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Peter Waterhouse, Nanne Meyer: Die Auswandernden

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Jan Kuhlbrodt

Zu Peter Waterhouse / Nanne Meyer

Die Auswandernden



Die Auswandernden ist ein Buch zur Zeit. Zu einer Zeit, in der von Flüchtlingsströmen und -flut gesprochen wird. Wo sich viele und auf verschiedenen politischen Ebenen Sorgen machen um etwas, was sie ihre Identität nennen, und was sie schwer zu fassen bekommen. Fragt man nach, was sie damit meinen, und weil Identität in einer dynamischen Welt keine Festigkeit besitzt, bedienen sie sich, um sich ihrer zu versichern, einer überkommenen, nationalistischen, sexistischen und aggressiven Terminologie, um das Eigene festzuklopfen. Eine Position, die es auf allen Seiten der Grenzen gibt. Diese unbewegliche festgezurrte geknebelte Sprache, die sie benutzen, kann man mit gutem Recht als das Gegenteil von einer poetischen bezeichnen. Insofern ist es ein immer aktuelles Buch.


Eine poetische Sprache aber findet sich unter anderem hier in diesem Buch, und nicht nur weil wir darin Werken von Stifter und Dickens begegnen. Poetisch meint nicht dichterisch im engen Sinne, sondern beweglich und selbstreflexiv. Herstellend, hervorbringend vielleicht, und damit nicht verfestigend.

Die Perspektive auf die Sprache im Buch ist mehrfach gegliedert. Neben Literatur-, Alltags und Amtssprachen ist da Media, eine der Auswandernden, die der Sprache im neuen Sprachraum auf verschiedene Art begegnet, und zum anderen der Icherzähler, der die Sprache, die eigentlich die seine ist, an ihrer Seite neu empfängt.
Die Begegnung der Fremden mit der eigenen Sprache macht deren Fremdheit auch jenem sichtbar, der in ihr aufgewachsen ist. Aber, und das scheint mir in diesem Buch der springende Punkt, diese Fremdheit ist nicht der Grund von Bedrohung.


Bedrohung erfahren der Icherzähler und Media viel eher aus verkrusteten politischen und bürokratischen Strukturen. Dort also, wo Sprache sich gar nicht mehr bewegt.

In der Mitte des Buches findet sich eine Meditation des Icherzählers angesichts eines Fremdwörterbuches, das Media von ihrer Schwester geschenkt bekommen hat. Großartig geschildert die Spannung aus konservativ ideologischem Vorwort und den Wortlisten, die es birgt.

Dann die Beispiele der fremden Worte, alphabetisch geordnet, nein, alphabetisch in Unordnung  gebracht, die der Schreiber wohl nicht gelesen hatte, nicht bemerkt hatte, weil sie ihm als Fremde galten oder als etwas galten und daher die andere Ordnung und Sprache unbemerkt blieb: Essig, Evangelium und Fenchel, Fenster und Flamme, Flaum, Flegel, Form, Frucht, Glocke, Grad, Granit, Grenze, …


In der Aufzählung findet sich wohl der Beginn der Poesie.

Und auch in den großartigen collagehaften Bildern von Nanne Meyer, die den Text weniger illustrieren als begleiten und kommentieren, finden sich einzelne Worte und Wortgruppen aufgeklebt, gewissermaßen implantiert, die mit der gezeichneten Umgebung in Interaktion treten.

Wenn Waterhouse dem Buch den Titel Die Auswandernden gegeben hat, befinden wir uns schon Mitten im Sprachspiel. Zum einen finden wir darin einen Prozess, der nicht mit Grenzüberschreitung sein Ende findet. Es wird durch die Grenzüberschreitung nicht wie im Wort (oder Begriff) der Ausgewanderten ein Status erreicht, sondern ein Fluss. Um in einen neuen Status zu wechseln, braucht es die Anerkenntnis eines Ziellandes, das die Ausgewanderten als Eingewanderte begreift. Und natürlich müssen sie selbst sich als solche begreifen. Es ist nicht ganz ein Gegenentwurf zu Sebalds Die Ausgewanderten (gleichwohl ein Text vom selben Rang), weil der Fluss, der hier beschrieben wird, noch keine Mündung kennt.


Peter Waterhouse, Nanne Meyer: Die Auswandernden. Roman. Fürth (starfruit publications) 2016. 256 Seiten. 28,00 Euro.

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