeth, Marc Antons Rede, Greys Elegie und anderes dieser Art. Ich hörte das alles schon als Kind, prägte es mir ein und machte es zu meinem geistigen Besitz. Er schickte mich ins College auf die Staatsuniversität. Schon während meiner Schultage war der Wunsch, zu schreiben, in mir lebendig gewesen. Jetzt wurde er noch stärker. Ich war Herausgeber der College-Nachrichten, der College-Zeitschrift und so weiter. In den letzten ein bis zwei Jahren meines Studiums gehörte ich einer Arbeitsgruppe für Dramatik an, die man dort kürzlich gegründet hatte. Ich schrieb verschiedene kleine Einakter, zweifelte aber nicht daran, dass ich schliesslich doch Rechtsanwalt oder Journalist werden würde. Nie hätte ich ernsthaft gewagt zu glauben, dass ich wirklich ein Schriftsteller werden würde. Dann ging ich an die Harvard-Universität. Auch dort schrieb ich noch einige Stücke und, besessen von der Idee, Dramatiker zu werden, verliess ich Harvard. Meine Stücke wurden jedoch abgelehnt. Schliesslich fing ich im Herbst des Jahres 1926 an, mein erstes Buch zu schreiben; es war in London. Ich könnte nicht sagen, wie es dazu kam, warum ich es schrieb, oder auf welche Weise. Ich bin selbst nie recht dahinter gekommen, vermute aber, dass die unbestimmte Kraft in mir, die schon lange zum Schreiben drängte, und die sich ihren Weg bahnen wollte, mich dazu antrieb. Damals lebte ich ganz allein. Ich bewohnte zwei Zimmer, ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer in einem Hause, das an einem kleinen Platz in Chelsea lag, und mit seinen verräucherten Ziegeln, seinem cremegelben Verputz aussah wie alle Londoner Häuser. Wie schon gesagt, lebte ich damals allein und dazu noch in einem fremden Lande. Ich ahnte nicht, warum ich eigentlich dort war, oder welche Richtung mein Leben nehmen würde, und in dieser Verfassung begann ich mein Buch zu schreiben. Ich glaube, das ist die härteste Zeit, die ein Schriftsteller durchmacht. Es gibt für ihn keine Vergleichsmassstäbe, kein Urteil von anderer Seite, an dem er seine Leistung messen könnte. Tagsüber schrieb ich stundenlang in grosse Geschäftsbücher, die ich mir zu diesem Zwecke gekauft hatte. Nachts pflegte ich dann mit hinter dem Kopf verschränkten Händen im Bett zu liegen und darüber nachzusinnen, was ich an dem betreffenden Tag geschrieben hatte. Draussen hörte ich den festen Polizeistiefeltritt des Londoner Bobby, der unter meinem Fenster vorbeiging. Ich erinnerte mich daran, dass ich in Nord Carolina geboren war und wunderte mich, wie zum Teufel ich jetzt hier in London in der Dunkelheit zu Bett lag und über Worte nachdachte, die ich an dem betreffenden Tag zu Papier gebracht hatte. Ein Gefühl äusserster Ausgehöhltheit und Vergänglichkeit überkam mich, und ich stand auf, machte Licht und las die Worte, die ich an dem betreffenden Tag geschrieben hatte, nach. Dann wunderte ich mich wieder: Warum bin ich jetzt hier? Wieso bin ich hierher gekommen?
Am Tag umgab mich der betäubende Lärm Londons und das golden-gelb neblige Oktober-Licht dieser Stadt. Das von Menschen wimmelnde, alte, spinnwebartige, rauchige London! Wie liebte ich diese Stadt, wie hasste ich und wie verabscheute ich sie!
Ich kannte niemanden hier, und vor langer Zeit war ich in Nord Carolina ein Kind gewesen. Aber jetzt lebte ich hier. In zwei Zimmern, in den gewaltigen Fangarmen des Oktopus, in dem grenzenlosen Spinnennetz dieser überwältigenden Stadt. Ich wusste nicht, warum ich hierher gekommen war, weshalb ich überhaupt hier war. Unter solchen Gefühlen und Gedanken arbeitete ich dort Tag für Tag. Dann kam ich im Winter nach Amerika zurück und arbeitete auch dort wieder. Tagsüber gab ich Unterricht und die ganze Nacht schrieb ich. Schliesslich, zweieinhalb Jahre, nachdem ich in London das Buch begonnen hatte, beendete ich es in New York.
Auch hiervon möchte ich gern erzählen. Ich war damals sehr jung und besass die wilde, überschäumende Vitalität, die einem Mann in diesem Lebensalter zu eigen ist. Das Buch hatte mich in seinem Bann und nahm Besitz von mir. Auf eine Art, die – so glaube ich – sich ganz von selbst herausbildete. Wie jeder junge Mensch stand ich stark unter dem Einfluss der Schriftsteller, die ich bewunderte. Einer der führenden Schriftsteller jener Zeit war James Joyce mit seinem «Ulysses». Ich glaube, das Buch, das ich schrieb, war stark von seinem Werk beeinflusst und doch gewannen die kraftvolle Energie und das Feuer meiner eigenen Jugend darin die Oberhand und führten schliesslich zu einem ganz persönlichen Werk. Wie Joyce schrieb ich über Dinge, die ich kannte, über das unmittelbare Leben und über die Erfahrung, die mir in meiner Kindheit zuteil geworden war. Ich hatte aber im Gegensatz zu Joyce keine literarische Erfahrung, hatte nie zuvor etwas veröffentlicht. Mein Gefühl Schriftstellern, Verlegern und Büchern, jener fernen Fabelwelt gegenüber, war fast so romantisch unwirklich, als wäre ich noch ein Kind. Und doch hatte mein Buch, hatten die Gestalten, mit denen ich es bevölkerte, hatte das Wetter des Universums, das ich erschaffen hatte, erst einmal Besitz von mir ergriffen, so schrieb ich und schrieb mit jenem leidenschaftlichen Feuer, mit dem ein junger Mensch schreibt, der nie etwas veröffentlicht hat und der doch sicher ist, dass alles gut werden wird und gut gehen muss. Das ist eine merkwürdige Sache, und sie lässt sich schwer ausdrücken. Ein Schriftsteller aber wird mich leicht verstehen. Ich ersehnte Ruhm wie jeder jugendliche Schreiber. Und doch war Ruhm ein blendender Glanz, aber auch eine höchste Ungewissheit.
In meinem achtundzwanzigsten Lebensjahr war das Buch beendet. Ich kannte keine Verleger und keine Schriftsteller. Eine Bekannte nahm das unförmige Manuskript, das ungefähr 350 000 Worte umfasste, und sandte es einem Verleger ein, den sie kannte. Nach ein oder zwei Wochen erhielt ich eine Nachricht, die zum Ausdruck brachte, dass das Buch nicht veröffentlicht werden könnte. Der Kern der Mitteilung war, dass das betreffende Verlagshaus im Jahr zuvor verschiedene ähnliche Bücher veröffentlicht hatte, die alle erfolglos geblieben waren, und dass das Buch in seiner gegenwärtigen Form ausserdem so dilettantisch, autobiographisch und unkünstlerisch sei, dass ein Verleger es nicht riskieren könnte, ihm eine Chance zu geben. Ich selbst war äusserst deprimiert, und die Illusion der Schöpfung, die mich zweieinhalb Jahre genährt hatte, war inzwischen so abgenutzt, dass ich diesem Urteil glaubte. Damals war ich Lehrer an einer der grossen Universitäten New Yorks. Als das Jahr zu Ende ging, reiste ich ins Ausland. Erst nach sechs im Ausland verbrachten Monaten erreichte mich die Nachricht eines anderen amerikanischen Verlegers, dass er mein Manuskript gelesen habe und gern mit mir darüber sprechen wolle, sobald ich wieder daheim sei.
Am Neujahrstag des gleichen Jahres kam ich wieder nach Hause und rief am nächsten Tag den Verleger, der mir geschrieben hatte, an. Er bat mich, ihn zu einer Aussprache in seinem Büro aufzusuchen. Ich begab mich sofort zu ihm, und als ich sein Büro an jenem Morgen verliess, hatte ich einen Vertrag unterzeichnet und einen Scheck über 500 Dollar in der Hand. Es war das erste Mal, soweit ich mich erinnern konnte, dass irgendjemand mir gegenüber die Meinung geäussert hatte, dass irgend etwas, das ich geschrieben hatte, auch nur 15 Cent wert war. Und ich weiss noch, dass ich das Verlagsbüro an diesem Tage verliess und in den grossen Männer- und Frauenschwarm tauchte, der sich bei der 48. Strasse die Fifth Avenue entlang schob, und dass ich mich plötzlich bei der 11. Strasse befand. Bis heute ist mir nie klar geworden, wie ich eigentlich dorthin gelangt war.
Für die nächsten sechs oder acht Monate lehrte ich an der Universität und arbeitete mit dem Lektor des Verlages am Manuskript meines Buches. Das Buch erschien im Oktober des Jahres 1929. Die Erfahrung mit dem Buch hatte noch immer Elemente jenes traumähnlichen Schreckens und jener Unwirklichkeit, die das Schreiben für mich gehabt hatte, als ich es ernsthaft begonnen und in meinem Londoner Zimmer mit hinter dem Kopf verschränkten Händen dagelegen und gedacht hatte: warum bin ich eigentlich hier? Die entsetzliche äusserste Nacktheit der Drucklegung, die für alle Schreibenden mit der Scham so namenlos verwandt ist, rückte täglich näher. Dass ich diese Blosstellung ersehnt haben konnte, vermochte ich nicht zu glauben. Es schien mir, dass ich mich selbst schamlos blossgestellt hatte. Und doch hielt mich das Narkotikum meiner Wünsche und meines Schaffensdranges wie unter Schlangenblick, und ich konnte nichts anderes tun. Schliesslich wandte ich mich an den Lektor, der mit mir gearbeitet und mich entdeckt hatte und fragte ihn, ob er etwas über Ende und Ausgang meiner Arbeit voraussagen könnte. Er sagte, dass er es vorzöge, mir lieber nichts zu sagen, da er nicht prophezeien oder wissen könne, zu welchen Ergebnissen das Ganze führe. Er sagte: «Ich weiss nur, dass man das Buch nicht übersehen wird, dass man es nicht ignorieren kann. Das Buch wird seinen Weg machen.»
Und das gibt ziemlich genau das wieder, was sich dann auch ereignete. Ich habe in den letzten Monaten gelesen, dass dieses erste Buch mit einem «Sturm kritischen Beifalls» aufgenommen wurde. Tatsächlich war das aber nicht der Fall. Es erhielt einige wundervolle, aber auch einige ungünstige Kritiken. Aber für ein erstes Buch fand es zweifellos gute Aufnahme. Das Beste daran war, dass ich mir allmählich ständig mehr Freunde unter Bücherfreunden machte. Vier oder fünf Jahre hindurch verkaufte es sich in der Originalausgabe sehr gut und später auch in einer verbilligten Volksausgabe der Modern Library. Das Resultat war, dass ich nach der Veröffentlichung dieses Buches im Herbst des Jahres 1929 mich plötzlich als Schriftsteller etabliert sah. Und damit begannen die ersten grossen Lektionen für mich als Schriftsteller.
Bis dahin war ich ein junger Mann gewesen, der sich mehr als irgend etwas anderes auf Erden gewünscht hatte, ein Schriftsteller zu werden, und der sein erstes Buch im Feuer der Illusion schuf, das in jedem jungen Schriftsteller brennen muss, ohne andern Antrieb als die Hoffnung. Nun hatte sich das in gewisser Beziehung geändert. Ein Schriftsteller, hoffend und sehnend, war ich schon vorher gewesen, jetzt aber war ich tatsächlich ein wirklicher Schriftsteller. Ich pflegte beispielsweise über mich zu lesen, dass ich einer der «jüngeren amerikanischen Autoren» sei. Ich war, wie einige der Kritiker von mir sagten, jemand, dem man künftig Beachtung schenken musste. Sie sahen meinem kommenden Buch mit Interesse und einer gewissen Spannung entgegen. Ausserdem machte meine schriftstellerische Entwicklung ständig Fortschritte. Jetzt sah ich mich diskutiert, und irgendwie war das viel angreifender, als ich es mir je hatte träumen lassen. Es quälte mich, verwirrte mich, flösste mir ein seltsames Gefühl der Schuld und Verantwortung ein. Ich war ein junger amerikanischer Schriftsteller, und man setzte Hoffnungen in meine Zukunft und sorgte sich, was ich tun würde, ob ich es zu irgend etwas bringen würde oder zu gar nichts. Würden die Fehler, die man an meinem Werk gefunden hatte, sich verschlimmern oder überwand ich sie? War ich nur ein Komet? Würde ich mich durchsetzen? Was würde aus mir werden?
Ich quälte mich damit. Ich ging nachts nach Hause, sah mich in meinem Zimmer um, sah die vom Morgen her noch immer ungespülte Kaffeetasse, die Bücher, die auf dem Boden lagen und das Hemd, das noch dort lag, wo ich es die Nacht zuvor hingeworfen hatte, und grosse Manuskriptstapel. Das alles erschien mir so gewohnt und vertraut-unordentlich, und dann dachte ich daran, dass ich nun «ein junger amerikanischer Schriftsteller» sei, dass ich irgendwie Hochstapelei an meinen Lesern verübte und an meinen Kritikern, weil mein Hemd so aussah und meine Bücher und mein Bett – nicht etwa – verstehen Sie bitte – weil sie in gewohnter, vertrauter Unordnung waren, sondern einfach, weil sie so aussahen, wie sie aussahen. Aber nun begann etwas anderes in meinem Bewusstsein zu bohren.
Die Kritiker begannen, sich nach meinem zweiten Buch zu erkundigen und so musste ich nun auch über das zweite nachdenken. Ich hatte immer über das zweite nachdenken wollen und über das zweiunddreissigste und das zweiundfünfzigste. Ich war sicher gewesen, dass ich hundert Bücher in mir hatte, dass sie alle gut sein würden, dass jedes von ihnen mich berühmt machen würde. Aber von diesen seltsamen und aufschreckenden Bränden wilder Hoffnungen und überschäumender Gewissheiten blieben nur nackte Tatsachen übrig. Jetzt, da ich tatsächlich ein Buch geschrieben hatte, und die Leser und Kritiker, die es gelesen hatten, auf ein zweites warteten, stand ich effektiv vor dem Problem, nicht so, wie ich es befürchtet hatte, einfach kalt und hart stand es vor mir wie eine Mauer. Ich war ein Schriftsteller und hatte das Leben eines Schriftstellers zu dem meinen gemacht; es gab kein Zurück mehr; ich musste vorwärts. Was konnte ich tun? Nach dem ersten Buch hatte einfach ein zweites zu kommen. Wovon sollte das zweite Buch handeln? Woher sollte ich es nehmen?
