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Natan Zach

Gedichte > Gedichte der Woche


Das wahre Gedicht

Erlischt das Gefühl, so spricht das wahre Gedicht.
Bis dahin sprach das Gefühl, das andere Gedicht.
Nun ist es Zeit für das wahre Gedicht, dass es spricht.

Ist ein Mensch müde, so denkt er ans Morgen.
Es ist Kraft, viel Kraft in seinem Denken.
Es ist Mut, viel Mut. Interessant: Mut prägt
sein Denken mehr als die Erinnerung an die Schrecken von morgen.
Dann ist er freundlich und auch in seiner Freundlichkeit ist Mut.

Dann fürchtet er sich nicht. Die Worte, die er sagte,
will er nicht widerrufen. Obwohl sie Luft sind.
Das Werk, das er tausendmal zerbrach, will er nicht mehr zerbrechen,
denn es ist, er weiß es, zerbrechlich.
Ein maßvolles Mitgefühl trägt er in sich,
er ist jedoch präzise: nicht leichthin überträgt er Bilder
von seinem Leid auf sein Nichtleid.

Er trägt in sich den festen Willen zu hören. Sagt aber Lauschen
mehr aus als Hören, dann eben den, zu lauschen. Um nicht
das Einzige zu stören, was ihm gegeben ist: die Fähigkeit
zu hören. Nun würd nicht mal sein Blut es wagen,
das Einzige zu stören, was ihm gegeben wurde –
manchmal, wie von oben – zu hören.

[1966]

Natan Zach: Verlorener Kontinent. Gedichte. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Berlin 2013.
87 S. 19,95 Euro.

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