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Silke Peters: Ich verstehe nichts vom Monsun

Gedichte > Münchner Anthologie

Michael Gratz

Ich verstehe nichts vom Monsun.
Ein Langgedicht von Silke Peters




„Erzählung“ steht im Untertitel. Die Erzählung besteht aus 715 durch eine Leerzeile abgegrenzten Abschnitten von je 3 Zeilen und einem 716ten aus nur einer Zeile. Die Abschnitte sind fortlaufend, prorsa, in Prosa notiert. Ein Ich-Erzähler geht durch die vorpommersche Provinz, man erkennt sie vielleicht an den Namen der Flüsse, Ryck und Peene kommen vor, mittendrin reicht sie an die mecklenburgische Warnow und am Ende an den Neckar. Wer die Stadt Stralsund kennt, wird sie vielleicht auf Seite 3 als Hauptschauplatz erkennen: „Schill unter den Füßen.“ Das meint gewiß nicht den Hamburger Richter Gnadenlos, sondern den preußischen Offizier, der gegen Napoleon kämpfte und in Stralsund, wo er erschossen wurde, nicht nur in Bronze auf die Köpfe der Passanten herabschaut, sondern in Hafennähe, in der Fährstraße, ist eine Tafel mit Namen und Todesdatum ins Pflaster gesenkt. Schill unter den Füßen. Solcherart ist die Genauigkeit der Erzählung. Der Ich-Erzähler oder die Ich-Erzählerin geht durch die Dörfer der Umgebung und durch die Stadt, vielleicht um einen Partner zu besuchen, und führt lange innere Monologe, teils in Ich-, teils in Du-Form, das Du ist manchmal Selbstansprache, manchmal Partner und gelegentlich eine dritte Person: „Die Katze frisst Schnee auf Zeile siebzehn. Wie ich neulich deine Verse gierig las im Kaufhaus.“ Es ist der innere Monolog einer in Geographie, Biologie, Philosophie und Literatur beschlagenen Person, einer Autorin. Es entwickelt sich zu einer Liebesgeschichte und am Ende zur Erzählung einer Hälfte des Lebens. Und zugleich ist sie immer Roman des Gedichts, das sie darstellt bzw. generiert. Kein Roman im Sitzen (Benn), sondern weitgehend im Gehen. Ist es ein Gedicht? (Ist das wichtig?) Seine Sätze umfassen selten mehr als 8 Wörter, oft viel weniger. Im Wechsel zwischen kurzen und kürzesten (Ein-, Zweiwort-)Sätzen entsteht ein rhythmischer Strom, ein Sog – man kann es schier auf einen Zug lesen.

Carceri. Und als keine Bilder mehr kommen und die Zeit doch geht. Warten. Ansitzen zuwarten. Sie. Die emotionale Stenographie. Es bleiben Rümpfe. Den Stift nachspitzen.

Im Gelände. Das Diktiergerät nimmt das Blattrauschen auf. Die Klöppelspitze. Mutter. Ein verstecktes Allergen in den Genen. Eine rasant wirkende Kreuzung. Stockausschläge.

Jahrhundertlang. Staub. Das hat nichts zu bedeuten. Tinca tinca ruft der Name der Beute. Schattenfisch. Eine Verbuttung der vielen Talente. Die Zeit. Frei wählbar.

Schriebe man die Sätze als Verse, entstünde ein Roman in freien Versen von vielleicht 300 Seiten. Solche erzählenden Langgedichte sind in der deutschen Literatur selten, anders als im Englischen. Richard Anders hat einmal seine Lebensgeschichte in freien reimlosen Versen erzählt, bei einer Neuausgabe zwei Jahrzehnte später wandelte er sie dem Markt folgend in Prosa um. Silke Peters geht einen anderen Weg, sie schrieb strophische Verse, bei denen jeder Zeilensprung durch einen Punkt ersetzt wird. „Eine Stilanalyse würde es zu Tage bringen.“ (S. 25) Neun Seiten weiter ein Bekenntnis: „Die Interpunktion hatte mich über den Text gerettet.“ (34) Der Text verwendet nur ein einziges Interpunktionszeichen, den Punkt. Keine Frage-, kein Ausrufzeichen, weder Komma noch Gedankenstrich, kein Semikolon noch Doppelpunkt. Es funktioniert auf verblüffende Weise: obwohl der Text wie Prosa gesetzt ist, besteht er aus einem so kraft- wie klangvollen Versstakkato:

Dehnungen.
Katzengold.
Glimmer.
Wechsel werden geschrieben auf gleichlautende Namen.
In den Vormittag.
Sehr flink ging das.
Vor.
Not ugly enough.


(…)
Den Bruch.
Sprechen wir an mit Pflanzennamen.
Archilea.
Wir entkommen dem Dorf nicht mehr.
Ich fragte nach dem Fuchswort.