Diese unausweichliche Tatsache quälte mich zunächst nicht einmal so sehr, aber sie bedrückte mich mehr und mehr. Ich war zunächst mit vielen anderen Sachen befasst, die mit der Veröffentlichung des ersten Buches zusammenhingen, und die ich vorher nicht voraussehen konnte. Erstens hatte ich etwas nicht vorausgesehen, das jedem deutlich wird, wenn er ein Buch geschrieben hat. Etwas, das er nicht voraussehen kann, bis er es geschrieben hat. Man schreibt ein Buch nicht, um es in der Erinnerung zu behalten, sondern um es zu vergessen. Das war jetzt evident geworden. Sobald das Buch in Druck gegangen war, fing ich an, es zu vergessen, ich wollte es vergessen, ich wollte nicht, dass man mit mir darüber sprach oder mich darüber ausfragte. Ich wollte einfach allein bleiben und damit fertig sein. Und doch ersehnte ich verzweifelt Erfolg für mein Buch. Ich wünschte mir, dass die Welt es achte und ehre, – ich wünschte mir, kurz gesagt, ein erfolgreicher und berühmter Mann zu werden und dabei das gleiche Privatleben zu führen wie immer und meinen Ruhm und meinen Erfolg nicht erörtert zu sehen.
Aus diesem Problem entwickelte sich wiederum eine schmerzliche und schwierige Situation. Ich hatte mein Buch mehr oder weniger unmittelbar aus meiner eigenen Lebenserfahrung geschrieben und darüber hinaus wohl, wie ich jetzt glaube, mit einer gewissen nackten, geistigen Intensität, wie sie gewöhnlich den frühen Werken junger Schriftsteller anhaftet. Auf jeden Fall kann ich ehrlich sagen, dass ich nicht voraussah, was sich ereignen würde. Ich war nicht nur von der Art des Echos überrascht, das mein Buch bei der Kritik und der Öffentlichkeit fand, vielmehr überraschte mich das Echo, das es in meiner Geburtsstadt fand. Ich hatte gedacht, dass in dieser Stadt vielleicht hundert Leute mein Buch lesen würden. Aber wenn es neben der Negerbevölkerung, den Blinden und den tatsächlichen Analphabeten wirklich hundert gegeben haben sollte, die es nicht lasen, so weiss ich nicht, wer sie gewesen sein könnten. Monatelang kochte die Stadt vor Wut, wie ich es nicht für möglich gehalten hatte. Das Buch wurde von der Kanzel aus durch die Pfarrer der führenden Kirchen angeprangert. Männer versammelten sich an Strassenecken um es zu verdammen. Wochenlang waren die Frauenvereine, Bridgeclubs, Tees, Empfänge, literarischen Vereine, war das ganze dichte Gewebe des Kleinstadtlebens erfüllt von wütendem Geheul. Ich erhielt anonyme Briefe der gemeinsten Art und solche, in denen man mir androhte, dass man mich umbringen würde, wenn ich es wagen sollte, nach Hause zu kommen. Andere waren einfach nur obszön. Eine ehrenwerte alte Dame, die ich mein ganzes Leben lang gut gekannt hatte, schrieb mir, dass sie, obwohl sie nie eine Freundin der Lynchjustiz gewesen sei, nichts unternehmen würde, wenn die Menge meinen «grossen, unförmigen Kadaver» über den Stadtplatz schleife. Sie unterrichtete mich ferner davon, dass meine Mutter sich «weiss wie ein Gespenst» zu Bett gelegt habe und sich «nie wieder davon erheben werde».
Es gab viele andere giftige Angriffe aus meiner Heimatstadt, und zum ersten Mal wurde mir eine Lektion zuteil, die jeder junge Schriftsteller zu lernen hat. Die Erfahrung von der nackten, versengenden Kraft des Gedruckten. Zu jener Zeit befand ich mich in einer bestürzenden und fast überwältigenden Situation. In meine Freude über den Erfolg meines Buches mischte sich der bittere Kummer darüber, wie es in meiner Heimatstadt aufgenommen wurde. Und doch, glaube ich, lehrte mich auch diese Erfahrung etwas. Zum erstenmal war ich gezwungen, folgendes Problem genauestens zu bedenken: woher nimmt der Künstler sein Material? Wie verwendet er das Material richtig und in wie weit muss seine Freiheit im Gebrauch dieses Materials von seinem Verantwortungsbewusstsein der Gesellschaft gegenüber, der er angehört, kontrolliert werden? Das ist ein schwieriges Problem, und ich bin ihm noch keineswegs auf den Grund gekommen. Vielleicht werde ich das nie. Aber als Resultat all des Kummers, den ich in jener Zeit durchlitt, und den andere vielleicht wegen mir durchlitten, habe ich viel darüber nachgedacht und bin zu bestimmten Schlüssen gekommen.
Mein Buch war das, was man in Allgemeinen wohl als autobiographischen Roman zu bezeichnen pflegt. Im Vorwort meines Buches protestierte ich gegen diese Bezeichnung mit der Begründung, dass jedes ernstzunehmende Kunstwerk notwendigerweise autobiographischen Charakter haben müsse, und dass kaum autobiographischere Werke geschrieben worden seien als etwa Gullivers Reisen. Ich fügte hinzu, dass Doktor Johnson einmal äusserte, dass man eine halbe Bibliothek in ein einziges Buch verwandeln könne, und dass auf ähnliche Weise ein Romancier die Hälfte seiner Gestalten seiner Heimatstadt zu einer einzigen Figur in seinem Roman umformen könne. Dennoch waren die Menschen meiner Heimatstadt nicht zu überzeugen oder zu besänftigen, und der Vorwurf des Autobiographischen wurde gegen mich auch von vielen anderen Seiten erhoben.
Ich bin, wie schon gesagt, der Überzeugung, dass jede ernsthafte künstlerische Arbeit im Grunde autobiographisch sein muss, und dass man das Material und die Erfahrung seines eigenen Lebens verwenden muss, wenn man irgendetwas von bleibendem Wert schaffen will. Aber ich glaube jetzt auch, dass der junge Schriftsteller oft ahnungslos Lebensmaterial benutzt, das vielleicht zu nackt und zu direkt für die Zwecke eines Kunstwerks ist. Der junge Schriftsteller übersieht im allgemeinen die Grenzen zwischen Aktualität und Realität. Unbewusst neigt er dazu, ein Ereignis genau so zu beschreiben, wie es sich wirklich zugetragen hat, und vom künstlerischen Standpunkt aus ist das, wie ich jetzt beurteilen kann, falsch. Zum Beispiel ist es nicht wichtig, festzuhalten, dass eine schöne, leichtlebige Frau im Jahre 1907 aus dem Staate Kentucky kam. Ebenso gut könnte sie aus Idaho oder Texas stammen. Das einzig Wichtige ist, dass man Charakter und Eigenschaften der schönen, leichtlebigen Frau so gut wie irgend möglich kennzeichnet. Aber der junge Schriftsteller, gefesselt an Tatsächliches, geknebelt von der eigenen Erfahrungsarmut und befangen in Unreife wird vermutlich argumentieren: «man muss sie aus Kentucky kommen lassen, weil sie tatsächlich von dort stammte.»
Trotzdem ist für einen schöpferischen Menschen die buchstäbliche Umsetzung seiner eigenen Erfahrung unmöglich. Alles in einem Kunstwerk wird verwandelt und umgesetzt durch die Persönlichkeit des Künstlers selbst. Und was mein erstes Buch angeht, so ist, ehrlich gesagt, nicht eine einzige Stelle darin, die tatsachengetreu wäre. Das führt zu einer weiteren merkwürdigen schriftstellerischen Erfahrung. Obschon mein Buch also nicht tatsachengetreu war, folgte es doch genau den allgemeinen Erfahrungen der Menschen meiner Stadt und, wie ich hoffe, aller lebenden Menschen. Die beste Art, das deutlich zu machen: Es war so, als sei ich ein Bildhauer, der ein bestimmtes Tonmaterial gefunden hatte, das er nun formte. Jetzt konnte ein Bauer, der den benachbarten Fundort des Tons kannte, vorbeikommen und den Bildhauer bei der Arbeit sehen und zu ihm sagen: «Ich kenne den Acker, von dem du den Ton hergeholt hast.» Aber es wäre unrecht, wenn er etwa gesagt hätte: «Das Bildwerk kenne ich auch.» Was nun in meiner Heimatstadt vor sich ging, war – wie ich vermute – dies: man sah den Ton und war unverzüglich davon überzeugt, dass man auch das Bildnis erkannte, und das Resultat dieses Missverständnisses war so schmerzlich und verrückt, dass es ganz unglaublich klingt, wenn ich darüber berichte. Ich musste erfahren, dass mir Leute aus meiner Heimatstadt versicherten, sie erinnerten sich nicht nur an Ereignisse und Charaktere aus meinem ersten Buch, die vielleicht tatsächlich in der Wirklichkeit wurzelten, sondern sie behaupteten auch, sich an Ereignisse zu erinnern, die, soweit ich weiss, keinerlei Vorbilder in der Welt der Tatsachen hatten. Zum Beispiel gab es in meinem Buch eine Szene, in der ein Steinmetz einer stadtbekannten Frau einen Marmorengel verkauft, der ihm lange Jahre viel bedeutet hatte. Soviel ich weiss, gab es für diese Szene keinerlei Anhaltspunkte in der Wirklichkeit, und doch versicherten mir verschiedene Leute später, sich nicht nur genau des Vorfalls zu erinnern, sondern auch selbst dabei gewesen zu sein. Damit war die Geschichte aber noch nicht zu Ende. Ich hörte, dass eine der Zeitungen einen Reporter und einen Fotographen auf den Friedhof schickte und eine Fotographie veröffentlichte mit dem Bemerken, eben dieser Engel sei der berühmte Engel, der so lange Jahre im Hof des betreffenden Steinmetzen gestanden und schliesslich meinem Buch den Titel gegeben habe. Unglücklicherweise hatte ich zuvor weder diesen Engel gesehen noch davon gehört, dass dieser Engel tatsächlich auf dem Grab einer bekannten Methodistin stand, die vor ein paar Jahren gestorben war. Ihre beleidigte Familie schrieb unverzüglich an die Zeitung, man möge diese Angelegenheit berichtigen, denn ihre Mutter stände in keiner Weise irgendwie in Beziehung mit dem infamen Buch oder dem infamen Engel, der dem infamen Buch seinen Namen gegeben habe. Ähnlicher Art waren die unvorhergesehenen Widerstände, denen ich mich nach der Veröffentlichung meines Buches gegenüber sah.
Monate verstrichen. Ich hatte Erfolg. Der Weg war gebahnt. Für mich gab es nur eins: Arbeit. Und dabei verbrachte ich meine Zeit damit, mich in Kummer, Ärger und nutzlosem Zorn über die Aufnahme, die mein Buch in meiner Heimatstadt gefunden hatte, zu verzehren oder mich nutzlosen Träumereien hinzugeben, weil Kritiker und Leser mein Buch lobten, oder verzweifelt und bitter zu sein, weil sie es verspotteten. Zum erstenmal erfuhr ich, dass ein Künstler nicht nur leben und schwitzen, lieben und leiden und geniessen muss wie andere Menschen auch, sondern dass ein Künstler auch wie andere Menschen arbeiten muss, dass er vor allem arbeiten muss, während das Leben selbst weitergeht. Das scheint eine einfache und banale Feststellung, aber ich begriff sie nur schwer und in einem der schlimmsten Augenblicke meines Lebens. Es gibt kein künstlerisches Vakuum; es gibt keinen Zeitpunkt, in dem der Künstler in einer idealen Atmosphäre arbeiten könnte, frei von Kampf, wie ihn alle Menschen durchzumachen haben. Sollte der Künstler wirklich eine solche Zeit erleben, so darf er sie doch nie für sich erhoffen, darf sie nicht in alle Ewigkeit suchen.
Auf jeden Fall wurde, während mein Leben und meine Energie sich derart in einer Vorhölle der Gefühle verbrauchten, die mein erstes Buch verursacht hatte, so gut wie nichts am zweiten getan. Und nun stand ich einem anderen fundamentalen Problem gegenüber, das jeder junge Schriftsteller lösen muss, wenn er weiterkommen will. Wie bringt er es überhaupt zustande, etwas zu schreiben? Wie lange soll er arbeiten? Und wie oft? Welche Methode, wenn es überhaupt eine bestimmte gibt, soll er bei seiner Arbeit anwenden? Ich sah mich plötzlich der Notwendigkeit gegenüber, Tag für Tag zu arbeiten. Und so simpel diese Entdeckung jedem erscheinen mag, so war ich doch nicht auf sie vorbereitet. Ein junger Schriftsteller ohne Publikum fühlt die Notwendigkeit, die Zeitbedrängtheit nicht wie ein Schriftsteller, der schon veröffentlicht hat und der jetzt an einen Arbeitsplan, an Verlegertermine und an die Fertigstellung seines nächsten Buches denken muss.
Plötzlich und mit einem Gefühl entschiedenen Erschreckens wurde mir klar, dass ich seit dem Erscheinen meines ersten Buches ein halbes Jahr hatte verstreichen lassen, in dem ich, von einer Unzahl Notizen und Bruchstücken abgesehen, nichts getan hatte. Mittlerweile aber war das Buch langsam aber stetig gekauft worden, und bereits im Februar 1930, fünf Monate nach seinem Erscheinen, war es mir möglich geworden, aus dem Lehrkörper der New York University auszutreten und meine ganze Zeit der Vorbereitung eines zweiten Buches zu widmen. Im Frühling hatte ich dazu das Glück, dass mir die Guggenheim Fellowship zuerkannt wurde; der Geldpreis setzte mich instand, ein Jahr im Ausland zu leben und zu arbeiten. Und dementsprechend ging ich Anfang Mai wieder auf Reisen.
In Paris war ich zwei Monate, bis Mitte Juli, und obschon ich mich nun zwang, vier bis fünf Stunden täglich zu arbeiten, so waren doch meine Bemühungen um eine Komposition-im-Grossen ergebnislos. Was ich hinbrachte, war wirr und brüchig; nichts hatte das Formgefüge und die Einheitlichkeit eines Buches. Wie immer berückte mich das Leben der grossen Weltstadt, aber es weckte auch die alten, nackten Gefühle der Heimatlosigkeit, Wurzellosigkeit und des Alleinseins in mir, ganz so, wie ich sie in Paris immer empfunden habe. Für mich, wie ich erkannte, war Paris – und das hat sich nie geändert – die heimwehbehaftetste Stadt der Welt. Paris ist der Ort, wo ich mir am meisten wie ein Ausländer, wie ein Fremder vorgekommen bin, und so sehr mich gewiss die Stadt immer wieder bezaubert und verführt, gut arbeiten konnte ich dort nie. Und an dieser Stelle möchte ich etwas zum Thema Arbeitsort sagen, weil das wieder so ein Problem ist, das jungen Schriftstellern viel zu schaffen macht und meines Erachtens unnötigerweise Zweifel, Ungewissheit und Verwirrung stiftet.
