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Thesen zu einer Theorie der Collage

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Jan Kuhlbrodt

Thesen zu einer Theorie der Collage

1. Alles ist Collage.

2. Zu unterscheiden wären der Begriff, der auf das Kunsthandwerk, die Technik zielt, von einem Begriff zum Erschließen des Ganzen.


3. Beide Begriffe heißen Collage.

4. Alle Begriffe sind Collage. Keiner ist aus sich selbst geboren und keiner findet in sich auch nur eine Mitte.


5. Begriffe borgen voneinander.

6. Auch die Kunst leiht ausschließlich, aber nicht nur von der Kunst.

7. Literatur leiht Sprache.

8. Was wir das Werk nennen, ist ein Quickshot.

9. Was das Kunsthandwerk betrifft, sei hier angemerkt, dass sich die Collage in ihm zu erkennen gibt, weil sie die Scham verliert, die ihr der Gedanke an Größe und Originalität aufgezwungen hat.


10. In der Collage weist das Werk sein Material als Fremdes aus, das Fremde wird sichtbar.


11. Alles Material aber ist fremdes, äußerliches, selbst die eigene Biografie.

12. Die Biografie des Autors muss, um Material zu sein, dem Autor eine fremde werden/sein.


13. Verfremdung ist also nicht nur ein Effekt, sondern eine/die Bedingung der Kunst.

14. Natürlich ist Ich ein Anderer. Aber auch die Anderen sind andere, Material wie ich.


15. Alle Türen sind offen.

16. Kunst macht aus fremden Material eigenes in dem Sinne, dass sie es im Werk einpasst, verdaut, aneignet. (In dem, was wir unter technischem Aspekt eine Collage nennen, wird also das sichtbar, was in der Kunst ohnehin geschieht.)


17. Kunst ist Produktion und Produktion ist Verwandlung des Fremden.

18. Alle Türen sind zu.

19. Im Prozess der Verwandlung, was der Prozess der Aneignung des Materials ist, verwischt der Künstler zuweilen die Spuren, indem er Übergänge schafft. Oder er macht sie sichtbar, indem er auf Übergänge verzichtet. Wie dem auch sei, die Grenzen bleiben bestehen, wenn sie auch nicht sichtbar sind.


20. Der Übergang ist die Spur der Spur.

21. Wenn uns etwas organisch erscheint, hat sich die Ideologie des Eigenen verwirklicht und wir sind uns selbst fremd geworden.


22. Alle Türen sind Türen.

23. Die ins unendlich gehende Falte, die Deleuze als Eigenschaft des Barock begreift, ist heute die des Mantels eines Ratsherren, der, um dem Pater Noster zu entgehen, die Treppe hinaufrennt und dennoch pünktlich ist.


24. Die Wirklichkeit der Kunst ist keine außerkünstlerische Realität.

25. Alle Kunst ist Collage.

26. Vielleicht sollten wir jetzt ein wenig Mallarmé lesen.

27. Embolium: Collage und Zeit

Vielleicht ist Literatur als Zeitkunst zu betrachten wie Musik. Das ergibt sich aus der vermeintlich notwendigen Abfolge ihrer Elemente.

In Halberstadt in Sachsen Anhalt wird gerade Cages ASAP aufgeführt, der Anweisung des Komponisten gemäß so langsam wie möglich. (As Slow As Possible). Diese Aufführung wird mehrere hundert Jahre dauern. Wenn kein Krieg dazwischen kommt oder keine Wahnsinnsnaturkatastrophe.  

Diese Aufführung ist Literatur, denn nur in einem sprachlichen Imaginationsraum ist sie als Vorstellung und nicht als Performance komplett zu erleben. Sie komplett zu erleben ist für einen einzelnen (vereinzelten) Zuhörer nicht möglich, denn er kann nicht gleichzeitig überall und überall gleichzeitig sein.

Im Augenblick, da ich das schreibe, erklingt in Halberstadt kein Ton. Aber diese Stille ist Bestandteil der Komposition, mithin Klang.

Es gibt den Zuhörer aber nur als Einzelnen. Die Rezeption des Werkes ist also die Abfolge einzelner Teilrezeptionen, mithin Collage.

Das ist nur ein Anfang.

Kein musikalisches Werk kann ein einzelner Zuschauer komplett, also in allen seinen Facetten erleben. Das Erlebnis bedeutet immer nur: Ausschnitt.

Wer vor dem Orchester sitzt, sitzt nicht hinter dem Orchester. Wer hinter dem Orchester sitzt, sitzt nicht im Orchester. Wer im Orchester neben der Pauke sitzt, sitzt nicht neben den Geigen. Wer neben den Geigen sitzt, könnte zwar neben den Bratschen sitzen, aber im Allgemeinen sitzt er nicht neben den Posaunen. Usw. Usf.

Das ist banal, aber das Erleben pars pro toto ist unmöglich.


28. Vielleicht ist eine Theorie der Collage, wie sie mir vorschwebt, auch ein Gegenkonzept zu Geschichte und Tradition. Auch könnte sie eine Theorie der nichtaristokratischen Genealogie sein. Denn die Collage hebt die Zeit auf, in dem sie Gleichzeitigkeit schafft. Zeit ist Schichtung. Collage ist Umschichtung.

29. Der Tod des Helden ist nicht das Ende und nicht der Beginn, sondern Grund und Zentrum des Textes.

30. Der Held als Protagonist kann vieles sein, nicht zuletzt sein eigener Antagonist.

31. Die sukzessive Betrachtung / Rezeption dessen, was als Collage begriffen wird, lässt die Umschichtung der zeitlichen Ebenen zu. Vergangenheit wird Zukunft. Künftiges kann Vergangenes sein. Und Vergangenes kennt vergangen Künftiges auch.


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