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Mihaela Claudia Condrat: Drei Gedichte

Montags=Text

Mihaela Claudia Condrat


die dystopie von gestern mit einem finger auf morgen

die dystopie ist die welt des schweigens
der bruder trinkt mit dem nichtblutsbruder
einen schwarzen kelch wein ihr blut
fließt durch die steine der mutter
mauern mit frauenkörpern
wandeln durch die nacht
gestern ist ein erträumtes morgen
die zukunft ein abgetriebenes kind

die sonne ist ein sack sand
das licht wird stückweise verkauft
auf den krankenhausfluren
wandeln die sterbenden mit dem tod auf dem rücken
die einzige erhoffte beschäftigung
sie ritzen Särge aus kristall

dieses leben muss wahrhaftig
mit dem tod beginnen vom herzen aus

ich renne durch die nacht von gestern
um den zug des lichtes von morgen zu erreichen



delirium des dichters

die hand die nicht mehr schreiben will
die hand die verraten hat
das schreiben das verrät

der schmerz der schlägt
der freund dessen sehen krank ist
hat vergessen

die hand wie einen flügel
dekomponiert
finger nach finger

ist erde geworden



das turinische pferd
(The Turin Horse, B. Tarr)

die dinge geschehen um durch das geschehen
einfacher zu werden

das leben hat nur zwei räume
durch einen geht der tag durch den anderen die nacht
dazwischen ab und zu ein altes pferd

eine kartoffel ist mehr als genug
aber ein verwünschter brunnen ist weniger
der ort wird böse und muss gewechselt werden
ein bild wird zum schatten eines tages

die erde hat den himmel begraben
die sonne wird wohl anderswo wohnen
wie auch das sprechen der menschen

diese beiden haben etwas gemeinsam
zum beispiel können sie dich erblinden lassen
doch das leiden ist immer wach
wie das abnehmende licht

das leben dauert überall gleich lang sechs tage
der siebte ist für aufbruch und wiederkehr
das kann alles letztendlich in einem koffer
zusammengedrängt werden

sagte das turinische pferd
und ging weg um ein bisschen verrückt zu werden


(aus dem Zyklus über dystopische Welten)
Mihaela Claudia Condrat ist in Rumänien-Bilbor geboren. Studium der Theologie, Philologie und Pädagogik in Hermannstadt und Tübingen. Sie hat eine Promotionarbeit über moderne Lyrik und das religiöse Imaginär geschrieben. Verschiedene Aufenthaltsstipendien (neben anderem als Stipendiatin der Förderkreis der deutschen Schriftsteller Baden-Württemberg) und Studienreisen führten sie nach Österreich, Schweiz und Deutschland zur Vertiefung ihrer Kenntnisse in Kulturtheorie, Ästhetik, Ethik und Kunst.

Neben Gedichtpublikationen gestaltet sie Lyrikabende und übersetzt deutsche Autoren u.a. Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Erich Fried, Hilde Domin ins Rumänische. 2014 erschien in Rumänien ihr erster Gedichtband: Distopia. câteva exerciții de înnebunit frumos (Dystopie. Einige Übungen um schön verrückt zu werden). Zurzeit bereitet sie ihren deutschen Gedichtband: dystopie. impromptu über schön verrückt zu werden vor. Seit 2010 lebt sie mit ihrer Familie in Tübingen.
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