Das ganze Suchen und die ganze Sucht nach dem rechten Arbeitsort hatte ich damals bereits durchgemacht; das war nun beinah schon erledigt für mich. Mein erster Aufenthalt in Paris lag sechs Jahre zurück. Damals war ich, ein junger Mensch von vierundzwanzig Jahren, nach Paris gekommen, vollgepfropft und ganz erfüllt von jenem romantischen Glauben, jener romantischen Närrischkeit, die so mancher junge Mensch damals dem Erlebnis Paris entgegenbrachte. Jenes erste Mal war ich, so hatte ich mir gesagt, nach Paris gekommen, um zu arbeiten, und zu jener Zeit hatte der zauberische Name Paris einen solchen Glanz, dass ich dachte, man könne dort tatsächlich viel besser arbeiten als an irgendeinem andern Ort auf Erden. Dort wehte ja, dachte ich, die kraftgeschwängerte, zu Kunsttaten freudig anregende Luft; dort musste ja, dachte ich, der Künstler auf alle Fälle ein glückseligeres und schicksalschöneres Leben finden, als es ihm in Amerika zu finden je möglich ist. Und nun war ich dahintergekommen und hatte eingesehen, dass das falsch ist. Ich war dahintergekommen und sah nun klar und deutlich, dass das, was die meisten von uns jungen Amerikanern in jenen Jahren suchten, als wir unser eigenes Land flohen und im Ausland Zuflucht suchten, in Wirklichkeit gar nicht der Arbeitsort war, sondern ein Ort, wo wir dem Arbeiten entgehen könnten, dass das, vor dem wir in jenen Jahren flohen, in Wirklichkeit gar nicht jene Spiesserei, jener Materialismus und jene Hässlichkeit im amerikanischen Leben waren, vor denen wir doch zu fliehen behaupteten, sondern die Notwendigkeit, ernstlich mit uns selbst handgemein zu werden, und die Notwendigkeit, in uns selber irgendwie das Zeug zum Leben zu finden, aus unserm eigenen Leben und aus unsern eigenen Erlebnissen den Gehalt unsrer Kunst zu ziehen, eben jenen Gehalt, den jeder, der je etwas Lebendiges schreibt, aus sich selbst ziehen muss, jenen Gehalt, ohne den er verloren ist.
Der Arbeitsort! Ja, der Arbeitsort – zugegeben! – war Paris, war – zugegeben! – Spanien, war – zugegeben! – in Italien und auf Capri und auf Majorca, aber – grosser Gott! – er war auch Keokuk und Portland in Maine und Denver in Kolorado und Yancey County in Nord Carolina, und er war auch immer dort, wo wir gerade weilten oder wohnten, wenn nur da und dann die Arbeit in uns war! Und wäre das alles gewesen, was ich auf meinen Europareisen lernte, hätte ich meine ganze Wanderschaft als Kaufpreis gegeben einzig für diese schlichte Lehre, dann wäre die Lehre doch des Kaufpreises wert gewesen – aber diese Lehre war ja nicht alles.
Ich hatte ausfindig gemacht, wie einer sein eigenes Land entdecken kann, wenn er es verlässt; wie ein Amerikaner Amerika finden kann, wenn er es in der Fremde in seinem Herzen, seinem Gedächtnis, seinem Geist findet.
Ich glaube, ich kann behaupten, dass ich Amerika während meiner Wanderjahre im Ausland entdeckte, weil ich Amerika so sehr brauche. Die Entdeckung, dieser ungeheure Gewinn, schien unmittelbar aus dem Gefühl des Verlorenhabens zu kommen. Ich war nun schon fünfmal in Europa gewesen. Jedesmal war ich mit Begeisterung hingefahren und war irrsinnig begierig darauf gewesen, Europa zu sehen oder wiederzusehen, und jedesmal – wie, wo und auf welche Weise es geschah, weiss ich nicht – hatte ich das bittere Weh der Heimatlosigkeit verspürt, eine verzweifelte Sehnsucht nach Amerika, ein überwältigendes Verlangen, heimzukehren.
Mich dünkt, während jener Sommermonate in Paris verspürte ich dieses grosse Heimweh stärker als je zuvor, und ich glaube wirklich, dass ich dieser Gemütsregung, diesem dauernden und fast unerträglichen Andrang der Erinnerung und des Verlangens, den Stoff und das Gefüge verdanke, die ich nun schreibe.
Die Art und Eigenheit meines Gedächtnisses ist durch einen, wie ich glaube, mehr als gewöhnlichen Heftigkeitsgrad bewahrter Sinneseindrücke gekennzeichnet, durch ein Vermögen, dinghaft-lebendig die Gerüchte, Laute, Farben, Formen und stofflich Tastbares wieder aufzurufen. Und nun war mein Gedächtnis Tag und Nacht an der Arbeit, und zwar in einer Weise, dass ich es zunächst weder bändigen noch zügeln konnte, und so, dass ohne Geheiss Zuvorerlebtes schwärmend und grell durch mein Bewusstsein hinzog, ein ganzer Strom mit den Millionen Formen und Gehalten jenes Lebens, das ich verlassen hatte, jenes Lebens, das mein eigen war, nämlich Amerika. So pflegte ich zum Beispiel auf einer Terrasse vor einem Kaffeehaus zu sitzen und das Glitzern und Spielen des Lebens auf der Avenue de l'Opéra zu beobachten, und plötzlich fiel mir das Eisengeländer ein, das am Boardwalk in Atlantic City entlang gelegt ist. Ich konnte augenblicklich-inständig dieses Eisengeländer sehen, ich sah es, genau wie es war, die schweren Eisenröhren, die so roh und galvanisiert aussehen, die Art, wie die Gelenke ineinandergefügt sind. Das alles war so lebhaft und dinglich, dass ich in meiner Hand spürte, wie sich das Geländer anfasst, dass ich die genauen Verhältnisse, die Grösse, das Gewicht, die Form wusste. Und plötzlich war mir klar, dass ich in Europa nie ein Geländer gesehen hatte, das so aussah. Und diese äusserst vertraute, äusserst gewöhnliche Sache war mir plötzlich offenbar mit all der Verwunderung, mit der wir etwas entdecken, das wir schon immer gesehen und doch nie erkannt haben. Ein andermal war es etwa eine Brücke, das Aussehen einer alten eisernen Brücke, die über einen Strom in Amerika führt, der Laut, den ein Zug macht, wenn er über diese Brücke fährt, der Speichenschlag und der hohle Rumpeldonner auf den Schienenschwellen, der Anblick der verschlammten Ufer, die träge, dicke, gelbe Woge im Strom, ein breiter, flacher Kahn, halbvoll mit Wasser, am schlammigen Ufer angepflockt. Oder es war etwa der einsamste und heimsucherischste von allen Lauten, die ich kenne, der Laut eines Milchwagens, der im ersten Morgengrauen auf einer Strasse in Amerika fährt, das langsame, einsame Klappern der Hufe auf dem Pflaster, das Geklinker der Flaschen, das plötzliche Scheppern einer alten, verbeulten Milchkanne, die flinken, eiligen Schritte des Milchmanns, dann das leise Wort, das er zu seinem Gaul spricht, und dann das grosse, langsame Hufklappern, das in der Stille verhallt, und dann die Leisigkeit und der Vogelsang, der auf der Strasse wiedererwacht. Oder es war etwa ein kleiner, holzgezimmerter Schuppen, der draussen in der Landschaft, zwei Meilen Wegs vor meiner Vaterstadt steht, ein Wartehäuschen, in dem Leute auf die Trambahn zu warten pflegen, und ich konnte wieder den stumpfen, eingeschlagenen Ton der alten grünen Ölfarbe sehen, mit der das Holz gestrichen ist, konnte die Initialen sehen und ertasten, die drinnen im Wartehäuschen auf Bohlen und Bänken mit Taschenmessern eingeschnitten worden sind, und jenen warmen, schwiemeligen Geruch riechen, der so harzig, so erregend ist, so geladen mit der fremden und namenlosen Eindringlichkeit einer unbekannten Freude, einer Verheissung, die gerade wahr werden soll, und den Trambahnwagen hören, wie er angesaust kam und bremste und hielt, den Augenblick brütender, schläfernder Stille, das heisse Gepoch und das einschläfernde Gestichel um drei Uhr nachmittags, und das Gras und den heissen, süssen Klee riechen und dann das jähe Gefühl von Verlassenheit, Alleinsein und Abschied empfinden, wenn der Strassenbahnwagen weitergefahren und nichts mehr da war ausser wiederum dem heissen, schläfernden, die Ohren stichelnden Laut von drei Uhr nachmittags.
Oder ein andermal, da war es etwa eine Strasse in Amerika mit ihren tausend hässlichen, durcheinandergeschmissenen Architekturen, etwa Montague Street oder Fulton Street in Brooklyn oder Eleventh Street in New York oder irgendeine von den Strassen, in denen ich einmal gewohnt hatte. So pflegte ich plötzlich das hagere und wüste Pfeilergerüst der Hochbahnführung in der Fulton Street zu sehen; ich sah, wie das Licht in staubigen, gebrochenen Schäften durch die Streben und Eisenrippen fiel, mir fiel jene alte, traute Rostfarbe ein, dieser unvergleichliche Rostton, der so viele Dinge in Amerika beschlägt. Und das war doch auch wieder wie etwas, das ich millionenmal gesehen, mit dem ich mein Leben lang gelebt hatte.
Da sass ich also und blickte auf die Avenue de l'Opéra, und das Herz im Leib tat mir weh von der Fülle dieses ganzen Gedenkens, vom Verlangen, all dieses Erinnerte wiederzusehen, irgendwie eine Sprache für es zu finden, das Wort, das es nach Form und Farbe und Beschaffenheit so aussage, wie wir es alle erlebt und gekannt haben. Und als ich dies verstand, ward mir klar, dass ich für mich selbst die Zunge finden müsse, um von dem zu sprechen, was ich zwar wusste, aber nicht aussagen konnte.
Und vom Augenblick dieser Entdeckung an waren meinem. Leben Linie und Zweck gegeben. Das Ziel, auf das sich fortan mein ganzes Streben und Wollen richten, dem sich mein ganzes Leben entgegenbewegen, für das ich mein ganzes Talent einsetzen sollte, dieses Ziel war mir somit bestimmt worden. Mir war, als hätte ich ein ganzes Universum von chemischen Elementen entdeckt und gerade angefangen, gewisse Beziehungen zwischen diesen Elementen zu erkennen, hätte aber noch keineswegs damit begonnen, die ganzen Serien dieser Elemente zu harmonischer und zusammenhängender Verbundenheit zu organisieren. Meine Bemühungen nach diesem Zeitpunkt lassen sich, wie mich dünkt, bezeichnen als das Sichbemühen um die vollkommene Organisierung dieser Elemente, um die endgültige, zusammenhängende Verbundenheit dieser Elemente, um die Entdeckung und Wahrmachung, die Gliederung und Verdeutlichung dieser zu Verbundenheit organisierten Elemente im Sprachlichen. Ich weiss, dass mir das bis jetzt noch nicht gelungen ist, aber ich glaube, recht gründlich erkannt zu haben, worauf mein Misslingen zurückzuführen ist, und natürlich ist es meine höchste und ernsteste Hoffnung, dass die Zeit kommen wird, wann es mir nicht mehr misslingen soll.
Jedenfalls, dass ich von diesem Zeitpunkt an im allgemeinen vorankam mit den drei Büchern, die ich in den nächsten viereinhalb Jahren schreiben sollte, das dürfte sich wohl mit einiger Richtigkeit in etwa dieser Weise schildern lassen. Dieses Vorwärtskommen war zunächst ein Sich-Herausschaffen aus Strudeln und Wirbeln, aus einem schöpferischen Chaos, und dann ein langsames, mit Irren und Verwirrung und unendlicher Plackerei bezahltes Fortschreiten zur Klärung und der Verdeutlichung eines geordneten und formalen Gefüges. Mir ist aus jenem Jahr – ich spreche von dem Jahr, das ich in Europa verbrachte, dem Jahr, in dem das Zeug zu jenen Büchern zum erstenmal verdeutlichte Form anzunehmen begann – ein aussergewöhnliches Wahrbild in Erinnerung geblieben. Mir war als hätte ich die ganze Zeit eine grosse, schwarze Wolke in mir, die ständig anschwoll und sich dichter zusammenzog, und diese Wolke wäre mit Elektrizität geladen, schwanger, aufgetrieben, von einer gewissermassen tornadohaften Gewalt, die nicht mehr lange zurückzuhalten wäre, so, dass der Augenblick schnell heranrückte, in dem die Wolke bersten müsse. Nun, alles was ich sagen kann, ist: Der Sturm brach los. Er brach los noch in jenem Sommer, als ich in der Schweiz weilte. Es goss in Strömen, und das Gewitter ist jetzt noch nicht vorüber.
Ich kann eigentlich wirklich nicht sagen, dass ich das Buch geschrieben habe. Es war etwas, das Besitz von mir nahm, das mich besass, und, bevor ich damit fertig war – das heisst, bevor ich schliesslich den ersten abgeschlossenen Teil beendet hatte – schien es mir, als habe das Buch sich selbst geschrieben. Es war tatsächlich, als ob diese grosse, schwarze Sturmwolke, von der ich sprach, sich geöffnet hatte, und als ob – inmitten von Blitzen – aus ihren Tiefen eine nicht zu bändigende Sturmflut hervorschoss. Auf dieser Sturzflut wurde alles dahingeschwemmt und fortgetragen wie auf einem reissenden Fluss. Und auch ich wurde mitgerissen.
Zunächst war nichts da, was Roman genannt werden könnte. Ich schrieb von der Nacht und der Dunkelheit in Amerika und von den Gesichtern der Schläfer in zehntausend kleinen Städtchen und von den Flutgezeiten des Schlafes und davon, wie die Flüsse immerdar in der Dunkelheit fliessen. Ich schrieb vom zischenden Geschwelg der Brandungen, die an Küstenstrecken nagen, die zehntausend Meilen messen, und davon, wie der Mond auf die Wildnis grellte und der Katze kaltes Auge mit Gelbglut füllte. Ich schrieb von Tod und Schlaf und von jenem Fabelwesen des Lebens, den wir «Die Stadt» nennen. Ich schrieb vom Oktober, von grossen Zügen, die durch die Nacht donnerten, von Schiffen und Bahnhöfen am Morgen, von Menschen in Häfen und dem Fahrverkehr der Schiffe.