(…)
Eine Topographie der Gedenktafeln.
Hier küsste er sie.
Und da war dies.
Haus.
Und noch ein Haus.
Das vor langem verlassen worden war.

(…)
Was sagen uns denn unsere Wünsche aus.
Das Glitzergeheimnis sagt den Schein aus.
Sagt wo wir sind.
Und wie uns Verführung zu Gesicht steht.
Und doch sind wir allein.


(…)
In meinem Buch geschieht nichts von Belang.
Verdorrte Gesprächsanfänge.
Recken sich.
Quittenchiffren.
Wir taten uns nichts an.
Das war sehr merkwürdig.


(…)
Wünsche verraten.
Feuer entfachen.
Dort wird es milder sein.
Ich gehe von nichts aus.
Die silbernen Blätter auf dem Weg.
Samtig.
In der Erinnerung.
Sanddorn.
Schlehen.

Auf der Zunge.
Mir ist kalt.
Die Bücher sterben.
Dickicht.
Vogelherd.
Das Erschrecken des Blicks.
Als wir die Details schönten kamen die Spuren ins Bild.

(…)
Winkende Blüten.
Der Dunst der Flussniederung.
Als wir die Hangkante besichtigten.
Brachen die Häuser entzwei.
Wir hatten es nicht weit von einem Tor zum anderen.


Das ist keine zerhackstückte Prosa, das sind starke Verse. Nicht die (von mir zu Demonstrationszwecken eingesetzte) Mittelachse, sondern die rhythmische Kraft der langen und kurzen Zeilen erinnert an Arno Holz, der statt der formalen Metren (und prosaischen Gedanken) den Rhythmus der Sache selbst ins Spiel und zum Klingen bringt. Nicht nur der reine Klang, der aus rhythmischen Silbenfolgen und Klangmitteln wie Alliterationen und Assonanzen gefügt wird, auch die schön montierten Gedanken, ja, das gibt es, Gedankenklang! Diese Struktur aus Figuren wie Antithesen, Diäresen, Parallelismen, Anaphern und Epiphern, die kurzen Hauptsätze, exakten Blumennamen, Komposita aus Fachsprachen oder als Einmalbildungen, kurz, Ausdrucks- ebenso wie Inhaltsseite erzeugen den schon genannten Sog. Mein Leserat wär, so weit wie möglich ohne große Atem- oder Gedanken- und Entzifferungspausen durchzulesen, durchzujagen.  
Anscheinend bewirkt das bloße Fortlassen der Satzzeichen bis auf das einzige Verstrennzeichen Entscheidendes. Aus sachlich und logisch gegliederten Aussagen und Argumenten werden Verse, die statt auf die prosaische Weise durch diverse klangliche und rhetorische Figuren zusammengebunden werden.
Wie in einem langen Gedicht vielleicht kann man die Handlung über Passagen vergessen vor lauter Rhythmus, schönen Sätzen und Gedanken. Aber das schadet kaum; nicht nur weil eben der Begriff des Verstehens mit bedient und bedacht wird, sondern weil fast an beliebiger Stelle Lesarten neu auftauchen. Ich habe es auch so herum probiert, an beliebiger Stelle aufschlagen und lesen.

Ich möchte über Atriplex reden. Atriplex littoralis. Unkräuter jäten in den langen Reihen von dem was wir sagten. Das ist gut und keine Meldesuppe im Mai. Melde mich. Später.

Ich habe zu viel zu tun. Aus dem Fenster sehen. Aus der Furche auf sehen. An den Fäden spinnen bis sie das Jahr erreichen oder das andere Jahr. Ja sagen. Jasionie sagen.

Die Katze sitzt in der Märzsonne. Noch glaube ich ihr nicht. Den Zufall. Aushalten. Auf den glücklichen Moment warten. Dann plötzlich nicht mehr warten. Auch das ist Sein.

Aber der Stein hat ein Anderes. In ihm ist das steinerne All. Alles. Angeschnittene Wunden der Zeit. Bunte Sandsteine. Und ich vergaß weiter zu lesen. Gänsefüße.

Malta. Malen. Mit Mehl bestäubte Blätter. Die Milde. Vom Geruch der Essigfabrik im Hinterhof. Wach. Eine Grabenviper atmet. Die kleinen weißen Augen übermüdet.

Das ist Poesie, sage ich, die die Kraft hat, Bedeutung zu generieren. Dieses Erzählung genannte Langgedicht hat nicht nur sprachliche Schönheit. Schön und bewegend ist die Geschichte, schön die poetologische Reflexion, die sich durchzieht und schließlich bei Hölderlin ankert. Davon ein andermal.


Silke Peters: Ich verstehe nichts vom Monsun. Erzählung.
Greifswald: freiraum-verlag, 2012. 110 S., € 11,95. ISBN 978-3-943672-06-0

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