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Maricela Guerrero: Reibungen

Gedichte > Gedichte der Woche
Foto: Rocio Bertolina

Maricela Guerrero
Reibungen

Aus dem mexikanischen Spanisch von Johanna Schwering



Oberflächenkontakt
 
Wenn zwei Oberflächen miteinander in Kontakt treten und eine der beiden Bewegung
aufnimmt, entsteht eine gegenläufige Kraft, die als Reibung bezeichnet wird und
Wärme erzeugt.
 


Ich erwachte auf einer Platte,
 
Tausende weißer Schmetterlinge umflatterten meinen Hals:
 
wie eine Reiswolke über einem Bräutigam in Schwarz und einer Braut in Weiß
 
auf den Stufen einer Kathedrale.
 
 

Draußen das weiße Rauschen eines Fernsehers ohne Empfang: Statik.
 
Ich erwachte auf einer Platte, statisch,
 
wie eine Gleichung mit zwei Unbekannten.
 
 

Was ich nicht weiß, nicht intuitiv erfassen kann: wie dieses Problem in den Griff zu kriegen ist.
 
Glaubst du, die Spielgeräte überdauern die Sechsjahrespläne und die Wahlkampfversprechen?
 
Glaubst du, das Leben, wie wir es kennen, folgt einem kosmischen Plan?

 
 
Es war einmal ein Spielplatz mit einer Riesenrutsche: eine porzellangewordene Betonmasse, glatt und glänzend.

 
 
Ein Problem muss man angehen, sagt der Ingenieur.
 
Ein Problem angehen ist eine Form der Bewegung.
 
Ingenieure gehen Probleme lächelnd an. Es gibt Probleme mit und Probleme ohne Lösung:
 
übersprudelnde runde und fröhliche Probleme: sie gleiten in die Gespräche zwischen den Bedürftigsten und verbreiten sich
 
sporadisch – wie viele Befruchtungsformen im kosmischen Plan wohl vorgesehen sind?

 
 
Ein Problem kann Materialverschleiß sein:
 
ein anderes, wie lange sich die Fantasie aufrechterhält, wenn man mit einer möglichen und einer unmöglichen Realität zugleich in Kontakt tritt:
 
so wie wenn deine linke Hand nicht weiß, was die rechte tut und umgekehrt: umgekehrt ist es eine hübsche und harmlose Fantasie.
 
Kann das Leben auf einem Mond überdauern, wo es Methan und andere Gase regnet?
 
 

Wie bei Witzen kann es unschuldige und schmutzige Fantasien geben.
 
Lieber einmal erröten als immer nur Blässe zeigen, sagte meine Großmutter und ich hielt es für ein Naturgesetz, eine von Ingenieuren und anderen brillanten Köpfen wissenschaftlich erwiesene Wahrheit.
 
Ein weiteres Problem ließe sich so angehen: Sagen Sie, Herrschaften, wie viel Wärme erzeugt die Reibung zwischen zwei einander bekannten bzw. einander unbekannten Oberflächen?
 
Wenn Bewegung Reibung erzeugt und Reibung Wärme, warum ist mir so kalt?
 
So grübelte und grübelte sie, während weiße Schmetterlinge ihren Hals umflatterten.
 
Noch einer und noch einer und noch einer, und die Anemone dachte an tausende und abertausende Probleme, die sie angehen könnte
 
und jedes Problem war ein weißer Schmetterling am Hals eines weißen und hungrigen Wals, der auf einer Sezierplatte gestrandet war.
 
Die Bakterien, die in Säurepfützen zu überleben vermögen, sind bisweilen die Bedürftigsten.
 
Das Leben auf einem Saturnmond ist irgendwie komisch, irgendwie so wie Organismen, die Stickstoff und Kohlenwasserstoff einatmen und Methan ausscheiden.
 
Der Sechsjahresplan sieht den Import von Kohlenwasserstoff aus weit entfernten Pfützen vor und Bakterien für die Bedürftigsten.
 
Das Leben, wie wir es kennen, ist unendliche Reibung zwischen Kräften, die sich anziehen und Kräften, die sich abstoßen:
 
zwischen Kräften, die tanzen, und Kräften, die auf unendlichen Sezierplatten erstarren.
 
Ich weiß nicht, ob die Kälte und die Schmetterlinge ein lösbares Problem darstellen.



Deutsch aus Maricela Guerrero: Reibungen. Aus dem mexikanischen Spanisch von Johanna Schwering. hochroth Berlin 2017. 42 Seiten, 8,00 Euro
 
Die Originalversion erschien unter dem Titel „Fricciones“ als E-Book bei Edición Incunables / Centro de Cultura Digital (2016) und ist als Free Download abrufbar:



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