Die Zeit vom Oktober bis zum März, also den ganzen Winter jenes Jahres, verbrachte ich in England, und hier – vielleicht ist es der anheimelnden Trautheit des englischen Lebens zuzuschreiben, jenem Gefühl von Ruhe und Ordnung, das einem so ein Leben schenken kann – kam ich mit meiner Arbeit wieder einen Schritt weiter aus dem schöpferischen Flutgezeitenchaos heraus. Die Arbeit fing nun an, die ersten Linien einer planvoll zeichnerischen Führung anzunehmen. Diese Linienführungen waren zwar wirr und gebrochen, und manchmal waren sie überhaupt noch nicht da, aber es war in der Tat so, dass ich nun endlich das Gefühl hatte, an einem grossen Marmorblock zu arbeiten und eine Gestalt herauszuhauen, die vorläufig ausser dem Bildhauer wohl niemand bestimmen könnte, die aber mehr und mehr mit den sehnigen Linienzügen der Komposition zutage träte.
Von allem Anfang an bestand eine Tatsache, die mich über alle meine Rückfälle in die Hoffnungslosigkeit hinweg in meinem Glauben, in meiner Überzeugtheit bestärkte und bestätigte – nämlich der Grundgedanke, das zentrale Thema, um das sich mein Buch drehen sollte, blieb unverrückt. Der Grundgedanke war dieser: das tiefste Suchen im Leben, wie mir schien, das, was auf die eine oder andre Weise allem Leben mitten eingesetzt war, war das Suchen des Menschen nach einem Vater, nicht bloss dem Vater seines Fleisches, nicht bloss dem verlorenen Vater seiner Jugend, sondern nach einem Wahrbild der Stärke und Weisheit, wie es ausserhalb der Menschennot und erhaben über dem Menschenhunger stehe, dem sich der Mensch durch den Glauben und die Kraft seines eignen Lebens einhellig verbinden könne.
Und doch war ich noch weit entfernt von dem vollendeten Buch – wie weit, konnte ich damals nicht ahnen. Aber es bedurfte weiterer vier Jahre, ehe das erste einer Reihe von Büchern, die ich damit in Angriff genommen hatte, druckfertig war, und hätte ich geahnt, dass diese vier Jahre angefüllt sein würden mit hunderten von Leben, mit Geburt, Tod und Verzweiflung, Niederlage und Triumph und der völligen Erschöpfung, der nackten Ermattung, dann weiss ich nicht, ob ich die Kraft aufgebracht hätte, weiter zu arbeiten. Aber noch immer nährte mich der überschwengliche Optimismus der Jugend. Mein Temperament, das in mancher Hinsicht zum Pessimismus neigt, ist, was Zeit angeht, im allgemeinen immer optimistisch gewesen. Obwohl mehr als ein Jahr vergangen war, und ich nichts als grosse Gesänge über Tod und Schlaf geschrieben, die verschiedensten Notizen gemacht und hier und da erste ungefähre Kompositionsskizzen angelegt hatte, vertraute ich doch darauf, dass im Frühling oder Herbst des nächsten Jahres mein Buch irgendwie wunderbarerweise fertig sein würde.
Soweit ich es mit einiger Genauigkeit zu schildern imstand bin, vollzog sich mein Vorankommen mit der Arbeit während jenes Winters in England nicht nach Anlage und Werkplan, sondern in der vorerwähnten Weise – ich schrieb ein paar von den Stücken, von denen ich wusste, dass sie in das Buch hineinmüssten. Mittlerweile aber ging die ganze Zeit über etwas wirklich ganz anderes in meinem ganzen schöpferischen Bewusstsein vor, und ohne allerdings wissentlich gewahr zu werden, was ich da täte, tat ich etwas, was ich schon ständig getan, seit ich mir im Sommer zuvor in Paris mein Amerika entdeckt hatte: Tag um Tag und Monat um Monat erforschte ich eifrig besessen das gesamte Stoffgebiet meines menschlichen und schriftstellerischen Vermögens. Vorsichtig geschätzt, hat mich diese Erforschung mindestens zweieinhalb Jahre gekostet. Sie dauert jetzt noch an, wenngleich nicht mit demselben ausschliesslichen, vollauf beanspruchenden Einsatz, denn das Werk, das sie mir nach unendlicher Vergeudung und Plackerei bestimmen half, das Werk, zu dem sie mich führte, dieses Werk hat mittlerweile einen Stand von so endgültiger Bestimmtheit erlangt, dass die vordringliche Aufgabe der Fertigstellung nun meine Lebensenergie fordert, mein Daseinsinteresse besitzt.
Auf meine Person in jener Spanne meines Lebens trifft, dünkt mich, sinngemäss zu, was der alte Seemann im Gedicht dem Hochzeitsgast erzählt [Fußnote]. Sein Leib, sagt da der alte Seemann, krümme sich von einer schmerzlichen Seelennot, die ihn zwänge, mit dem Erzählen zu beginnen, und ihn erst dann wieder losliesse. Die Rolle des Hochzeitsgasts im Gedicht übernahmen in meinem Falle die grossen Kopierbücher, in die ich schrieb, und was ich diesen Kopierbüchern anvertraute, das würde, befürchte ich, einem Leser vollkommen zusammenhanglos und obendrein unverständlich wie chinesische Schriftzeichen vorkommen. Ich darf keineswegs hoffen, dass ich hier eine fassliche Vorstellung vom ganzen Umfang dieser Aufzeichnungen geben kann, denn ich habe mich beinah drei Jahre mit der Arbeit geplagt, und etwa anderthalb Millionen Wörter sind in diese Kopierbücher geschrieben worden. Da stand beinah alles und jedes, von riesigen, taumelhaften Listen der Gross- und Kleinstädte, Counties, Staaten und Länder, in denen ich gewesen war, bis zu peinlich gründlichen, verzweiflungsvoll beschwörerischen Beschreibungen des Fahrgestells, der Federn, Räder, Flanschen, Achsen, des Bremsgestängs, der Farbe, des Gewichts und der Beschaffenheit der Day-Coach eines amerikanischen Eisenbahnzugs. Da gab es Listen von den Zimmern und Häusern, in denen ich gewohnt oder in denen ich wenigstens eine Nacht geschlafen hatte, zusammen mit den genauesten und eindringlichsten Schilderungen jener Zimmer, die ich beschreiben konnte, ihre Grösse und Form, die Farbe und das Muster der Tapete, die Art, wie da ein Handtuch hing, ein Stuhl knarrte, ein Wasserplacken an der Decke aussah. Da gab es eine Unzahl Zusammenstellungen, Tabellen, Schemata, Kataloge, Aufzeichnungen, die ich hier nur unter der allgemeinen Überschrift «Menge und Zahl» klassifizieren kann. Wie hoch belief sich die Gesamteinwohnerzahl aller Länder Europas und Amerikas? In wievielen von diesen Ländern hatte ich irgendein Erlebnis gehabt, das mich persönlich anging und mir lebenswichtig war? Wieviel Leute hatte ich im Laufe meiner neunundzwanzig oder dreissig Lebensjahre zu Gesicht gekriegt? Wieviele von ihnen waren auf der Strasse an mir vorbeigegangen? Wieviele hatte ich in Zügen und Untergrundbahnen, wieviele in Theatern, wieviele bei Baseball- und Fussballspielen gesehen? Mit wievielen hatte ich etwas Lebenswichtiges und mein Verständnis Bereicherndes erlebt, sei es nun Freude, Schmerz, Ärger, Mitleid, Liebe oder schlichte, beiläufige, wenn auch noch so kurze Kameradschaft gewesen?
Ausserdem konnte man auf andere Abschnitte kommen, die so eine rätselhafte Überschrift wie «Wo nun?» trugen. Unter so einer Überschrift standen dann Kurzaufzeichnungen über Tausende von Sachen und Dingen, wie wir sie alle in unserem Leben im blitzhaften Nu bloss, im einen einzigen Augenblick nur erlebt haben, die uns im Erlebnisaugenblick vollkommen bedeutungslos zu sein scheinen und uns doch immerdar im Herz und Gemüt lebendig bleiben, die irgendwie trächtig sind von aller Freude und allem Kummer des Menschenloses, von denen wir deswegen irgendwie wissen, dass sie wichtiger als manche Sachen und Dinge von offensichtlicherer Bedeutung sind. «Wo nun?» Der Hall der Tritte eines Mannes, der kam und vorbeiging auf einer baumbestandenen Strasse in einer Sommernacht in einer kleinen Stadt drunten in den Südstaaten vor langer Zeit; die Stimme einer Frau, ihr plötzlich aufwallendes, leises und zärtliches Lachen; dann Stimmen, verhallende Tritte, Stille, das Rauschen des Laubes an den Bäumen. «Wo nun?» Zwei Züge, die einander auf einem kleinen Kleinstadtbahnhof begegneten und hielten in irgendeinem unbewussten Augenblick auf dem ungeheuren Leib des amerikanischen Kontinents; ein Mädchen im anderen Zug, das aufsah, durchs Fenster blickte und lächelte; ein andres Mädchen, das im Auto auf den Strassen von Norfolk vorüberfuhr; die Wintergäste in einem kleinen Boardinghouse drunten in den Südstaaten vor zwanzig Jahren; Miss Florrie Mangle, die Krankenpflegerin mit Diplom; Miss Jessie Rimmer, die Kassiererin in Redd's grosser Drogerie; Doktor Richards, der Hellseher; die Dompteuse im Zirkus, jenes hübsche Mädchen, das mit der Peitsche knallte und seinen Kopf in den Rachen des Löwen steckte, mit Johnny J. Jones Carnival and Combined Shows.
«Wo nun?» Es ging über die Grenzen des tatsächlichen Gedenkens hinaus. Es ging zurück bis ins entrückteste Tempelinnere der Kindheit dessen, der sich erinnerte, in die Zeit, ehe sein bewusstes Erinnern begonnen hatte, es ging darum, wie er die Sonne eines Tages gespürt zu haben dachte und Nachbar Peagrams Kuh gehört zu haben glaubte, als sie das Rauhgras, das am Zaun wuchs, rupfte, oder darum, wie er gehört zu haben glaubte, wie eines Mittags der Strassenbahnwagen auf dem Hügel oberhalb seines Vaterhauses hielt, wie Ernest Peagram, der zu Tisch heimkam, mit herzhafter Stimme mittäglich grüsste, wie der Strassenbahnwagen dann weiterfuhr und nicht mehr da war und dadurch eine plötzliche, grüngoldne, einsame Stille entstand, in die hinein eine eiserne Gartentür zugeschlagen wurde ... Und hier losch wie abgeblendet das Licht dieses verlorenen Tages aus. «Wo nun?» Der, der sich zu erinnern glaubt, kann sich weiter nichts aufrufen; er weiss nicht, ob das, was er sich aufrief, Tatsache oder Erfindung oder Beides-in-Einem ist. «Wo nun?» – Monat um Monat schrieb ich dergleichen in meine grossen Kopierbücher, nicht nur das fassbar Stoffliche, wie es das regelrechte Gedächtnis des Menschen bewahrt, sondern auch alle diese Sachen, von denen wir Menschen kaum zu denken wagen, dass wir uns ihrer erinnern, all das Gehusch und Geflacker und die heimsuchenden Lichter, die uns ohne Geheiss in unerwartetem Augenblicken übers Bewusstsein hinzucken; eine einst gehörte Stimme, ein Antlitz das entschwand, das Hereinfallen, Weiterrücken und Davonwandern der Sonnenstrahlen, das Gezettel eines Blattes an einem Zweig; ein Stein, ein Blatt, eine Tür.
Man mag einwenden, und dieser Einwand ist häufig von bestimmten Kritikern erhoben worden, dass solche Durchforschung, wie ich sie hier zu beschreiben versucht habe, eine Art wilden Rausches ist, dass in ihr ein geradezu wahnsinniger Hunger, die gesamte menschliche Erfahrung zu verschlingen, offenbar wird, der Versuch, mehr zu erfassen, mehr zu erfahren, als das Mass eines einzelnen Lebens fassen kann, oder als die Grenzen eines einzelnen Kunstwerks gestatten. Ich gebe gern zu, dass diese Kritik berechtigt ist. Ich glaube, ich sehe ebenso gut wie sonst jemand die drohenden Gefahren, die ein so wahnwitziges Verlangen mit sich bringt, den Schaden, den es einem an Leben und Werk zufügen kann. Aber da ich es nun einmal in mir trug, konnte ich es mir auch auf keine Art und Weise ausreden, ganz gleich, wie mächtig sich mein Verstand dagegen auflehnte. Es gab keine Art, damit fertig zu werden, als ihm mit dem Leben und nicht mit dem Verstand zu begegnen.
Es gehörte zu meinem Leben, jahrelang machte es überhaupt mein Leben aus, und die einzige Art, damit fertig zu werden, war: es auszuleben. Und das tat ich denn auch. Ich habe dieses Ziel zwar noch immer nicht erreicht, aber ich bin ihm näher gekommen als ich damals hoffen durfte. Heute glaube ich fest, dass die unbegrenzte Ausdehnung menschlicher Erfahrung für den Künstler nicht so wichtig ist wie die Tiefe und Intensität, mit der er sie durchlebt. Ausserdem weiss ich jetzt, dass es viel wichtiger ist, hundert lebende Menschen in New York gekannt zu haben, ihr Leben begriffen zu haben, auf den Grund ihres Wesens gedrungen zu sein, als an sieben Millionen Menschen auf der Strasse vorbeigegangen zu sein oder mit ihnen gesprochen zu haben. Und was ich über diese Durchforschung vor allem sagen möchte, die ich hier zu beschreiben versucht habe: So närrisch und verfehlt auch manches an ihr sein mag, die Summe der Erfahrung und ihre Wirkung war nicht vergebens oder masslos. Von meinem Gesichtspunkt aus wenigstens ist sie in ihrer umfassenden Bedeutung das einzig wirklich Wertvolle, was ich über meine Erfahrungen als Schriftsteller anderen Menschen vermitteln kann. Ich betrachte diese Erfahrung in ihrer Gesamtheit als äusserst wertvoll und nützlich, soweit sie mein bisheriges schriftstellerisches Leben angeht. Mit all ihrer Verschwendung, all ihren Irrtümern und Verwirrungen führte sie mich und näherte sie mich einer wirklichen Erkenntnis meiner Kraft, einer wahrhaftigen Abschätzung meiner Begabung in jener Zeit meines Lebens, und sie führte mich vor allem zu einem zwar noch unvollkommenen, eben beginnenden, aber lebendigen Verständnis der Ausdrucksmöglichkeiten, nach denen ich suche, der Sprache, die ich schreiben muss, wenn mein künstlerisches Leben sich entwickeln und wachsen soll, mehr jedenfalls als irgendetwas, das mir sonst widerfuhr. Ich weiss, dass die Tür noch nicht geöffnet ist. Ich weiss, dass die Zunge, die Sprache, die ich suche, noch nicht gefunden ist, aber ich glaube von ganzem Herzen, dass jeder Mensch für sich und auf seine Weise, jeder Mensch, der hoffen darf, etwas Lebendiges aus den Substanzen seines eigenen Lebens zu schaffen, seinen Weg finden muss, seine Sprache und seine Tür in sich selbst suchen muss, wie ich es getan habe.
