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Philippe Beck, Jacques Rancière: Die Furche des Gedichts

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Jan Kuhlbrodt:

Überlegungen zu Philippe Beck
 
"Populäre Gesänge" und "Didaktische Gedichte"



Zunächst einmal einen großen Dank an Tim Trzaskalik, der die Bücher, um die es im Folgenden geht, übersetzt hat, und mir damit die Reise ermöglicht: Zwei Bücher von Philippe Beck, die beide für sich vielleicht etwas spröde erscheinen, und ein Buch Rancières, das von den Texten Becks ausgehend, die Möglichkeit einer zeitgenössischen Poetik diskutiert. Doch das Spröde an Beck ist nur der erste oberflächliche Eindruck, denn sie wirken, wenn man über sie streift wie Glaswolle. An der scheinbar glatten Oberfläche verhakt sich das Denken.

Vermutlich schlicht geht nicht vom Fleck/ Es ist der Wieder-Schlichte oder der Vor-

Die Lust an diesen Texten kommt zwar mit der Lektüre, entfaltet sich aber vor allem mit und im Nachdenken darüber. Exemplarisch dafür kann Ranciéres Buch gelten, das außer dessen Vorträgen auch Diskussionen zu französischen Philosophinnen und Philosophen dokumentiert.

Eine Rezeption von Märchen der Gebrüder Grimm in Frankreich überrascht durch seine Verspieltheit und Frische. Ich kann natürlich nicht von der breiten Rezeption erzählen, weil ich sie nicht kenne, aber ich kann auf zwei Autoren verweisen, deren Aneignung diametral unterschiedlich aber gleich spannend (und lustvoll) ist. Zum einen ist da Éric Chevillard, der eine Version des Tapferen Schneiderleins vorgelegt hat, in welcher er das Märchen streckt, durch Abschweifungen, aberwitzige Reflexionen, Suberzählungen usw., dass es nur so eine Freude ist. Und auf der anderen Seite eben der Lyriker und Philosoph Phillippe Beck in ‚Populäre Gesänge‘, der Grimmsche Märchen eindampft, auf ihre Substanz prüft, und auf kürzester Wegstrecke auch noch kommentiert.

Er studiert den Schnitt der eis- oder/ holzflächen in der Kunst, vielleicht./ Auf der erde, die hält.
(aus: Musik nach: Der wunderliche Spielmann)

„Das Gedicht/Objekt mit seinem Stoff und seinem Unterricht ist nicht das Gedicht, das auf die Quintessenz der in allen Sträußen fehlenden zurückgeführt wird; es ist im Gegenteil das Gedicht in der Multiplizierung all seiner Zustände: das erweiterte, rezensierte, kommen-tierte, interpretierte, parodierte Gedicht.“
(Ranciere: Die Furche des Gedichts. Zu Philippe Beck.)

Kaum vorstellbar, dass jemand im deutschsprachigen Raum seine Dichtungen didaktisch nennen würde. Zu negativ wirkt dieses Wort: Didaktisch: der Text, so meint man, schreibe vor, wie er zu lesen sei, wie zu lesen sei im Allgemeinen. Zu viel Vorschrift. Vielleicht aber gibt es einen unbedingten Willen zur Schönheit, der einem unbedingten Willen zum Wissen verbunden ist, vielleicht sind sie Geschwister wie Schönheit und Güte bei Augustinus. Aber dieser Gedanke wird den Texten Becks nur bedingt gerecht, betont er doch eher das rückwärtsgewandte Moment der Romantik, also Eichendorffs Zauberspruch, der die Dinge zum Singen bringen soll. Becks Blick geht eher in die andere Richtung. Der Gesang ist nicht der der Dinge sondern einer, der mit ihnen korrespondiert.

Es gibt auch hierzulande dichtende Theoretiker, doch sie achten sehr darauf, die Genres zu trennen, was ihre Dichtung banal werden lässt und ihre Theorie ungestalt. Aber:

„Die neue Didaktische Dichtung kann nicht mehr die Kunst sein, den Unterricht in Ackerbau für Analphabeten in Verse zu packen, sie muss ihre 'Fürsorge für die Zahl derer, die nicht schreiben' anders verstehen: als von allen geteilte Achtung vor der Dicke der Worte und der Dichte der Sätze.“

Rancière zitiert hier das 6. Gedicht aus „Didaktische Dichtung“, das den Titel Lesen trägt und mit  an Pavese untertitelt ist. Und dieses Gedicht, das nach dem Lesen fragt, ist alles andere als ein Lob des herablassenden Akademismus. Es trägt durchaus die Bedingungen zeitgenössischer Arbeitsteilung vor:

„Derjenige, der umgang hat mit sachen/ oder mit menschen/ eher als mit büchern,/ der morgens weggeht und abends zurückkommt,/ verhärtet,/sieht,/ wenn er eine seite betrachtet/ abstoßendes,/ befremdliches, fliehendes,/ und kräftiges,/ das ihn schindet/ und an kraft gewinnt./ Er ist näher/ am wahren lesen, erstaunt und staunend widerstehend,/ als die eingewöhnten schlecht gewöhnten.

Sicher beschreibt Beck in diesem Gedicht einen paradoxen Zustand, der gewissermaßen das Verstehen vom Verstehenden trennt. Die Paradoxie lässt sich theoretisch nicht auflösen, erhält aber so etwas wie ein Erlösungsversprechen als regulative Idee.

„Die „progressive Universalpoesie“ ist nicht der Schwindel eines durchgeknallten Signifikanten, sondern die Kunst, die erdrückende Arbeit der Worte an Worten, aus der das Geschichte genannte Gewebe besteht, zu punktieren.“ schreibt Ranciere a. a. O S. 22.
 
Dass man die Dinge nicht in die Texte kleben könne, merkt auch Adorno an. Konkreter findet sich das bei Rancière in Verweis auf Mallarmés Essay "Verskrise": "Das Holz der Bäume oder die Lokomotive, heißt es, werden nicht ins Gedicht hineingehen, es sei denn, man verzichtet darauf, das Buch zuschlagen zu können." In einem überlieferten Sinn sind Rancières Bemerkungen zu Beck vielleicht sogar poetischer als Becks Gedichte.

„Die Sprache ist Instrument und Stoff; der Stoff Instrument; das Instrument Stoff. Das Universum der Worte, das sich zu solchen Alterationen anbietet, ist nicht der Spiegel von Narziss, sondern der große unpersönliche Teppich.“

Aber Becks Poesie, induziert den Gedanken gewissermaßen, macht ihn zuallererst möglich.


Philippe Beck: Populäre Gesänge. Übersetzt von Tim Trzaskalik. Berlin (Matthes & Seitz) 2011. 239 S. 26,90 Euro.

Philippe Beck: Didaktische Gedichte. Übersetzt von Tim Trzaskalik. Berlin (Matthes & Seitz) 2018. 216 Seiten. 26,00 Euro.

Philippe Beck, Jacques Rancière: Die Furche des Gedichts. Übersetzt von Tim Trzaskalik. Berlin (Matthes & Seitz) 2018. 164 Seiten. 16,00 Euro.
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