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Mütze #4

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Jan Kuhlbrodt

Natur als Kunst


Im Juni 2013 ist die vierte Ausgabe der Mütze erschienen.
Unter den Literaturzeitschriften im deutschsprachigen Raum ist sie wohl die puristischste, im einfachen Schwarzweiß; selbst das Cover, das das Inhaltsverzeichnis und die Angaben zum Herausgeber trägt, hat sich ins Innere zurückgezogen, als wollte es dem, um das es letztlich geht, den vordringlichen Platz nicht streitig machen. Der Text als Kunst. Aber das sind wir von Produkten des Schweizer Verlegers Urs Engelers gewohnt, alles dient letztlich dem Text. Keine Kapriolen der Coverart. Daraus beziehen die Zeitschriften und Bücher, seien es die des inzwischen (leider) historisch gewordenen Verlags Urs Engeler Editor, seien es die von Engeler herausgegebenen Zeitschriften oder die Roughbooks, ihre eigenwillige Schönheit. Das macht die Typographie eben auch zu einer Schönheit.

Wenn man die Mütze dem Briefumschlag entnimmt, begegnet einem zunächst und vor allem Text. Der allerdings ist, zumindest in vorliegendem Fall alles andere als puristisch. Der erste vollständige Satz, der zu lesen ist, lautet folgendermaßen:


Und da sind in den Zeiten her verschiedene Bräuche für Häuser und Gärten gewesen, und der Brauch ist oft befolgt worden, ob der Garten mit der Gegend in Einigung oder Widerspruch sei.


Diese etwas geschraubte Formulierung entstammt einem Text von Adalbert Stifter, dessen Die Mappe meines Urgroßvaters. Zweite Fassung: Von meinem Hause in der Zeitschrift abgedruckt ist. Ich weiß nicht ob es Zufall ist oder ein Geniestreich des Setzers, aber diesen Satz könnte man als Motto über die ganze Zeitschrift setzen.

Es gibt für mich wenige Autoren wie Stifter. Immer wieder versuche ich, mich ihm zu nähern, seit ich im Bücherschrank meiner Eltern eine Witiko-Ausgabe gefunden habe, und immer wieder verlässt mich nach einiger Zeit der Mut. Witikos endloses Reiten durch endlosen Wald. Zumindest kam mir das am Anfang so vor. Ich kam und komme einfach nicht klar mit diesem Autor. Woran das liegt, kann ich nicht sagen, ich bin der Antwort auf diese Frage bislang nicht begegnet.

Immer wieder jedoch begegnen mir wiederum Essays, die auf eine Stifterlektüre gründen, und die mich gefangen nehmen, so auch hier. Es handelt sich um Michael Donhausers Arbeit: Zur Natürlichkeit als Kunst.

Unter diesem im Grunde paradoxen Titel nähert sich Donhauser Stifter und rekonstruiert das Auftauchen der Natur im artifiziellen Gefüge des Textes, und quasi nebenher entwirft er so etwas wie eine Theorie des Gartens. Der Garten erscheint hier gewissermaßen als Raum der Unbestimmtheit,

doch die selbe Unbestimmtheit bestimmte schon den freien Raum vorne und an den beiden Seiten des Gebäudes, womit der Arzt einer Art Orientierungslosigkeit ausgesetzt ist ...


Solche Essays sind es, die mich am Projekt einer Stifterlektüre festhalten lassen, denn der Text Donhausers ist zugleich anregend und schön, und geleitete mich behutsam in den Stiftertext, aus dem er zum Teil seine Schönheit bezog. Die Zeit, die zwischen beiden Texten liegt, wird dabei zu einer Art gedanklichem Hallraum, und in diesen Raum hinein ragen die anderen Texte dieser Ausgabe der Mütze.

Die Komposition dieses Heftes erweist sich hier als eine Kunst ganz eigener Natur.

Wir begegnen darin verschiedensten Formen auch der Übersetzung. Am Anfang oder am Ende, je nachdem, wie man blättert und ob man sich an die natürliche Folge der Seitenzahlen halten will, begegnet man einem Zeitkonglomerat, das überschrieben ist mit Umdichtungen. Eingeleitet wird es durch einen Vortext von Christian Steinbacher:


Gegenwärtig erarbeite ich einen Gedichtzyklus mit Gegen-Dichtungen und Umschriften zu Übersetzungen von (in barockem Latein geschriebenen) Gedichten des Poeten und Jesuiten Jacob Balde durch Max Wehrli.


Der Leser hat es hier also mit einer mehrfachen Faltung zu tun, und in der Falte findet der französische Philosoph Gilles Deleuze ein Grundmuster barocken Denkens. Ich glaube mittlerweile, dass der Barock die unserer Gegenwartskunst nächste Vergangenheit ist und finde in dem Zyklus Steinbachers einen einzigartigen Beleg. Indem er barocke Form mit zeitgenössischer Erfahrung mischt und kein Riss erkennbar wird, sondern eben die erwähnte Falte, scheint er diese These zu belegen.

Schmierig fängt an man, und rutschig, doch nur weltbestem Streugut
hafte gleich Seife wie Speck.

(aus: Hitze aus dem Sand,  einer der Umdichtungen)


Des Weiteren findet sich in der Ausgabe als grafische Elemente eine Reihe von Quadratgedichten, gesammelt von Jean René Lassalle, immer wieder verblüffend in ihrer formalen Einheit, und ein Gespräch, das Nicolas Pesquès und Emanuel Laugier führten.
Dem Gespräch soll das letzte Zitat gehören, da hier die eingangs beschriebene Bestimmung des Verhältnisses von Kunst und Natur den Gegensätzen Rechnung trägt:

Es ist die Treibjagd nach einem Bezug, die Qualität einer Verbindung, die auf dem Spiel stehen, und das Gewinnen einer Lesbarkeit, die die der Welt wäre, die der Landschaft.
Aber dieser Bezug ist für immer unverständlich, weil er der des Körpers mit sich selbst wäre, das, was der Körper ohne uns erreicht: ein synthetischer Brei, der sein heimlicher Sieg über die Sinne ist.
(Nicolas Pesques)



Mütze #4. Hrsg. von Urs Engeler. Solothurn 2013. 52 Seiten. Einzelheft 6,00 Euro.

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