Als ich im Frühling des Jahres 1931 nach Amerika zurückkehrte, hatte ich, obwohl drei- oder viertausend Worte an Material vorlagen, noch nichts in der Hand, das als Roman hätte bezeichnet oder veröffentlicht werden können. Fast anderthalb Jahre waren seit der Veröffentlichung meines ersten Buches verstrichen, und schon begannen die Leute jene wohlmeinende Frage zu stellen, die in den Folgejahren unerträglich in meine Ohren klang als der beissendste Spott: «Haben Sie Ihr nächstes Buch schon fertig?» «Wann wird es erscheinen?»
Damals war ich sicher, dass ein paar Monate konzentrierter Arbeit das Buch zustande bringen würden. Ich fand einen Ort, eine kleine Kellerwohnung im Assyrischen Viertel Süd-Brooklyns, und dort ging ich an die Arbeit. Aus dem Frühling wurde Sommer, aus dem Sommer Winter. Ich arbeitete hart. Tag für Tag, und doch war noch immer nichts entstanden, das Form und Geschlossenheit eines abgerundeten Werkes zeigte. Es wurde Oktober, und damit waren es zwei volle Jahre her, seit mein erstes Buch erschienen war. Und jetzt war ich zum erstenmal schuldbewusst, was die Veröffentlichung meines Buches anbetraf. Ich litt unter der vor mir fliehenden Zeit, unter nackter Verzweiflung, die in den nächsten drei Jahren immer peinigender und unerträglicher wurde. Zum ersten Mal sah ich ein, dass mein Unterfangen viel grösser war, als ich angenommen hatte. Ich hatte noch zur Zeit meiner Rückkehr aus Europa geglaubt, dass ich nur an einem Buch schriebe, das sich in den Grenzen von etwa zweihunderttausend Worten halten würde. Jetzt, da Szene auf Szene folgte, Gestalt auf Gestalt ins Leben trat, und mir das Verständnis für mein Material mehr und mehr aufging, entdeckte ich, dass es unmöglich war, das Buch, das ich mir vorgenommen hatte, in den Grenzen zu halten, die ich dafür abgesteckt hatte.
Diese ganze Zeit über sah ich meine Bemühungen dauernd vereitelt durch ein gewisses Zeitelement im Buch, oder vielmehr durch eine Zeitbezüglichkeit, die nicht zu umgehen war und die ich nun verzweifelt in die Darstellung einzubauen suchte. In dem Stoff, den ich behandelte, waren von vornherein drei Zeitelemente gegeben. Das erste und offensichtlichste war das Element tatsächlicher, gegenwärtiger Zeit, in dem die Erzählung vorangetragen wurde, in dem die Gestalten und Ereignisse dargestellt wurden als Menschen und Geschehnisse, die in der Gegenwart leben oder sich in der Gegenwart zutragen und in eine unmittelbare Zukunft weiterreichen. Das zweite Zeitelement war ein Element vergangener Zeit, mittels dessen dieselben Gestalten dargestellt wurden als Träger und Getragene ihrer ganzen gelebten Vergangenheit, so, dass jeder gegenwärtige Augenblick ihres Daseins nicht nur bedingt war durch das, was sie in diesem gegenwärtigen Augenblick erlebten, sondern auch durch die ganze Gewalt und Wesenheit dessen, was sie vor diesem Augenblick erlebt hatten. Zu diesen zwei Zeitelementen trat noch ein drittes, das ich als unwandelbare Zeit begriff, als die Zeit der Ströme, Gebirge, Meere und der Erde, gewissermassen als eine ewige und unveränderliche All-Zeit, gegen die die Vergänglichkeit des Menschenlebens, die bittere Kürze der Menschentage sich abheben sollte. Das Arbeiten mit diesen drei Zeitelementen erwies sich als eine schwierige Aufgabe, ich wäre ihr fast erlegen, und sie hat mich in den darauffolgenden Jahren zahllose Stunden der Geistesangst gekostet.
Als mir die wahre Natur der Arbeit, die ich mir vorgenommen hatte, klarzuwerden anfing, begann das Wahrbild des Stromes mein Bewusstsein heimzusuchen. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, ein grosser, nach Befreiung drängender Strom tose in mir und wolle aus mir entspringen, und ich müsse eine Fahrrinne finden, in die sich seine Flutgewalt ergiessen könne, ja, unbedingt müsse ich sie finden, denn sonst würde ich von der von mir selbst gezeugten Flut zerstört werden. Ich bin sicher, jeder Künstler auf Erden hat dieses selbe Erlebnis gehabt.
Derweil aber war ich zum Opfer einer Fehlvorstellung geworden, einer fixen Idee, deren Unmöglichkeit ich damals nicht ganz begriff. Ich war nämlich noch überzeugt, mein ganzes riesenhaftes Planen müsse sich innerhalb der Grenzen eines einzigen Buches, das «Das Oktoberfest» heissen sollte, wahrmachen lassen. Es verstrich wieder ein Jahr, bis ich einsah, dass ich an einem Stoff arbeitete, der beinahe hundertfünfzig Jahre amerikanischer Geschichte einbezog, der notwendig mehr als zweitausend Gestalten einführte, so, dass in der endgültigen Fassung beinah jeder Rassentypus und beinah jede Gesellschaftsklasse des amerikanischen Lebens geschildert werden würde, und bis ich mir somit klar darüber ward, dass selbst ein sehr umfangreiches Buch, ein Roman von zweihunderttausend Wörtern, völlig unzulänglich für diesen Zweck wäre.
Wie ich schliesslich zu dieser Einsicht kam? Ich glaube, es ist nicht übertrieben, wenn ich behaupte, ich hätte mich in diese Einsicht hineingeschrieben. Während dieses Jahres schrieb ich wie ein von Furien Getriebener, ich empfand nun den ganzen Druck der unwiederbringlichen Zeit, verspürte nun die drängende Notwendigkeit, etwas fertigzustellen. Ich schrieb wie ein Verrückter; eine Schilderung nach der andern, ein Kapitel nach dem andern wurde fertig. Die Gestalten nahmen allmählich Leben an, sie wuchsen, es wurden ihrer so viele, dass sie schon nach Hunderten zählten, aber der Umfang meines Unternehmens war, wie ich nun verzweifelt erkannte, so ungeheuer, dass die vollendeten Kapitel mir vorkamen wie Lichter in einer Lichterkette, wie man sie zuweilen durch die Fenster fahrender Nachtschnellzüge in dunkler und einsamer Landschaft laufen sieht.
Tag für Tag arbeitete ich wie ein von Furien Getriebener, bis endlich meine schöpferischen Kräfte völlig erschöpft waren, und obschon ich dann manchmal in einer solchen Schaffensspanne zweihunderttausend Wörter geschrieben hatte, also Zeug genug für ein sehr dickes Buch, so musste ich doch mit einem Gefühl der grauenhaften Verzweiflung erkennen, dass das vollendete Stück nur ein kleiner Abschnitt aus einem grossen Werke war.
Während dieser Zeit geriet ich in jenen Zustand nackter Not und äusserster Vereinsamung, den jeder Künstler, wenn er überhaupt durchkommen will, an sich erfahren und überwinden muss. Zuvor hatte mich der köstliche Wahn des Erfolges getragen, der uns alle trägt, wenn wir lediglich träumen, wir schrieben Bücher, anstatt sie tatsächlich zu schreiben. Nun sah ich, wie die Dinge gegen mich standen, und plötzlich ward mir klar, dass ich mich mit meinem Leben und meiner Gesinnung so ganz unwiderruflich auf diesen Kampf eingelassen hatte, dass ich nun siegen oder untergehen müsse. Ich stand allein mit meinem Werk, und ich wusste nun auch, dass ich mit ihm allein stehen müsse, dass mir niemand dabei helfen könne, ganz gleich, wie sehr er auch mir zu helfen begehre. Nun erkannte ich zum erstenmal eine andere nackte Tatsache, wie sie jeder Künstler kennen muss, und diese ist, dass im Werk, das einem Menschen zu leisten gegeben ist, nicht nur der Same des Lebens enthalten ist, sondern auch der Same des Todes, und dass dieselbe Schöpferkraft, die uns erhält, uns auch wie ein Aussatz zerfressen wird, wenn wir sie wie ein Totgeborenes in unsren Eingeweiden verwesen lassen. Irgendwie musste ich es aus mir herausschaffen. Das sah ich nun ein. Und nun stahl sich mir zum erstenmal ein fürchterlicher Zweifel ins Gemüt, nämlich, dass ich womöglich nicht lange genug leben würde, um es aus mir herauszuschaffen, dass ich mir da eine so grosse und so unmögliche Arbeit angeschafft hätte, dass die Kräfte von zwölf Lebzeiten nicht genügen würden, sie darzuleisten.
Unschätzbare Schicksalsgunst war es, dass mir in dieser Zeit ein Beistand ward, der mich aufrecht erhielt. Ich hatte zum Freund einen Menschen von unermesslicher und geduldiger Weisheit und einer liebenswürdigen, aber unnachgiebigen Festigkeit. Wenn es damals nicht so weit kam, dass mich das Gefühl der Hoffnungslosigkeit vernichtete, das jene Riesenplackerei in mir auslöste, dann, glaube ich, war es grösstenteils dem Mut und der Geduld dieses Mannes zuzuschreiben. Ich gab nicht nach, weil er nicht zuliess, dass ich nachgab. Mir scheint zu stimmen, dass er damals in der Lage des kundigen Beobachters auf dem Feldherrnhügel war; ich selber aber war in die Schlacht gezogen, war von Staub und Schweiss bedeckt und vom Kampfe erschöpft, und so begriff ich bei weitem weniger als mein Freund davon, wie die Schlacht stand und worum der Kampf ging, in den ich mich eingelassen hatte. Vom Beobachten abgesehen, blieb für diesen Mann damals wenig zu tun; er konnte nur auf diese oder jene Weise dafür sorgen, dass ich bei meiner Sache bliebe, und auf vielerlei wunderbare Weise ist ihm das gelungen.
Ich war nun mit meinem Werk an diesem Punkte angelangt, wo es sich schlechthin um die Hervorbringung handelt, und selbst der grösste Herausgeber kann wenig für einen Schriftsteller tun, solang dieser nicht aus dem Geheimdunkel seines Geistes das ihm vorschwebende lichte Gebilde dinglich fertig ans gewöhnliche Tageslicht gebracht hat. Mein Freund, der Herausgeber, hat sein eignes Tun in jener schmerzensreichen Zeit mit dem Unterfangen eines Mannes verglichen, der versucht, sich an der Flosse eines sich tummelnden Walfisches festzuhalten – aber festgehalten hat er sich, dieser Freund, und seiner zähen Ausdauer verdanke ich mein endgültiges Befreitsein.
Unterdes arbeiteten meine schöpferischen Kräfte auf höchsten Touren. Manchmal schrieb ich, ohne zu glauben, je damit zu Ende zu kommen. In mir war schwärzeste Verzweiflung, und doch schrieb ich und schrieb und konnte nicht aufhören zu schreiben. Und mir schien es, als triebe mich die Verzweiflung selbst zum Schreiben, auch wenn ich nicht daran zu glauben vermochte, je zu Ende zu kommen. Mein Leben in Brooklyn schien mir, obwohl ich nur zweieinhalb Jahre hier wohnte, in die Jahrhunderte zurückzureichen, in ozeanische Tiefen schwarzer, bodenloser Erfahrung, ohne dass das gewöhnliche Stundenmass sie jemals auszuloten vermochte. Manchmal haben mich die Leute gefragt, was eigentlich in diesen Jahren mit mir geschehen sei. Sie haben mich gefragt, wie ich denn überhaupt noch Zeit gefunden hätte, mich darüber zu orientieren, was in der Welt um mich vorging, da doch mein Leben so völlig in der Welt des Geschriebenen aufging. Es mag als banal erscheinen, aber die Wahrheit ist es, dass ich nie in meinem ganzen Leben so voll und reich gelebt habe, nie in so reichem Masse am menschlichen Leben teilhatte als eben in diesen Jahren, während ich mit dem gigantischen Problem meines Werkes kämpfte.
Eins steht fest, meine sinnlichen und schöpferischen Anlagen, die Kräfte des Gefühls und des Verstandes, selbst der Gehörsinn und vor allem mein Erinnerungsvermögen hatten den höchsten Grad an Schärfe erreicht, den ich je kannte. Am Ende eines stürmischen Arbeitstages brannte mein Gehirn noch vor Anstrengung. Ich war unfähig, es durch Lektüre, Musik, Gedichte, Alkohol oder irgendeine andere Vergnügung zu beruhigen. Ich war unfähig zu schlafen, unfähig, den Tumult dieser schöpferischen Energien in mir zu beschwichtigen. Das Resultat dieser Verfassung war, dass ich drei Jahre lang durch die Strassen schlich, das wimmelnde Netz der millionenfüssigen Stadt durchforschte und es kennen lernte wie nie zuvor. Es war eine dunkle Zeit in der Geschichte meines Landes, eine dunkle Zeit in meinem eigenen Leben, und vermutlich ist es nur natürlich, dass meine eigene Erinnerung daran jetzt eine ziemlich bittere und schmerzliche ist.
Überall um mich herum sah ich während dieser Jahre Zeugen eines unabsehbaren Ruins und Leidens. Meine eigene Familie war ruiniert, hatte in der sogenannten «Depression» alle Substanz ihres in einem langen Leben erworbenen Vermögens verloren. Und die allgemeine Krise hatte fast ins Leben eines jeden eingegriffen, den ich kannte. Darüber hinaus sah, erlebte, fühlte und erfuhr ich bei dieser endlosen nächtlichen Wanderfahrt und Suche im grossen Netz und Dickicht der Stadt das volle Gewicht dieser fürchterlichen menschlichen Krise.
Ich sah einen Mann, dessen Leben zu einer Masse formloser und schmutziger Lumpen zusammengesunken war, von Gift verzehrt, von Ungeziefer zerfressen; menschliche Wracks, die sich gegenseitig ein bisschen Wärme zu geben suchten, hockten in der eisigen Kälte auf den stinkenden Schwellen der Bedürfnisanstalten, im Schatten der kalten Bauten eines byzantinischen, märchenhaften Reichtums. Ich sah abscheuliche Taten der Brutalität und Grausamkeit, die Drohung gemeiner Privilegien, die grausame und korrupte Autorität, die rücksichtslos das Leben der Armen, der Schwachen, der Bedauernswerten und Schutzlosen dieser Erde unter ihren Füssen zertrat.
