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Thomas Kunst: Freie Folge

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Jan Kuhlbrodt

Zu Freie Folge



Der Autor ist nicht tot, wie Barthes behauptet, er hat sich nur in Texte aufgelöst, und wir, die Leser, hüpfen von Blatt zu Blatt und folgen dem Falkner willig, der sich unterwegs verwandelt, vom Handlungsreisenden, der einsamen Briefschreiberin, dem Au-pair-Mädchen, dem müden Ehemann, dem Vogelkundler, in einen Forscher und Minnesänger und wieder zurück, auf anderen Wegen. Wir folgen den Spuren von Stiefeln und High Heels in den verschiedensten Formen von Schnee.

Ja: Freie Folge ist ein Roman, und zwar im besten Romantischen Wortsinne, und zwar weil er sich von jenen oft aufgeplusterten Novellen und langen Erzählungen unterscheidet, die gemeinhin als Romane firmieren. Inzwischen bekommt ja fast jeder Prosatext dieses Label verpasst, wenn er über 50 Seiten hinausgeht, Held und Handlung kennt und sonst auch wie ein Film funktioniert.

Was wir hier aber vor uns haben, ist das Gegenteil solch prosaischer Einfalt und knüpft eher an Schlegels Lucinde und den mittelalterlichen Ritterroman an, zumindest was die formale Vielfalt betrifft. Ausgreifend ist schon der Titel, der, wie im Glossar erklärt, Greifvögel beschreibt, die dem Falkner von Baum zu Baum folgen.

Die Falknerei nimmt im Roman einen gewissen, aber nicht übergroßen Raum ein, was mich, als bekennenden Bewunderer Friedrich II. von Hohenstaufen sehr freut. Ist sein Falkenbuch „Über die Kunst, mit Vögeln zu jagen“ doch meines Wissens der erste überlieferte ornithologische Text.

Kunst führt die Beizjagd aber mit dem Zentrum des 20. Jahrhunderts eng, indem er eine deutsche Expedition beschreibt, die 1938 im Auftrag der Hermann-Göring-Stiftung den Gerfalken erkunden und wieder in Deutschland ansiedeln soll, und natürlich führt diese Expedition in den hohen Norden. Zuweilen läuft es einem kalt über den Rücken. Das ist aber nur ein winziger Einblick in das Handlungsgeflecht, das wiederzugeben der Beschreibung eines orientalischen Teppichs gleichkäme.

Es geht um Einsamkeit, Liebe, Au pair, Landschaft, Falken, Schnee, Abschiede, Hausnummern, befestigte und unbefestigte Straßen, Kühlhäuser, Wolkenformationen,  Zwergbirken, Buckelwale und Sorensens Leimkraut.

Was ich hier versuche, dilettantisch zu adaptieren, wirkt im Buch strukturbildend: Die Kunst der Aufzählung, schnöde formuliert, die Liste. Nein Aufzählung ist das bessere Wort. Listen sind unabhängig, bei Kunst beginnt die Aufzählung innerhalb eines Prosasatzes, um das Satzgefüge im Folgenden zu sprengen, dass es nur so eine Lust und ein Gewirbel ist.
Hier schon löst sich der Prosagestus auf, und so ist es auch kein Wunder, wenn ganze Kapitel als lange Gedichte funktionieren und das sechste Kapitel Im Landesinneren komplett aus kommentierten Sonetten besteht, deren Kommentare das Romanhafte durch die Konstruktion eines Autors zurückrufen.
Dem Sonettisten wird nämlich ein Kommentator zuerfunden, dessen Texte zu den Sonetten wie japanische Kurzformen wirken. Und dieser Autor ist Falkner.

Beigegeben ist dem Buch eine CD mit musikalischen Experimenten Kunsts, dessen Schreiben vom Hören begleitet war, auch hier geht er über alle Grenzen. Großartig!


Thomas Kunst: Freie Folge. Roman. München (Jung und Jung) 2015. 256 Seiten. 24,00 Euro.

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