Direkt zum Seiteninhalt

Robert Musil: Wie hilft man Dichtern?

Poetik / Philosophie > Glossen


Robert Musil


Wie hilft man Dichtern?



1.


Vor allen Dingen mache man sich eines klar: das Elend, das die deutschen Dichter leiden, ist keine wohlwollende Übertreibung vorsorglicher Freunde. Ich habe in der letzten Zeit mit vielen der ersten Schriftsteller persönlich über ihre Verhältnisse gesprochen und kenne sie aus eigener Anschauung. Keiner der bekanntesten und gefeiertsten deutschen Dichter lebt – nicht nur heute, sondern schon seit Jahr und Tag – von seinen regulären Einnahmen. Sie leben von Auslandstantiemen, Übersetzungen ihrer Werke, Verfilmung, Mitarbeit an ausländischen Zeitschriften, Luxusausgaben, kurz von unberechenbaren, wechselnden und unverläßlichen Nebeneinkünften. Es ergibt sich selbst in Fällen ganz prominenter Persönlichkeiten alles in allem nicht mehr als ein Sich-gerade-noch-über-Wasser-Halten; eben hinreichend, um nicht den Haushalt auflösen und die Möbel verkaufen zu müssen, also fast im besten Fall jenes Existenzminimum, das unsere Beamtenfamilien zur Verzweiflung getrieben hat, bevor es aufgebessert wurde. Und mitunter ist selbst dieses Minimum nicht da; ich weiß, daß ein in ganz Europa bekannter Mann Bittbriefe schrieb, um Unterkommen bei einer Zeitung zu finden. Blickt man vollends in die nächste Schicht – zu jenen Dichtern, die jünger sind, aber immerhin auch schon meist um Vierzig, deren Werke nicht geringer an Wert sind, aber weniger Zeit und eine ungünstigere Zeit gefunden haben, um sich auszuwirken –, so kann man überhaupt keinen nennen, der mit Anspannung aller schriftstellerischen Mittel auch nur das Existenzminimum fände. Ich schätze, daß keiner mehr als die Hälfte dessen verdient, was eine Familie zum nackten Leben braucht. Einer der Besten und Bekanntesten verliert seine Zeit mit ärztlicher Praxis, ein anderer, dessen Name überall mit Achtung genannt wird, mußte sich von seinen Kindern trennen, weil er sie nicht mehr erhalten konnte, ein dritter und vierter leben von Zuwendungen ihrer Gönner, die jeden Augenblick ausbleiben können. Wohlgemerkt, hinter all dem stehen Namen, die jedem bekannt wären, wenn ich sie nennen würde, und es handelt sich nicht um Leute, die als Schriftsteller ihr Auskommen nicht finden können, sondern um solche, die früher von ihren literarischen Einnahmen lebten, ihr Leben auf diesen Beruf eingestellt haben und jetzt weggespült werden.
Man wird vielleicht sagen: immerhin leben sie noch. Aber am Rand, am äußersten Rand leben sie! In einer Lage von so unerträglicher Ungewißheit und Unwürdigkeit, daß kaum einer noch schaffen kann. Angeklammert an eine Existenz, die niemals einem anderen begabten Mann genügen würde. Bettelnd bei deutsch-böhmischen, Schweizer, amerikanischen Redaktionen. Und ich kann ohne Übertreibung und auf Grund genauer Kenntnis versichern: in jeder Sekunde kann es sich ereignen, daß einer hinabgerissen wird. Es braucht bloß eine seiner kleinen Nothilfen auszulassen und nicht gleich ersetzt werden zu können. Will man auf die Sensation des ersten Selbstmords warten?

2.


Aber was eben beschrieben wurde, läßt Ausnahmen zu. Das wirtschaftliche Bild ist keineswegs übersichtlich. Man braucht bloß das literarische Café irgend einer Großstadt zu betreten, und staunt: wer alles Geld für Müßiggang, Getränk, Zigaretten und Neugründungen hat. Die Wahrheit ist: praktisch begabten Literaten geht es heute ebensowenig schlecht wie anderen praktischen Menschen. Der Handel mit Bildern, Büchern, Möbeln, Genußmitteln, Filmideen und Schwindel jeder Art scheint sie ausreichend zu versorgen. Und von dieser Schicht Menschen führen Abstufungen des Geschicks und der Geschicklichkeit zu solchen, welche sich rechtzeitig als Korrespondenten ausländischer Zeitungen installiert und Anschluß an die Journalistik gefunden haben, oder an den Film, das Theater, Kabarett, den Buchhandel usw. Unter ihnen sind manche wertvolle Menschen, aber auch viele Nutznießer und Anpassungsfähige. Gekrönt wird diese Kategorie von der geradezu hochbürgerlichen Existenz einiger bekannter Schriftsteller, deren Fähigkeit, Geld zu verdienen, selbst heute noch ihre anderen, durchaus nicht geringen Fähigkeiten überragt.
Man sieht, nicht alle leben im Schatten. Aber man darf sich von dieser Anpassungsfähigkeit ebensowenig beirren lassen wie von jener anderen, die es einzelnen erlaubt (und anderen eben nicht) ihre schriftstellerische Tätigkeit in den Mußestunden eines bürgerlichen Berufes auszuüben. Man kann mit wenig Ausnahmen behaupten, daß es den Besten am schlechtesten geht. Ein berühmter Kritiker, als diese Zustände erst heraufzudämmern begannen, hat die Meinung ausgesprochen, es würde der deutschen Literatur nicht schaden, wenn ein großer Teil ihrer Träger zugrunde ginge oder in andere Berufe abwanderte. Das hatte manches willige Ohr für sich; aber es zeigt sich jetzt, daß die zuerst untergehen, welche übrigbleiben sollten.