Und der überwältigende Eindruck dieser dunklen Bilder menschlicher Unmenschlichkeit dem Mitmenschen gegenüber, die unaufhörliche Wiederholung dieser Szenen des Leidens, der Gewalt, der Unterdrückung, des Hungers, der Kälte, des Schmutzes und der Armut, die ungehindert in einer Welt vor sich gingen, in der die Reichen in ihrem Reichtum verkamen, hinterliessen eine Narbe in meinem Leben, eine Überzeugung in meiner Seele, die ich nie verlieren werde.
Aus all dem gewann ich schliesslich den Schatz eines brennenden Gedächtnisses, einer Gewissheit von der Stärke des Menschen, von seiner Fähigkeit, zu leiden und irgendwie zu überleben. Und das ist auch der Grund, weshalb ich diese dunkle Periode mit einer Art Freude im Gedächtnis behalte, die ich zu jener Zeit nicht für möglich gehalten hätte, denn gerade damals lebte ich mein Leben auf eine erste Vollendung hin, und durch das Leiden und die Last meines eigenen Lebens gelangte ich dazu, die Qualitäten in den Menschen, die überall um mich herum lebten, zu begreifen. Und das ist wieder etwas, wozu mir das Schreiben an meinem Buch verholfen hat. Es hat meinem Leben jene Tiefe gegeben, die die Verwirklichung eines jeden Werkes dem Leben des Künstlers verleiht, und, soweit ich es an mir erfahren habe, hat es mein Wesen bereichert.
Der Vorwinter 1933 rückte an und mit ihm, wie mir schien, das endgültige Verhängnis eines abgrundtiefen Versagens. Ich schrieb noch und schrieb, aber blindlings, hoffnungslos, wie ein alter Gaul, der unaufhörlich in der Tretmühle geht und keinen andern Daseinszweck, kein anderes Daseinsziel kennt als dieses gesträngte Gehen in der alten Kreisbahn. Wenn ich nachts Schlaf fand, war es ein Nachtmahrschlaf mit grellen Schaubildern, die über mein fiebriges, rastloses Bewusstsein hinfegten. Und wenn ich aufwachte, war es nur ein Aufwachen in Erschöpftheit, und dann wusste ich weiter nichts zu tun als zu arbeiten; ich trieb mich an wie mit der Geissel zu der hoffnungslosen Plackerei und schaffte wie ein von Furien Getriebener den ganzen Tag über, und dann kam die Nacht wieder, das verrückte Herumstreunen auf den tausend Strassen, und dann das Zubettgehen und wiederum der schlaflose Schlaf, der Zug der Nachtmahrträume, vor denen mein Bewusstsein als Zuschauer angekettet lag.
Ich träumte da eine Art Träume, die ich zusammenfassend nicht anders denn als Träume von Schuld und Zeit bezeichnen kann. Chamäleonhaft, in aller verdammniswürdigen und nie endenden Zeugefähigkeit, waren sie es, die mir die ganze hehre Welt, die ich gekannt hatte, wiedererstellten, die Billionen Angesichter und die Millionen Zungen, und zwar erstellten sie mir diese Welt wieder mit der triumphierenden Böswilligkeit eines passiven und ungewollten Behagens. Der Gewinn aus meiner tagtäglichen Fehde mit Menge und Zahl, die tolle Ausbeute meiner jahrelangen Kämpfe mit den Formen des Lebens, meiner rücksichtslosen, unaufhörlichen Bemühungen, mit dem Gedächtnis jeden Bauziegel und jeden Pflasterstein auf jeder je von mir begangenen Strasse festzuhalten, jedes Gesicht aus jedem Menschengedräng in jeder Stadt und jedem Land, wo auch immer mein Geist den wüsten, mit ungleichen Waffen geführten Kampf um die Überlegenheit aufgenommen hatte – das alles kam nun zurück –: jeder Stein, jede Strasse, jede Stadt, jedes Land – ja, sogar jedes Buch in der Universitätsbibliothek, durch die ich mich als Student vergebens ganz hindurchzulesen versucht hatte – alles das kam nun zurück auf den Schwingen dieser mächtigen, trauervollen und irgendwie lautlos irrsinnigen Träume – ich sah, hörte und erkannte alles das sofort, war augenblicklich schmerzlos und angstlos und, mit dem ruhigen Bewusstsein Gottes, Herr über dieses ganze Lebensuniversum, gegen dessen Elemente ich soviele Jahre lang um Allwissenheit gestritten hatte. Und dieser ungeheure Triumph machte mich traurig, und die ruhevolle, augenblicklich-inständige Passivität dieser unmenschlich-irrsinnigen Unsterblichkeit war mir irgendwie bitterer als die gallenbittere Niederlage in meinem Kampf mit der Daseinsvielheit.
Denn –: auf dieses Lebensuniversum herab schien immerdar ein stilles, stummes, wandelloses Zeitlicht. Und aus dem Gedräng dieser schiebenden Mengen von Menschen, deren gesamtes und geteiltes Wesen nun im Nu und ohne Willensanstrengung mein eigen war, erhob sich immerdar das trauervolle, nie endende Geraun dieses leiblichen Lebens, erhoben sich immerdar die riesigen, zurückweichenden Schwundbilder des Schattens, den der Tod des Menschen wirft, der Tod, der immerdar mit Seufzerhauch und Klagegetön an die hohen Gestade der Welt hinhallt.
Und jenseits, jenseits – der riesigen und stillen Bewusstheit meines Geistes, über ihm, rings um ihn und hinter ihm, der nur die Erde und alle ihre Elemente mit dem Gigantengriff spielerischer Unterwerfung umschloss, weste auf immer das bittere Wissen meiner eigenen, unentrinnbaren Schuld.
Ich wusste nicht, was ich getan hatte – ich wusste nur, dass ich aufs gefährlichste die Zeit ausser acht gelassen und so meine Menschenbrüder verraten hatte. Ich war zwar lange von daheim fort – warum, ahnte ich nicht – aber von den betäubenden Gerüchen einer grünen Fremde und ihrer Magie behext, innerlich angefüllt von dunkler Trauer, vermochte ich mich nicht mehr daran zu erinnern. Und plötzlich war ich wieder daheim – ging wieder in jenem ruhigen, stillen und unwandelbaren braunen Licht, durchschritt die Strassen, erklomm die Hänge der Hügel, lief die Landstrassen der Heimat entlang – manchmal ihre genauen und tatsächlichen Lineaturen, die der Kindheit und der Heimatstadt, so dass ich nicht nur all das, was ich je gesehen und woran ich mich erinnert hatte, vor mir sah – jede bekannte Strasse, jedes Gesicht, jedes Haus und jeden Pflasterstein des Bürgersteigs – sondern auch zahllose Dinge, von denen ich nicht mehr wusste, ob ich sie je gesehen oder ob ich sie vergessen hatte: einen rostigen Riegel an der Kellertür, die Art, wie eine Stiege knarrte, eine alte Brandblase im Farbanstrich der Holztäfelung des Kamins, eine Eiche droben auf dem Hügel, die auf der einen Seite ganz ausgehöhlt war, das blitzende Glasmuster an der Haustür, den Schalthebel eines Strassenbahntriebwagens, dessen Messing auf der einen Seite vom harten Zugriff des Führers schon ganz silbrig geworden war und über dem ein alter Tabaksbeutel hing – solche Dinge und Millionen andere kamen mir wieder ins Gedächtnis und quälten meinen Schlaf. Und viel, viel vertrauter als diese Szenen der Erinnerung und der Herkunft waren jene Landschaften, die irgendwie aus ihnen hervorgingen – die Strassen, die Städte, die Häuser und Gesichter, die ich sah, aber nicht so nah, wie sie waren, sondern wie sie sein mussten, in jener unergründlichen, seltsamen und unvermuteten Logik menschlichen Verstandes und Gefühls – sie waren viel wirklicher als die Wirklichkeit, um vieles wahrhaftiger als die Heimat.
Ich war lange von daheim fort. – Ich war gealtert an einem schlimmen und verzauberten Ort, ich hatte meinem Leben gestattet, sich zu verschwenden, dahinzufaulen in der sumpfigen und entwürdigenden Oberflächlichkeit der Circe Zeit. Und jetzt war mein Leben verloren, meine Arbeit nicht geleistet, ich hatte meine Heimat, meine Freunde, meine Familie, die ernsten und unverletzlichen Pflichten, ihr Vertrauen verraten, und plötzlich war ich wieder daheim, und meine Antwort war Schweigen!
Sie sahen nicht mit Bitterkeit und Hass auf mich, sie schlugen mich nicht mit der beissenden Schande des Zorns, sie verfluchten mich nicht mit Drohungen der Rache und der Vergeltung – oh, hätten sie es doch getan, welchen Balsam der Angst und Gerechtigkeit hätten selbst Flüche gehabt! – statt dessen schwieg ihr Blick, und ihre Zunge war stumm. Und wieder, wieder schritt ich die Strassen der heimatlichen Stadt entlang, nach Jahren der Abwesenheit sah ich wieder die Linien der gewohnten Gesichter und hörte heimatliche Worte, den Ton heimatlicher Stimmen, und mit einer stillen und tiefen Verwunderung sah ich Spiel und Widerspiel ihres Handelns, den grauen Mittag, den Verkehr auf den Strassen, und alles war so, wie es immer gewesen war, ich hatte nichts davon vergessen: bis ich vorüber gegangen war, herrschte Todesschweigen.
Ich ging unter ihnen, und ihre Bewegungen hörten auf, ich ging unter ihnen, und ihre Zungen verstummten, ich ging unter ihnen, und keiner von ihnen bewegte sich oder sprach, bis ich vorüber gegangen war, und wenn sie mich ansahen, so war in ihren Augen nur schweigende Leere, keine Erinnerung war in ihnen; es gab keine Vorwürfe, keinen Kummer und keine Verachtung, keine Bitterkeit und keinen Zorn – wenn ich gestorben wäre. Wäre wenigstens das Gespenst einer Erinnerung dagewesen, aber so war es, als sei ich nie geboren worden. Und wie ich so an ihnen vorüberging, wo ich auch hinschritt, überall senkte sich der Tod nieder. Wo ich auch vorbeiging, immer konnte ich hinter mir hören, wie die Stimmen, die Geräusche der Strasse und der ganze Verkehr eines hellen Tages wieder erwachten – aber erst, wenn ich an ihnen vorbeigegangen war!
Und so umfloss mich die ganze Stadt, war sie um mich herum, und einmal, ohne eine Brücke, ohne Übergang der Verwandlung, schritt ich auf einem kargen Weg dahin über das riesige Gefilde einer baumlosen Wüste und öden Leere, und das stille, trauervolle und tragische Licht schien aus dem Schrecken einer planetarischen Leere auf mich nieder, aus dem lidlosen und vorwurfsvollen Auge des gelassenen Himmels, der sich mit der dauernden Ätze verschwiegener Scham in meinen nackten Geist frass.
Eine andere und beständigere Variante dieser Träume von Schuld und Zeit pflegte diese Form anzunehmen: Es schien, als sei ich ins Ausland gereist, lebe dort und sei mir doch bewusst, dass ich immer noch Lehrer an der Universität wäre. Fern aller Gewalttätigkeit, fern allem Aufruhr, fern der harten Alltagswirklichkeit des amerikanischen Lebens, fern auch dem akzentuierten Jargon der Universität, fern ihrer mit fetten Gesichtern bevölkerten Korridore, erfüllt von kräftigen Stimmen, fern all dem Gedränge und der Hast und dem Durcheinander dieses fiebrigen Lebens, fern seiner unharmonischen Spannungen und seiner überspannten Nerven, lebte ich mein Leben in einem fremden, golden-grünen Luxus, träumte mein Leben in alten, gotischen Städten oder im lieblichen Zauber eines Burgenlandes, mein Geist schlüpfte von Land zu Land, von einer Verzauberung in die andere, mein Leben verstrich in einer Folge betäubender Magien – und doch war ich für immer verhext von einem Zeit- und Schuldbewusstsein, vom heimlichen Nagen verratenen Vertrauens. Und plötzlich schien mein volles Bewusstsein zurückzukehren: Ich war ein Jahr von daheim fort gewesen – meine Klassen an der Universität hatten auf mich gewartet – und plötzlich war ich wieder da, durcheilte die wimmelnden Korridore, eilte wild von einem Klassenraum zum anderen, versuchte verzweifelt, die Klassen zu finden, die ich so im Stich gelassen hatte. In diesen Träumen lag ein grotesker und erschreckender Humor, den ich aber nicht zu schätzen vermochte: Ich war irgendwie davon überzeugt, dass meine vergessenen Klassen mich ein Jahr lang gesucht hatten, ich sah sie in dem Korridorlabyrinth, im Myriadengewimmel ihrer 30 000 Mitstudenten nach mir suchen, sah sie in geduldiger Verzweiflung ihre angesetzten Stunden in Klassenräumen absitzen, die ihr abwesender Lehrer nie betrat. Und schliesslich – und das war das Fürchterlichste – sah ich vor mir Stösse von Arbeitsheften sich stapeln – diese verfluchten Themen, die Woche um Woche mehr wurden – die sich gebirgsartig und hoffnungslos vor mir anhäuften – ihre weissen, ekelhaft unschuldigen Rücken verrieten nichts von dem Gekritzel, mit dem ich einmal – geplagt von der zwiefachen Qual der Langeweile und des Bewusstseins – jedes Fleckchen ihrer papierenen Oberfläche bedeckte. Und nun war es zu spät! Ein Monat, zwei Wochen, eine Woche – irgendein Wunder der Zeit und wilder Arbeit hätte mich vielleicht davon erlösen können – aber jetzt war der letzte Tag des Semesters, war die letzte Stunde abgelaufen, der letzte unaufhaltsame Augenblick, die letzte Chance der Befreiung verronnen. Ich sah mich plötzlich im Zimmer der Englischen Fakultät stehen, taub vor Schrecken angesichts des grossen weissen Bergs dieser Hefte. Ich wandte mich ab, ein schweigender Kreis von Studenten umringte mich, sie starrten mich nicht an, sie waren nicht zornig oder ärgerlich auf mich und drängten nicht auf mich zu, aber sie sahen mich mit dem stillen Blick der Verdammung an. Meine kleinen Juden standen am nächsten, hatten ihre schwarzen Augen auf mich gerichtet mit einem verzweifelten, aber unablässigen Vorwurf, und hinter ihnen stand, wie im Gerichtshof, der Kreis der anderen Lehrer.
Alle waren sie versammelt – Schüler, Lehrer, Freunde, Feinde und die riesige Verdammnis der Hefte – es wurde kein Wort gesprochen, nur der schweigende Blick unbewegter und erbarmungsloser Anklage traf mich. Dieser Traum kehrte hundertmal in meinem Schlaf wieder und quälte mich: Jedesmal erwachte ich im kalten Angstschweiss und voller Schrecken, und so stark war der Eindruck dieses Traums, so wirklich und fürchterlich sein überzeugender Bann, dass ich manchmal aus dem Traum erwachte und minutenlang in kaltem Schrecken dalag, während mein Gehirn mit den Phantomen des Schlafes rang, um mich wieder in die Wirklichkeit zurückzurufen.
