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Sabina Lorenz: Wie wir #binden. Wie wir #verschwinden

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Timo Brandt


Warum wimmelt es im Digitalen eigentlich genauso wie in uns …



„wir ließen die Rollläden runter. Wir sperrten die Nacht aus.
Der Computer surrte, er spuckte Neuigkeiten, jeden Augen-
blick. Wir schliefen inmitten von Hashtags, ein Stimmengewirr,
das sickerte in unsere Körper ein, während wir unserem Atem
lauschten […]
Wie >>Ich<< sagen? Die Rolle des Zeugen ist seriöser
im kollektiven Radius der Geschichten. […]
Früh, ganz früh, fischte ich Träume aus dem Netz und hielt sie
für meine eigenen.“


In diesem spiegelnden und blinkenden Kabinett, halb aus dem Wörtchen, dem Zustand,
online, halb aus lyrischen Formen gebaut, kann man sich leicht verlaufen. Hier verdeutlicht jemand, dass alles Dschungel ist: die ganze Welt, schon immer, jeder Eindruck und Augenblick, aber auch die neuen Benutzeroberflächen machen daraus nichts anderes, sie bringen diesen Zustand sogar noch mehr zur Geltung, laufen noch deutlicher auf ihn hinaus.

Viele dieser Gedichte münden in die Leere einer Vorstellungswelt, die dem Digitalen nur noch wenig entgegenzusetzen hat, selbst mit Natur kommt man ihr nicht zu Leibe, mit Träumen, mit Hoffnung und mit Abenteuern nicht. Als wären die Synapsen auf dem besten Weg zwangsläufig ans Internet, an die digitale Verarbeitung gebunden zu werden. Das Datenmeer schwappt und wird von Stürmen gewellt, aber, viel wichtiger: es steigt, daran kann kein Zweifel bestehen – meinen auch diese Gedichte, wie auch schon der Titel ankündigt: Wie wir #binden. Wie wir #verschwinden.

„Wir entstiegen dem Meer. Hier stürzen wir hinein.
Das Grollen der Steine unter den Füßen, suchen
wir nach Messbarem, während Adler steigen
in der Art von Vögeln, die gleichgültig sind
gegenüber dem, was sie unter sich zurücklassen.“


Aber abgesehen von derlei Bezügen – die ich auch nicht übergewichten will, obwohl gerade darin viele interessante Reibungsflächen, die ich hoffentlich etwas herauskehren konnte, liegen – hält Sabina Lorenz' Gedichtband einiges bereit.


Um nur ein Beispiel für die Vielfalt herauszugreifen, sei ihr Gedicht „Orlando“ genannt, das sich mit dem Massaker im amerikanischen Orlando beschäftigt (Daten: 12. Juni 2016, ein Mann tötet in einem Club in Orlando, Florida, der viel von nicht-heteronormativen Menschen besucht wird, 39 Menschen und nimmt außerdem Geiseln) und verknüpft ihre sensible und trotzdem engagierte Einlassung zu diesem Ereignis und seinen Kontexten mit der Thematik von Virginia Woolfs epochalem Roman „Orlando“, in welchem sich eine Transformation vollzieht, nach der ein Mann im 16. Jahrhundert nach einer geheimnisumwitterten Nacht als Frau erwacht und im Folgenden die englische Geschichte bis ins 20. Jahrhundert hinein durch die Augen einer Frau miterlebt. Es ist beeindruckend, wie in Lorenz' Werk Bildwelt, Plädoyer und Fragen der Geschlechterdefinition zu einer stringenten Form zusammenfinden.

Sie scheut sich nicht, die durchaus brisanten tagesaktuellen Verwicklungen wie Äste beiseite zu biegen und auch auf die größere Dimension zu verweisen; zu sagen, was den nicht hetero-normativen Personen, und über Jahrhunderte hinweg auch den Frauen (in vielen Bereichen der Welt bis heute), versagt wurde und versagt wird: die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, das sich nicht an irgendeiner Form von Festlegung und Oktroyierung orientieren soll oder muss – und oftmals wird ihnen auch etwas anderes, ebenso wichtiges versagt: zu lieben, wen sie wollen und wie sie wollen. Ein Gedicht, das ich sehr oft hintereinander gelesen habe und dessen Komposition und Verdichtung ich nur bewundern kann.

„Wir waren wieder jung, vergaßen, dass die Welt
nicht so verliebt in uns war, wie wir ineinander.“


Auch ein oft vorkommendes, oft nachgezeichnetes Motiv sind verlassene Gebiete, verlassene Landschaften, ohne dass wirklich ein Land erkennbar wird in den Zeilen, nur Artefakte, Geräusche, Festzuhaltendes, Eindrücke werden angedeutet, die ein wenig heranwehen, dann wieder entlegen sind. Orte, fern irgendeiner Form von Welt, wie sie derzeit über die Kontinente rauscht, globalisiert und ständig frequentiert. Es ist da eine Sehnsucht in mancher Zeile, die alles gern ein wenig mehr belassen sehen will, nicht so oft aufgegriffen, sondern in Ruhe, besetzt von einer stilleren Bedeutung.

Kritische Anstöße, geschwind hochgezimmerte und angebrochene Erinnerungen. Zwischen kleineren Wortspielen und Dynamiken, fächert der Band Einlagen der Vertrautheit auf und reißt sie wieder ein. Auf der Suche scheint er zu sein, nach Facetten, nach einer Möglichkeit, es mit der Wahrnehmung an Gestaltungsfreiheit aufzunehmen und wiederzugeben, was eigentlich schon zerknüllt ist, wenn man danach greift.

Manchmal bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich das starke in-Besitz-Nehmen, das in dem Band geschieht, nicht etwas schwierig finde. Hier und dort fühle ich mich vom lyrischen Ich etwas gegen die Wand gedrängt. Aber mir gefällt die Sicherheit im Ton – egal wie fein er wird, er bleibt immer bestimmt. Und erschafft dennoch viele Nuancen, die zusammen eine große Offenheit darstellen.

Es gibt einige Gedichte in „Wie wir #binden. Wie wir #verschwinden“, die ich großartig finde, noch mehr, in die ich eingetaucht bin – es sind oft Gedichte, wie bereits gesagt, in denen man sich verlaufen kann. In diesem Band wurde, so behaupte ich, ein hohes Maß an Erlebnis verarbeitet, und trotzdem ist es keine Bekenntnis-, keine Nostalgielyrik. Das zeigen nicht nur die teilweise spielerischen, experimentellen Ansätze und die Momente, in denen die Bewegung eher einer Versuchsanordnung als einer Offenbarung gleicht, oder in denen Betrachtungen angestellt werden, bei denen man nicht darauf vorbereitet ist, dass sie sich derart ergeben können, sondern auch die schmalen Widerstände, die eingebettet sind in die Wahrnehmungskaskaden und die die Sprache von Sabina Lorenz durchziehen: schmale Gräben, die immer zwischen ihrer Sprache und dem Objekt bleiben, Niemandsland, in dem auch die Wahrnehmung fast ein Niemand wird.

„Wie die Wolken sich türmen dieser Tage, schon
fängt es zu regnen an, und wenn ich eins wär
mit den Dingen, würde ich bestehen.“



Sabina Lorenz: Wie wir #binden. Wie wir #verschwinden. München (Allitera Verlag - Lyrikedition 2000) 2016. 80 Seiten. 11,50 Euro.

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