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Norbert Lange: Kontrafaktisch - zu Lorcas "1910"

Memo/Essay > Memo

Federico García Lorca


1910 (Intermedio)

Aquellos ojos míos de mil novecientos diez
no vieron enterrar a los muertos,
ni la feria de ceniza del que llora por la madrugada,
ni el corazón que tiembla arrinconado como un caballito de mar.

Aquellos ojos míos de mil novecientos diez
vieron la blanca pared donde orinaban las niñas,
el hocico del toro, la seta venenosa
y una luna incomprensible que iluminaba por los rincones
los pedazos de limón seco bajo el negro duro de las botellas.

Aquellos ojos míos en el cuello de la jaca,
en el seno traspasado de Santa Rosa dormida,
en los tejados del amor, con gemidos y frescas manos,
en un jardín donde los gatos se comían a las ranas.

Desván donde el polvo viejo congrega estatuas y musgos,
cajas que guardan silencio de cangrejos devorados
en el sitio donde el sueño tropezaba con su realidad.
Allí mis pequeños ojos.

No preguntarme nada. He visto que las cosas
cuando buscan su curso encuentran su vacío.
Hay un dolor de huecos por el aire sin gente
y en mis ojos criaturas vestidas ¡sin desnudo!


New York, August 1929


1910 (Zwischenspiel)

Meine Augen von damals, neunzehnhundertzehn,
sahen nicht, wie die Toten begraben wurden,
sahen nicht das Aschefest des Mannes, der den Morgen beweint,
nicht das Herz, das im Winkel liegt und wie ein Seepferdchen zittert.

Meine Augen von damals, neunzehnhundertzehn,
sahen die weiße Wand, wo die Mädchen Wasser ließen,
das Maul des Stiers, den giftigen Pilz
und unfaßbaren Mondschein in den Winkeln
auf den trockenen Zitronenstücken unterm harten Schwarz der

Flaschen.

Meine Augen von damals auf dem Hals des kleinen Pferdes,
auf dem durchbohrten Busen von Rosa, der schlafenden Heiligen,
auf den Dächern der Liebe, mit Seufzern und kühlen Händen,
in einem Garten, wo die Katzen Frösche fraßen.

Eine Rumpelkammer, wo alter Staub Moos und Statuen versammelt.
Truhen voll mit dem Schweigen aufgefressener Krebse.
Dort, wo der Traum auf seine Wirklichkeit prallte.
Dort meine kleinen Augen.

Bitte keine Fragen. Ich habe die Dinge gesehen:
Sie suchten ihre Linie, doch sie finden ihre Leere.
Lücken liegen schmerzend in der menschenleeren Luft
und in meinen Augen Kleiderwesen – ohne Körper!


Übersetzung: Martin von Koppenfels
Aus: Dichter in New York, Suhrkamp Verlag 2000



Norbert Lange


Kontrafaktisch



Des Tages Augen, vom 9. August 2007,
bemerkten nichts von Interesse. Es
war kein Aschefest der Verse Lorcas, des
Gemütlichen. Kein Vergleich, wessen
Tintentränen das Herz im Winkel erweichen
sollten am soundsovielten November

2003. Die Augen, soviel ist sicher,
nahmen nicht mal wahr: die kahle Wand der News
und Interviews vor dem Maul des Stieres,
endlos die Schleifen, von denen Lorca spricht.
Weder Giftpilz noch Blutmond auf den Displays
in den Winkeln hinterm Rot der Graphen,

im Kleingedruckten stummer Büros, wo
Doktrinengerinsel welkt, die jungen Gesichter
schon verblasst, und gedreht zur Wand
nicht mehr Gemälde hängen. Die Tresore
voller Sporttaschen, gefüllt mit dem Volke
abgelauschter Stille. Reales, so Lorca.

Traumbilanzen, aber keine Scherbenhaufen
namenloser Gerichte. Und wenn schon?
Keine Mengen, undurchschaubar; vielleicht Kreuze,
auf nichts verweisend, wo paar Rebellen
einander richteten. Hipster, die wie
diese Zeilen schreiben, geklammert an Akten

als ihre Krawatten, straff vom Winde
gezogene Banner, Schablonen von Klischees –
und sie fallen. Genau, ihr winzigen Augen,
dort, wie bei Lorca nirgendwo zu lesen.
Nicht, dass ich wüsste, was gewesen
ist am 9.8.2007 oder dem 21.9.1928, dem 8.

11.38. Was elf Jahre zuvor los war
am 24.10.28 oder dem 17. Oktober 73.
Und wenn, ich weiß nichts, weder von jetzt
noch anderen Tagen. Es ist am 11. März
2011 geschehen, oder am 6.2.2036,
vielleicht schon vorher, vor dem 11.11.1936.


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