Dabei waren diese Träume von Schuld und Zeit nicht die einzigen: im Schlaf brannten mein Denken und mein Erinnern mit einem Feuerfluss unaufhörlicher strömender Bilder: die riesigen Behälter meiner Erinnerung brachen auf und gossen in die Sturzflut dieses feurigen Stromes Millionen Dinge, die ich einmal gesehen und wieder vergessen hatte, sie waren wieder da und brannten vor mir in diesem Lichtstrom – und Millionen nie gesehener Dinge, Gesichter, Städte, Strassen und Landschaften, die ich nie gesehen, aber mir seit langem vorgestellt hatte – diese unbekannten Gesichter waren wirklicher als die, die ich gekannt hatte, diese nie gehörten Stimmen, vertrauter als die, die ich kannte, diese nie gesehenen Formen, Massen, Gestalten und Landschaften waren in ihrer Essenz viel wirklicher und gegenwärtiger als substanzielle Dinge, die ich gekannt hatte – alles strömte in meiner Vision durch mein fieberndes, ruheloses Denken dahin, eine Flut unendlicher Folgen – und plötzlich wusste ich, dass das nie aufhören würde.
Der Schlaf war für immer tot, die gnädige, dunkle und süsse Auflösung des Kindheitsschlafes. Der Wurm hatte sich mir ins Herz gefressen, der Wurm ringelte sich darin und frass an meinem Gehirn, meinem Geist und meinem Gedächtnis. Ich wusste, dass ich schliesslich im eigenen Feuer gefangen war, verzehrt war vom eigenen Hunger, festgefangen am Haken des fürchterlichen, unersättlichen Verlangens, das seit Jahren mein Leben verzehrte. Ich wusste, kurz gesagt, dass für immer eine helle Zelle meines Gehirns, meines Herzens oder Gedächtnisses brennen würde – Tag und Nacht, wachend oder schlafend, jeden Augenblick meines Lebens würde der Wurm nagen, und das Licht brennen – es gab keine Betäubung durch Nahrung, Freundschaft, Reise, Sport, Frauen, die es jemals zu löschen vermochte, es gab keine Flucht davor, bis mein Tod völlige Dunkelheit in mir ausbreitete. Ich wusste, ich war nur ein Schriftsteller geworden: Ich wusste nun, was einem Menschen geschieht, der das Leben eines Schriftstellers zu dem seinen macht.
So stand es mit mir im Frühwinter des Jahres 1933, und gerade in diesem Augenblick war, obwohl ich es noch nicht ahnen konnte, das Ende meiner ungeheuren Arbeit in Sicht.
Mein Freund, der Verlagsleiter und Herausgeber, von dem ich schon mehrere Male gesprochen habe, hatte durch diese ganze Quälzeit hindurch mich in aller Ruhe beobachtet, und nun, im Dezember dieses Jahres, lud er mich in seine Wohnung ein und sagte mir seelenruhig, mein Buch wäre fertig. Ich konnte weiter nichts tun, als ihn bass erstaunt angucken und schliesslich, als ich Worte fand, ihm aus der Tiefe meiner Hoffnungslosigkeit versichern, er irre sich, das Buch sei nicht fertig, ich könne nie damit zu Rande kommen, ich könne nicht mehr schreiben. Im Ton derselben ruhigen Schlüssigkeit entgegnete er, ob ich's nun wisse oder nicht, das Buch sei fertig, und dann hiess er mich auf meine Bude gehen und die nächste Woche damit verbringen, die Manuskriptstücke, die sich in den letzten zwei Jahren angesammelt hatten, der Reihe nach zu ordnen.
Noch ohne Hoffnung und ohne Glauben folgte ich seinem Geheiss. Ich arbeitete sechs Tage; ich sass mitten im Zimmer auf dem Fussboden, allseitig von hohen Stapeln und Stössen getippten Manuskripts umgeben. Nach einer Woche hatte ich den ersten Teil des Ganzen zusammen, und genau zwei Tage vor Weihnachten 1933 brachte ich meinem Freund das Manuskript «Das Oktoberfest» und wieder ein paar Tage später das Manuskript «Die Hügel jenseits Pentland». Das Manuskript «Das Oktoberfest» war damals etwas mehr als eine Million Wörter lang. Während der drei vorangegangenen Jahre hatte mein Freund das meiste schon in unverbundenen Bruchstücken zu sehen gekriegt; nun sah er das Ganze in geordneter Reihenfolge, und wieder einmal hatte er mit seiner Intuition recht gehabt; er hatte die Wahrheit gesprochen, als er mir sagte, ich hätte das Buch fertig.
Freilich war es keineswegs in dem Sinne fertig, dass es veröffentlicht und den Lesern vorgelegt werden konnte. Es war wirklich nicht so sehr ein Buch als das Skelett eines Buches, aber zum erstenmal nach vier Jahren war das ganze Skelett da. Was nun zu tun blieb war eine ganz ungeheure Arbeit, nämlich Durchsehen, Zusammenweben, Zurechtformen und vor allem Kürzen – aber das Buch hatte ich nun so, dass nichts auf der Welt, nicht einmal meine eigne Verzweiflung es mir entreissen konnte. Mein Freund sagte mir das, und plötzlich sah ich ein, dass er recht hatte.
Ich war wie ein Ertrinkender, der auf einmal, gerade im Augenblick, wenn ihm der Atem ausgeht, die rettende Hand spürt. Mein Geist wurde emporgerissen vom grössten Triumphgefühl, das ich je empfunden hatte, und obschon mein Verstand müde, mein Körper erschöpft war, von dieser Stunde an fühlte ich mich allem auf Erden gewachsen.
Es war ersichtlich, dass viele schwierige Aufgaben vor uns lagen, aber die Sache selbst hatten wir nun; und wir hiessen in glücklichem Vertrauen die Arbeit willkommen. In erster Linie sollte uns die riesenhafte Länge des Buches zu schaffen machen. Selbst in dieser Skelettform war das Manuskript «Das Oktoberfest» zwölfmal so lang wie ein durchschnittlicher Roman, doppelt so lang wie «Krieg und Frieden». Zweifelsohne war es daher nicht nur vollkommen ausgeschlossen, das Buch in einem einzigen Band zu veröffentlichen, sondern auch unratsam, das Buch in mehreren Bänden herauszubringen, denn die ungeheure Länge würde auf jeden Fall die Aussicht, dass das Buch ein Lesepublikum fände, schier zunichte machen.
Dieser Schwierigkeit standen wir nun gegenüber, und mein Freund, der Herausgeber, liess sich sofort mit ihr ein. Im Verlauf einer eingehenden Prüfung des Manuskripts fand er heraus, dass in dem Buch «Das Oktoberfest» zwei in sich geschlossene, getrennte Umläufe geschildert waren. Im ersten Umlauf bewegte sich das Geschehen um die Wanderschaft und den Hunger eines Menschen in der Jugend. Im zweiten Umlauf war eine Lebensspanne grösserer Daseinssicherheit beschrieben, und die Einheit einer einzigen Leidenschaft war es, die tonangebend die Erzählung zusammenhielt. Offensichtlich also lag in diesen zwei Bewegungszyklen wirklich der abgehandelte Stoff von zwei vollkommen verschiedenen Chroniken vor, und obschon der zweite Zyklus bei weitem der vollendetere war, war es natürlich der erste Zyklus, der logischerweise zuerst fertiggemacht und veröffentlicht werden musste, und wir entschieden uns für diesen Kurs.
Wir nahmen den ersten Teil zuerst vor. Ich machte sofort eine gründlich genaue Zusammenstellung, in der nicht nur der Geschehnisverlauf von Anfang zu Ende aufgezeichnet stand, sondern auch innerhalb des Anlageplans die bereits vollständig fertigen Kapitel, die teilweise fertigen Kapitel und die überhaupt noch ungeschriebenen Kapitel analysiert wurden. Als die Zusammenstellung fertig war, machten wir uns daran, das Buch druckfertig zu machen. Diese Arbeit beschäftigte mich das ganze Jahr 1934 hindurch. Anfang 1935 war das Buch fertig; es erschien dann im März unter dem Titel «Von Zeit und Strom».
Von allem Anfang an war es so, dass das Buch, selbst in der unvollendeten Fassung, aufs radikalste gekürzt werden musste. Sowohl wegen der Art, in der das Buch geschrieben worden war, als auch wegen der Müdigkeit, die ich nun verspürte, war ich nicht dazu bereit, mich allein der Aufgabe, die nun bevorstand, zu unterziehen.
Das Kürzen und Zusammenstreichen ist für mich immer das Schwierigste und Widerlichste an der ganzen Schriftstellerei gewesen; meine Neigung ist stets, hinzuzuschreiben anstatt wegzustreichen. Ausserdem, was ich auch an kritischen Fähigkeiten besitzen mag, soweit sie mein Werk betrafen waren sie – damals wenigstens – ernstlich mitgenommen von der irrsinnigen Arbeit, die ich in den vier, beinah fünf voraufgegangenen Jahren geleistet hatte. Wenn ein Mensch über eine so lange Spanne hin sein Werk aus sich hervorgestossen hat, nicht anders wie brennende Lava aus einem Vulkan, wenn er in der Weissglut seiner Schöpferkraft allem, so überflüssig das Einzelne sein mag, Feuer und Leidenschaft mitteilte, dann ist es sehr schwer für ihn, nun plötzlich chirurgenhaft kalt seinem Werk gegenüberzutreten und rücksichtslos den Abstand zu wahren.
Ich will an ein paar sachlichen Beispielen die Schwierigkeiten verdeutlichen, denen wir uns gegenübersahen. Zu Eingang des Buches wird eine Eisenbahnfahrt durch den Staat Virginia beschrieben. Was dieser Abschnitt innerhalb des Buchganzen bewerkstelligen soll, ist einfach dies: ein paar von den Hauptgestalten sollen eingeführt, eine zentrale Situation soll angezeigt und der Hintergrund, vor dem die Erzählung spielt, soll erstellt werden; darüber hinaus soll vielleicht motivisch mit der Schilderung des fahrenden Zuges über die stille Erde ein bestimmter Rhythmenschlag vermittelt, eine bestimmte, der Natur des Buches innewohnende Gemütsbewegtheit heraufbeschworen werden. Dem Abschnitt fällt also zweifellos eine wichtige Aufgabe zu, aber im Verhältnis zum Sinn des Ganzen ist diese Aufgabe sekundär. Folglich hiess es, diesen Abschnitt nach Mass und Masse ins richtige Verhältnis zum ganzen Buch bringen.
Nun war in der Urfassung jenes Stück Manuskript, in dem die nächtliche Zugfahrt durch Virginia beschrieben wird, beträchtlich länger als ein durchschnittlicher Roman. Ich hatte über einhunderttausend Wörter geschrieben, und was not war, war eben bloss ein Eingangskapitel, und dieselbe Schwierigkeit, diese selbe Proportionslosigkeit war offensichtlich auch in andern Stücken meines Manuskripts gegeben.
Was ich über den grossen Zug geschrieben hatte, war wirklich gut. Aber was ich nun erkennen musste, diese sehr bittere Lehre, die jeder Schreibende lernen muss, war, dass eine Sache an sich das bestgeschriebene Stück Prosa sein kann, das man je geschrieben hat, und trotzdem in dem Buch, das man veröffentlichen will, durchaus keinen Platz hat. Das fällt einem schwer, aber man muss sich damit abfinden, und wir fanden uns damit ab.
Mir schauderte im Geist vor dieser blutigen Hinrichtung, meine Seele schrak zurück vor der Abmetzelung so vieler schöner Dinge, an denen ich mit ganzem Herzen hing. Aber es war notwendig, und wir taten das Notwendige.
Das erste Kapitel der Originalfassung wurde rücksichtslos ausgestossen, und dabei war es, wie mein Freund, der Herausgeber, selber zugab, so gut geschrieben, wie ich nur je etwas geschrieben hatte, aber es war eben kein Anfangskapitel, sondern nur ein Kapitel, das auf den wahren Anfang hinleitete, und so musste es wegfallen. Und so verfuhren wir auf der ganze Linie. Kapitel von fünfzigtausend Wörtern wurden auf eine Länge von zehn- bis fünfzehntausend Wörtern zurückgestutzt, und nachdem ich nun einmal die unvermeidliche Notwendigkeit dieses Verfahrens vor Augen sah, griff ich selber mit einer gewissermassen neuerworbenen Rücksichtslosigkeit zu und strich ein- oder zweimal sogar mehr weg, als mein Herausgeber zuzulassen willens war.
Ein anderer Fehler – etwas, das mir beim Schreiben immer Scherereien macht – war, dass ich so oft unternahm, einen Vorfall aus dem Leben in seiner Gänze, in seinem vollen Fluss und seiner ganzen hergangsmässigen Beschaffenheit nachzubilden. So wurden an andrer Stelle meines Buches einmal vier Leute geschildert, die stundenlang ohne Pause und Unterbrechung miteinander reden. Diese vier Leute hatten alle ein gutes Mundwerk, und oft redeten sie alle auf einmal oder versuchten doch, alle auf einmal zu reden. Und was sie redeten, das war wundervolle und lebendige Rede, denn ich hatte an der lebendigen Quelle das Leben, den Charakter und den Wortschatz dieser Leute gekannt und vergessen hatte ich nichts. An Handlung aber ging in diesem Stück weiter nichts vor, als dass eine junge Frau aus dem Auto ihres Gatten ausstieg, ins Haus ihrer Mutter eintrat und nun dem ungeduldigen Mann draussen jedesmal, wenn er mit der Hupe tutete, zurief: «Schon recht! Schon recht! Ich komm' in fünf Minuten». Aus den fünf Minuten wurden dann vier Stunden, der ungeduldige Gatte draussen tutete mit der Hupe, und die beiden Frauen und die beiden jungen Brüder der jüngeren Frau drinnen im Haus ergingen sich in wahren Sturzbächen der Rede und unterhielten sich eingängig über das Leben und die Vorgeschichte fast aller ihrer Kleinstadtbürger, kramten die Vergangenheit aus den Gedächtnissen heraus, gedachten gegenwärtiger Unternehmungen und erwähnten zukünftige Aussichten. In meiner Urfassung hatte ich das alles hingeschrieben, ganz so, wie ich solche Vorkommnisse tausendmal mit angesehen, beobachtet und miterlebt hatte. Und wenn ich's auch selbst sage, so ist es doch wahr, dass alle diese Reden, dass die pralle Lebenskraft und Charakterfülle der Sprache, die äusserste Natürlichkeit der stromfluthaften Redegewalt mir ganz wunderbar geglückt waren. Aber – ich hatte da vier Leute insgesamt achtzigtausend Wörter reden lassen –, und das wären zweihundert engbedruckte Seiten in kleinem Schriftsatz gewesen für einen kleinen Vorfall in einem enormen Buch, und freilich, so gut das Stück auch war, es war ganz verkehrt, es musste wegfallen.
