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Rocío Cerón: Diorama

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Timo Brandt

„Resonanz oder vorübergehendes Schicksal zwischen den Schläfen“



„Jeder nackte Körper erschlägt die Theorie. Rotierender Raum. Himmel.“


Den Werken der mexikanischen Poetin Rocío Cerón gelingt ein Kunststück: sie schillern extravagant, sind ehrgeizig, komplex und eigenwillig, und häufen doch unentwegt Brisanz an, ja, ich hatte sogar oft das Gefühl, dass sie möglichst nachhaltig Zeugnis ablegen, auf möglichst viel hinaus oder es zumindest andeuten wollen; ihre Intensität ist nicht nur die Intensität der sprachlichen Verdichtung, des sprachlichen Spiels, sondern zielt aufs Körperliche, Historische, Konfliktgesättigte.

Dabei werden oft Dimensionen und Bilder aufgemacht, die Unübersichtlichkeit und Beengtheit zusammenführen. In dem Lang-Gedicht „Bricolage oder die unstete Erde der Nationen“ z.B. kommt immer wieder ein rhythmisch eingestreutes „Pleura“ vor, das lateinische Wort für das Brustfell (eine dünne Haut, die unter dem Brustkorb um die Lunge gelegt ist – also um jenes Organ, mit dem wir atmen – Panik, Angst und Lebendigkeit sind damit verbunden; und obgleich der Schrei in der Kehle entsteht, kann man auch ihn gut mit diesem Organ in Verbindung bringen.) Eine Szene aus dem Gedicht klingt dann so:

Pleura

Aus meinem Bruder will ein Schrei platzen, doch er entweicht nicht.

Schläge auf dem Platz,

Füße, die Gedächtnis schaffen.

Marsch.

Kooperiert nicht, mischt sich nicht ein.

Gericht oder Gefängnis, ein Kind weiß nicht, ob sein Vater wiederkommt.

Pleura.


Dieses Zusammenführen von Körperlichkeit & Enge mit der Ungewissheit und den monströsen Ausmaßen (verkörpert in den Füßen, die marschieren, die Gedächtnis schaffen), die über den eigenen Horizont hinausgehen, eruiert auf subtile Weise Betroffenheit und Brutalität.

Dioramen sind Schaukästchen, in denen in Miniaturform vor einem aufgemalten, arrangierten, illustrierenden Hintergrund Szenen dargestellt werden. Tatsächlich lesen sich viele der Gedichte wie Ausstellungen, Versuchsanordnungen, szenische Einstellungen.

Der erste Gedichtzyklus des Bandes heißt „13 Arten eine Ecke zu bewohnen“ und besteht aus Prosagedichten, die eher schraffieren als konsequent verdichten. Sie enden mit kursiv gesetzten Begriffen, die fast wie ein Fazit wirken, breiten sich aber vorher in viele Richtungen aus, so dass die abschließende Verengung nicht wirklich greift und eher wie ein Kontrapunkt zu den sich einstellenden Assoziationen wirkt.


„Wo die Schiffbrüchigen singen, dorthin zielt das Auge. Zum südlichsten Blickwinkel – Gefilde der Erinnerung – Klang der bleiernen Kälte […] Und zwischen Winter Neunzehnhundert-zweiundsiebzig und der Prophezeiung Weltuntergangzweitausendzwölf ein Tag wie der andere. Babylonische Grammatik. Niedergang.“


Cerón führt ihre Texte häufig auf, verknüpft sie mit Musik, Video und Darstellung. Das merkt man den Texten an, sie haben einen Arrangement-Charakter, der über die Buchseite hinausweist. Auch wenn sie lesenswert und literarisch sind, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass viele Abschnitte dennoch nach einem zusätzlichen Kontext verlangen, der ihnen mehr Nachdruck und Eindrücklichkeit verleiht, nach einer Dynamik, die mit einem Publikum, mit einer Konfrontation verbunden ist. Vielen Wendungen merkt man an, dass sie beschleunigt werden wollen, nach einer gewissen Heftigkeit verlangen, die eine poetische Formulierung allein nicht einlösen kann.

Aber es gibt auch Passagen, die beim Lesen wunderbar beschwörend wirken – und es bleiben viele Eindrücke zurück. Auch und ein großer Pluspunkt ist die Wiederlesbarkeit, da die Texte viele Möglichkeiten für unterschiedliche Schwerpunktsetzungen bieten. Stellt sich am Anfang eines der Zyklen ein neuer Eindruck ein, ändert sich dadurch meist die Art, wie man den ganzen weiteren Verlauf wahrnimmt.

„Zwischenakt. Auf der Oberfläche eines Wals. Der Totengräber schwimmt an seiner Seite. Das Bild wird sehr gut erklärt durch seinen Untertitel -Selbstmord im Aquarium-. Fades Grau und Fund. Vorher sang er, noch Stunden zuvor, die Menschenmenge. Noten von der Bändigung. Damals hieß Welt, jene Schönheit zu verherrlichen.“


Im Einbandtext wird von einem „zurückhaltenden Ansturm“ gesprochen, der „massiv und flüchtig zugleich“ ist. Das beschreibt sehr gut die Art der Begegnung, die in diesen Gedichten stattfindet. Zuerst wirken sie beinah starr, doch schon sind ihre Zusammenhänge fast zu bewegt, jeder Vers scheint mit jedem anderen zu kommunizieren oder eben gerade nicht. Und so gilt:

„Riss, wo auch immer er ist“


und die Texte sind:

„Ein Scharnier zwischen Wirklichkeiten“


Diorama ist eine lohnende und sehr inspirierende Leseerfahrung. Teilweise fehlt wohl einiges an Background, an Konzeptergänzung, aber mit der Sprache von Cerón kann man sich dennoch ergiebig auseinandersetzen. Das schmale Bändchen lädt zu vielen Lektüren ein.


Rocío Cerón: Diorama. Übersetzt von Hakan Özkan. Berlin, Tübingen (Verlag Hans Schiler) 2017. 80 Seiten. 16,00 Euro.


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