3.


Es ist schön, daß ein österreichischer Minister den deutschen Dichtern helfen will. Man kann es generell oder individuell tun. Generelle Hilfe dem ganzen Stand, individuelle den wertvollsten Opfern.
Ich glaube eben gezeigt zu haben, daß das zweite ziemliche Sach- und Personenkenntnis erfordert, und außerdem hat man hier unter den Unsicherheiten künstlerischer Wertung zu leiden. Aber wenn die Spende einfach dem Reich übermittelt wird, so gelangt sie voraussichtlich durch den Reichskunstwart zur Verteilung, jene amtliche Stelle, die auch sonst Zuwendungen an die Künstler verwaltet, und ihre Zusammensetzung bürgt dafür, daß nur Bedürftige und zum Teil wenigstens auch die Würdigsten beteilt werden. Trotzdem wird es gut sein, die Absicht oder welche sonst man statt ihrer hat, rechtzeitig öffentlich zu machen, damit die, welche es angeht, die Möglichkeit haben sich zu äußern.

4.


Solche Hilfe kann aber ihrer ganzen Natur nach nicht viel mehr sein als ein kleiner, an einem Sterbenden verübter Samariterdienst, wenn nicht gleichzeitig vorgegangen wird, um die Lebensbedingungen des ganzen Standes wiederherzustellen. Ich sage Stand, denn wenn man die Dichter retten will, das heilige Dutzend oder Hundert wertvoller freier Geister, so geht dies nicht, indem man ihnen etwas zusteckt, sondern man muß das Schrifttum überhaupt wieder zur Lebensmöglichkeit machen. Nur keine Illusionen über diesen Punkt! Ich wünsche jedem schlechten Schriftsteller die Pest an den Hals, aber ich muß sorgfältig sein Leben schützen, weil ich wirtschaftlich sein siamesischer Zwilling bin. Durch Jahrzehnte hat man die Dichtung als einen Luxus behandelt, der dem kaufmännischen Betrieb überantwortet blieb, den Gesetzen der Sensation und der Nachfrage, und da viele davon leben konnten, haben die Wertvolleren und weniger Marktgängigen gerade auch noch ihr Auskommen gefunden; das war das Verhältnis in der blühenden Wirtschaftslage vor dem Krieg und was sich heute abspielt, ist nichts als die Fortsetzung in einer Zeit der allgemeinen Krisis. Ich glaube, daß da nicht plötzlich mit Idealen, sondern nur mit Wirtschaftspolitik geholfen werden kann, genau so wie man sonst irgendein bedrohtes Gewerbe unter den Schutz besonderer Aufmerksamkeit stellt. Ich will keine Ratschläge erteilen, die Fragen sind nicht einfach und nur durch Zusammenarbeit von Wirtschaftspolitikern mit einer berufenen Vertretung des Schrifttums vorwärtszubringen, aber jedes Kind weiß, daß am Buch heute viel zuviel Zwischenprofit hängt, daß alle an der Herstellung Beteiligten zu einer Zeit noch auskömmlich daran verdienten, wo der Urproduzent, der Schriftsteller, schon so gut wie nichts erhielt; wir wissen von den Zeitungen, daß viele der größten nicht eingegangen sind, und wenn sie auch Grund zur Klage haben, sich doch sozusagen blühend durchhungern, aber ihren externen Mitarbeitern Schandhonorare bieten, auch wenn es Weltblätter sind; wir wissen schließlich auch, daß die Theater die Interessen ihrer Aktionäre bei weitem nicht so im Stich gelassen haben wie die der Dichtung. Tausende von Existenzen bauen sich heute auf dem Dichter auf oder entwickeln sich in Symbiose mit ihm, der als einziger seine Existenz dabei nicht findet; sollte ein solches Wirtschaftsbild nicht durch einigen zielbewußten Druck zum Besseren verändert werden können, auch ohne daß man in einer krisenhaften Situation das Oberste gleich zuunterst kehren muß?

5.


Ich möchte mir erlauben, dem Herrn Minister, der für die deutschen Dichter so dankenswert eintrat, eine weitere Anregung zu geben. Wir in Österreich lebenden Dichter werden unser möglichstes tun, um der seinen zu folgen, und es gibt einiges, was uns diesmal noch ermöglicht, zu einem Notfonds beizutragen. Aber was viel wichtiger ist: wir sind in Österreich lebende deutsche Dichter. Das heißt für jeden, der die Verhältnisse kennt, unsere Wirkungs- und Lebensquellen liegen und versiegen größtenteils in Deutschland, die Gefahr des Untergangs ist für uns die gleiche, als ob wir im Reich lebten. Wenn nun in der österreichischen Regierung Gefühl dafür vorhanden ist, daß der deutschen Dichtung geholfen werden muß, so hat sie Anlaß und Legitimation genug, um damit in jedem Augenblick vor ihrer eigenen Tür zu beginnen. Die österreichische Ecke ist klein, aber sie ist heute wichtig. Die Erscheinungen in Deutschland wiederholen sich hier, spielen herein und lassen sich auch von hier beeinflussen. Eine repräsentative Vertretung der Schriftsteller (es gibt heute keine in Österreich), mit der man die Materie behandeln könnte, wäre rasch aufgestellt, und gelänge es, im eigenen Bereich einiges an der Lage des Standes zu verbessern, so würde das Beispiel, bei den engen Beziehungen, die bestehen, im gleichen Augenblick auf Deutschland überspringen und die größte Wirkung haben ...


[1923]

Zurück zum Seiteninhalt