Dieser Art also waren einige von den Hauptschwierigkeiten, die wir mit dem Manuskript hatten, das uns vorlag, und obschon seit dem Erscheinen des Buchs vielerseits erklärt worden ist, es wäre eine Wohltat, wenn das Werk aufs stärkste gekürzt würde, so haben wir tatsächlich damals schon bei weitem drastischer gekürzt, als ich es im Traum für möglich gehalten hätte.
Zu gleicher Zeit war ich mit aller Geschwindigkeit dabei, das Werk dem Anlageplan entsprechend zu vollenden, die unfertigen Stücke fertigzustellen und die wesentlichen Übergänge einzufügen.
Das war an sich schon eine ungeheuerliche Arbeit, und ich hatte ein ganzes Jahr lang Tag für Tag so tüchtig, wie ich nur konnte, zu tun. Auch hier stellte sich wiederum heraus, wo mein Hauptfehler lag. Ich schrieb wieder zuviel. Ich schrieb nicht nur das wenige, das wesentlich war, sondern ich liess mich immer wieder von meiner Begeisterung für einen guterzählbaren Vorgang hinreissen. Tat sich mir da so eine bezaubernde Aussicht auf, wie sie sich dem Wandrer auf dem Weg, dem Schaffenden im vollen Zug der schöpferischen Arbeit aufzutun pflegen, dann liess ich mich verleiten, und dann schrieb ich tausend Worte über einen Vorgang, der nicht von Lebenswichtigkeit beitrug zu einem Buch, dessen grösste Not ohnehin schon war, dass es rücksichtslos verdichtet werden musste.
Im Laufe dieses Jahres habe ich wohl ein Zusatzmanuskript von einer halben Million Wörtern geschrieben, und freilich wurden schliesslich nur ganz kleine Stücke davon verwandt.
Die mir natureigne Art des Verfahrens, der Wunsch, den Stoff, der mir vorliegt, voll und ganz zu erforschen, – das hatte mich zu einem andern Irrtum verleitet. Das ganze Ergebnis jener fünf Arbeitsjahre, in denen ich unaufhörlich geschrieben hatte, war, dass ich nun nicht nur das Gefühl hatte, alles und jedes müsse verwandt und benutzt werden, sondern dass ich auch glaubte, ich müsse alles und jedes aussagen, nichts dürfte verschwiegen werden und gleichsam «zwischen den Kapiteln» bleiben. So lagen mir am Schluss noch einige Zusatzkapitel – ein gutes Dutzend war es – vor, und ich hatte das Gefühl, diese Kapitel müssten vollendet werden, damit das Buch vollen Wert und Gültigkeit habe. Diese Sache habe ich tausendmal mit meinem Herausgeber verzweifelt erörtert. Ich sagte ihm, diese Kapitel müssten ins Buch hinein, weil es ohne sie unvollständig wäre, und er versuchte mit allen Argumenten, die ihm zu Gebote standen, mir zu beweisen, dass das verkehrt wäre. Ich sehe nunmehr ein, dass er im grossen ganzen recht hatte, aber damals war ich noch so unlösbar in mein Werk verstrickt, dass ich nicht den zur richtigen Einschätzung notwendigen Abstand gewinnen konnte.
Das Ende kam plötzlich, das Ende dieser fünf Jahre der Qual und unausgesetzten Hervorbringens. Im Oktober fuhr ich auf vierzehn Tage nach Chicago; seit über einem Jahr waren diese Tage die ersten Ferien, die ich mir verstattet hatte. Bei meiner Rückkehr fand ich, dass mein Freund, der Verlagsleiter, das Manuskript stillschweigend entschlossen in die Druckerei geschickt hatte. Die Setzer waren bereits an der Arbeit, die ersten Korrekturfahnen lagen schon vor. Das hatte ich nicht vorausgesehen. Ich war verzweifelt, war vollkommen bestürzt.
«Das darfst du nicht», sagte ich zu ihm, «das Buch ist doch noch gar nicht fertig. Ich brauche noch sechs Monate dazu.»
Er antwortete darauf, dass das Buch nicht nur fertig sei, sondern dass, wenn ich noch sechs Monate länger daran arbeiten würde, ich dann wieder sechs Monate fordern würde, und darüber hinaus wieder sechs Monate, dass ich schliesslich so besessen von dem Werk sein würde, dass es nie zur Veröffentlichung käme. Er sagte weiter, und ich glaube mit vollem Recht, dass das verhängnisvoll für mich wäre. Ich sei, so sagte er, kein Flaubert. Ich sei kein Perfektionist. Ich hätte zwanzig, dreissig, ja, jede Anzahl von Büchern in mir, und das Wichtigste sei, sie hervorzubringen und nicht den Rest meines Lebens darauf zu verwenden, aus ihnen ein einziges, vollkommenes Buch zu machen. Er gab zu, dass mein Buch nach weiteren sechs Monaten der Arbeit daran eine bestimmte Vervollkommnung erhalten würde, aber er glaube nicht, dass das so viel ausmache, wie ich dächte, und seiner tiefsten Überzeugung nach müsse das Buch sofort und ohne weitere Verzögerung veröffentlicht werden, ich müsse es loswerden, vergessen und mein Leben wieder der Vollendung des Buches zuwenden, das bereits in Angriff genommen war und auf mich wartete. Er sagte mir auch voraus, wie die Kritik ausfallen würde, die Kritik an seinen Längen, seinen Adjektiven, seiner Überfülle, aber er sagte auch, dass ich keinen Grund hätte zu verzweifeln.
Schliesslich sagte er mir, dass ich mich entwickeln, besser schreiben, dass ich lernen würde, ohne so viel Umstände, Verschwendung und nutzlose Quälerei zu arbeiten, dass meine künftigen Bücher mehr und mehr die Geschlossenheit, Sicherheit und Endgültigkeit besitzen würden, die jeder Künstler seinem Werk wünscht, aber dass ich es eben auf diese Art lernen müsse, auf die ich es jetzt lernte: tastend, kämpfend, mir selbst den Weg bahnend, dass man es anders nicht lernen könne.
Im Januar 1935 las ich die letzten Korrekturen, die ersten Exemplare kamen im Februar aus der Druckerei, und endgültig veröffentlicht wurde das Buch Anfang März. Ich war nicht in New York, als es herauskam. Ich hatte die Woche zuvor einen Dampfer nach Europa genommen, und als das Schiff sich weiter und weiter von der amerikanischen Küste entfernte, sank mir der Mut tiefer und tiefer, und bald befand ich mich im Zustand der hoffnungslos tiefsten Bedrücktheit, die ich, glaube ich, je durchgemacht habe. Grösstenteils scheint mir das einfach eine körperliche Reaktion gewesen zu sein, die unvermeidliche Wirkung des Ausspannens auf den Organismus eines Menschen, der sich fünf Jahre lang bis zur äussersten Grenze seiner Leistungsfähigkeit angestrengt hatte. Ich kam mir vor wie eine riesige Spiralfeder, die, jahrelang straffgespannt, sich nun langsam in den Windungen aus der Spannung löste. Das aussergewöhnlichste Gefühl der Verlassenheit befiel mich, einer Verlassenheit, wie ich sie nie im Leben gekannt hatte, sobald ich an mein Buch dachte. Es war mir bisher niemals klargeworden, wie nah mir das Buch gegangen, wie sehr es ein Teil meiner selbst geworden war, und nun, nachdem es von mir weggenommen worden war, kam ich mir hohl wie eine Hülse vor und so, als lebte ich vergeblich. Und nun war das Buch ja weg, und nun gab es ja nichts mehr, was ich für das Buch tun konnte, und nun hatte ich das abgründig tiefste Gefühl, versagt zu haben. Ich habe irgendwie immer ein bisschen Angst vor dem Gedrucktwerden gehabt, obschon ich mich doch so sehr um das Gedrucktwerden gemüht habe. Es ist wahrhaftig jedesmal, wenn ich etwas geschrieben hatte, so gewesen, dass ich, wenn die Stunde näher kam, da es in nackten Lettern gedruckt dastehn würde, von einer gewissen Verzweiflung überfallen wurde. Jedesmal habe ich dann meinen Verleger angefleht, das Buch erst zur nächsten Saison erscheinen zu lassen, jedesmal habe ich dann die Schriftleiter gebeten, meinen Beitrag noch einen Monat oder zwei liegen zu lassen, denn jedesmal wollte ich die Gelegenheit haben, meine Arbeit nochmals zu überarbeiten, irgendetwas noch daran zu tun, obschon ich nicht immer genau wusste, was.
Nun überwältigte mich ein Gefühl der Scham, und ich schämte mich mehr, als ich mich je geschämt habe. Mir war, ich hätte mich selber verderberisch blossgestellt als ein bedauernswürdiger Narr, der kein Talent habe, ich hätte nun ein- für allemal die Wahrsagungen der Kritiker wahrgemacht, die behauptet hatten, mein Erstlingsbuch sei weiter nichts als ein Abblitzer gewesen. In dieser Gemütsverfassung traf ich am 8. März in Paris ein, und der 8. März war gerade der Tag, an dem das Buch in Amerika ausgeliefert werden würde. Ich war abgereist, um das Buch zu vergessen, und dennoch dachte ich die ganze Zeit an das Buch. Ich lief auf den Strassen herum von früh bis spät, vom Abend bis zum Morgen, mindestens zwölfmal in vierzehn Tagen hörte ich die Frühmesse in Sacré Cœur und ging dann zu Fuss heim in mein Hotel und legte mich um zehn Uhr vormittags aufs Bett, und schlafen konnte ich dann immer noch nicht.
Nachdem das einige Tage so gegangen war, fasste ich einen eisernen Entschluss und betrat gestählten Mutes das Büro der Reiseagentur, wo möglicherweise eine Nachricht für mich eingelaufen sein konnte. Eine Kabelnachricht lag für mich da. Sie war von meinem Verleger, und da stand in schlichten Worten: «Grossartige Besprechungen, etwas kritisch in vorausgewusster Weise, höchsten Lobes voll.» Als ich diese Worte zum erstenmal las, las ich sie mit dem Gefühl einer fast unerträglichen Freude, aber als ich sie dann wiederlas, nochmals las und abermals las, fing der alte, schwarze Zweifel an, mir wieder ins Gemüt zu krauchen, und als es dann Abend geworden war, war ich bereits fest überzeugt, diese wundervolle Kabelnachricht sei der Urteilsspruch meines Verhängnisses, und mein Freund, der Herausgeber und Verlagsleiter, habe aus der unendlichen Fülle seines Erbarmens gerade diesen Weg gewählt, um mir schonend beizubringen, dass mein Buch ein kolossaler Fehlschlag sei.
Es vergingen drei Tage, ich strich wie ein wahnsinnig gewordenes Tier auf den Pariser Strassen herum, und später konnte ich mich fast an nichts mehr erinnern, was in diesen drei Tagen mit mir und um mich geschah. Am vierten Tag schickte ich dem Verlagsleiter ein irrsinniges Kabel, in dem ich ihm sagte, ich könne alles andre eher ertragen als diesen verdammten Zustand der Ungewissheit, und ihn bat, mir die ungeschminkte Wahrheit zurückzukabeln, ganz gleich, wie bitter sie sei. Seine Antwort auf dieses Kabel lautete so, dass ich nicht länger zweifeln konnte an ihm oder an der Aufnahme, die dem Buch zu Haus in Amerika geworden.
Dies beschliesst, soweit mir erinnerlich ist, die Geschichte von der Arbeit an einem Buche und von dem, was dem Mann widerfuhr, der das Buch schrieb. Ich weiss, es ist eine zu lange Geschichte; ich weiss auch, es ist allem Dafürhalten nach eine Geschichte, die ganz angefüllt ist mit dem Bericht von Patzerei und lächerlichen Irrtümern, aber gerade aus dem Grund, eben weil es so eine Geschichte ist, hoffe ich, dass sie ein wenig von Wert sein mag. Es ist eine Geschichte vom Künstler als Menschen und als Arbeiter. Es ist eine Geschichte vom Künstler als einem Menschen, der aus der grossen, gewöhnlichen Menschenfamilie der Erde stammt und der alles an Herzensnot, Irrtum und Vereitlung kennt, was ein lebendiger Mensch kennen kann.
In der gesamten Menschheitsgeschichte ist das Leben eines Künstlers nie leicht gewesen. Und hier in Amerika, schien es mir oft, mag es wohl das härteste sein, das Menschen je kannten. Ich spreche nicht von der Stagnation unseres Lebens, von einer gewissen geistigen Öde, einem sauren Philistertum, die sich gegen das Leben des Künstlers wenden und seine Entfaltung hindern. Ich spreche nicht von diesen Dingen, weil ich nicht mehr in dem Masse an diese Bedrohung glaube wie früher. Ich spreche, wie überall hier, von konkreten Dingen, von tatsächlichen Erfahrungen des Künstlers, über die von ihm zu leistende physische Arbeit. Das scheint mir eine Arbeit zu sein, deren Ausmass hier grösser und schwieriger ist als in irgendeinem anderen Land der Erde. Nicht nur darum, weil der amerikanische Künstler in den Kulturen Europas und des Orients keinen Stoff, keinen Bauplan, keinen Traditionskörper findet, der seinem Werk die Beständigkeit und Wahrheit verleihen könnte, die es haben muss. Er muss sich nicht nur eine neue Tradition selbst bilden aus seinem eigenen Leben und der enormen Weite und Kraft amerikanischen Lebens formen, aus der Struktur seines eigenen Wesens heraus; er steht nicht nur diesem Problem gegenüber; mehr als all das ist es seine Aufgabe, nach einer vollständigen und vollkommenen Ausdrucksmöglichkeit zu suchen, ein ganzes Universum und eine vollkommene Sprache zu entdecken.
Diesem Kampf müssen wir in Zukunft unser Leben widmen. Aus Billionen Formen Amerikas, aus der wilden Gewalttätigkeit und der dichten Komplexität seines schwärmenden Lebens; aus der einmaligen und einzigartigen Substanz dieses Landes und unseres Lebens darin müssen wir selbst Kraft und Energie holen, die Artikulierung unserer Sprache, die Substanz unserer Kunst nehmen.
Denn dort, so scheint es mir, werden wir auf so harte und ehrliche Art die Zunge finden, die Sprache und das Bewusstsein, die wir als Menschen und als Künstler besitzen müssen. Dort müssen wir, die wir nicht mehr haben als das, was wir besitzen, die wir nicht mehr kennen, als wir kennen, die wir nicht mehr sind, als was wir sind, unser Amerika finden. Hier, in dieser Stunde und in diesem Augenblick meines Lebens, suche ich mein Amerika.


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