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Ming Di: Ein Sommermärchen

Gedichte > Gedichte der Woche

Übersetzt von Rupprecht Mayer

niao Vogel
wu (der Vogel ohne das “Auge”) schwarz, Rabe, Krähe

Das Schriftzeichen in dem Bild ist kein reales Schriftzeichen, sondern ein Vogel (鸟 niao) ohne Augen und ohne den unteren Strich, der für die Federn steht. Gedachte Bedeutung: Blicke
immer in eine Richtung, bis du erblindest.


Ein Sommermärchen

es soll einen Augenblick gegeben haben
da sahen wir einander
am selben Breitengrat - - - ein versinkender Berg.
dreizehn Vögel blicken in den Osten, bis er dunkelt
die Sonne ist ewig unterwegs
nie liegt sie auf der Hand
die Reiselinien auf unserer Hand entscheiden
dass die Bahn über den Himmel verläuft.
nach ihrem Start - - -
können die Vögel den Berg nicht sehen
alle Augen im Licht
nach meinem Start - - -
kann ich dich nicht sehen
alles Licht im Wasser
Sonne und Mond am selben Gipfel
doch der Gipfel ist ein abgelaufener Mast
hinterm Berg nur eine kleine Historie
an jenem Tag saßen wir in einem Freiluftrestaurant
was am Himmel fliegt, am Boden geht
hast du bestellt, hattest Angst
nur vor dem, was im Wasser schwimmt
erst dachte ich an einen Zauberspruch
doch es war nur ein Regenbogen nach dem Reden
ein Moment des Wunders
es heißt es war das letzte Abendmahl
Jesus inkognito
dann wollte ich ein Bild von dir aus deiner Jugendzeit
und vergass es in deinem Evangeliar
seitdem erscheinst du weder jung noch alt
und auch nichts alterslos
je wieder in meinen Träumen
es heißt, wir seien einen Augenblick im selben Traum gewesen
doch das Meer der Gedanken war ein seltsamer Spiegel
der Osten lag im Westen, der Westen im Osten
die Zeit drehte sich im Kreis, eine dritte Person war schneller
dann vergaßen wir einander im Meer
verloren einander am Grund.
der Berg ist immer noch da, auch das Wasser
nur du nicht
dein göttlicher Blick


Ming Di: unveröffentlicht, 2016

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