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Marcus Roloff: Gespräch mit dem Horizont

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Elke Engelhardt

Marcus Roloff: Gespräch mit dem Horizont. Gedichte. Wenzendorf (Stadtlichter Presse) 2021. 82 Seiten. 14,00 Euro.

Marcus Roloffs Gedichte öffnen Gedankenräume


Marcus Roloffs neuem Gedichtband ist als Motto ein Zitat von Marcel Beyer vorangestellt: „Die Bilder werden sich an dich erinnern“. Eine Behauptung, die in zwei Richtungen weist; einmal haben wir es hier mit der Verkehrung der gewöhnlichen Richtung zu tun, mithin mit einem Versuch auszubrechen oder aufzubrechen. Und zum anderen verweist er auf Roloffs Arbeit mit Gemälden und Kunstwerken, man denke nur an sein „hl. Grab, eingang wahlkapelle“ diese berührende dichterische Auseinandersetzung mit Giovanno Manfredinis Werk „Schwarzes Triptychon“.
    Ohnehin weist Roloffs Dichtung immer mindestens in zwei Richtungen, alle Gedichte leben von einer ihnen innewohnenden Ambivalenz. Brechungen und Perspektivwechsel spielen eine große Rolle. Heiliges trifft auf Profanes, das Dunkle auf das Helle, während das Ganze wieder in Teile zerfällt, oder vom Strand in den Weltraum aufbricht.

Die Gedichte öffnen einen Dialog, der auf Hinzufügen angelegt ist, von dem das Auftakt gebende Gedicht „vor der flut“ spricht:

        „ich denke immer
        dass meinem gedachten
        etwas hinzugefügt werden
        müsste, eine geste
        ausholend, weitgespannt

        […] und es
        das gedachte dann über
        die kante aus sand

        schafft, diese selbst-
        vergessen gebrauchte
        losigkeit, die das weiter-
        denken freisetzt“

Diese Flut des Weiterdenkens auszulösen, darauf zielt der gesamte Band ab. Roloffs Gedichte bewältigen das stilistisch wie thematisch durch eine beachtliche Vielfalt.
    Wobei sich alle Gedichte an Grenzen abarbeiten, über die das Gedicht hinauswill, wohl wissend, dass es das immer nur

        „als zu schreibendes nicht als
        geschriebenes ist, und nur
        sein kann als schlaf im wind“

Und so folgt man den Gedankenschleifen der Gedichte, die sachte aber entschieden über das hinausführen, was wir kennen, damit neue Bilder ahnbar werden. Wenn Roloff von der Substanz zum Tanz schreitet, und vom Tanzboden ins Bodenlose fällt, dann sind das weniger Wortspiele als vielmehr Verwicklungen, die nicht aufgelöst werden, aber immer wieder ins Offene führen.
    In einer Buchvorstellung sagte Roloff, mit diesen Gedichten gehe er zurück zu seinen Wurzeln, daher erstaunt es kaum, dass es häufig um Erinnerungen geht, die gleichermaßen beständig wie fließend sind.
     Aus Erinnerungen an Reisen entstehen bei Roloff Reisegedichte einer besonderen Art, in denen u.a. „die melancholie“ bereist wird:

        die melancholie

        aller in jedem windzug (hier und hier und hier) was wir
        suchen ist wie weggeblasen ist das weltsein nie als paar
        angeschwemmter reeboks nur ein paar (aus dem rand-
        schwarz) angeschwemmter sprüche sprachweltfetzen
        wie die möwe die das bild quert das einzige das ich habe
        in der von licht und licht und licht abgeräumten zeit

Es ist der Blick, der zurückreist, anhand von Fotos aus dem „familienalbum“, oder auch über alles hinaus.

        „[…] will heißen die zeit ist
        ein fell das ich überziehe, um es mir abzuziehen“

Besonders im vorletzten Kapitel „zitat ende“ spielt Roloff das Thema der Vergänglichkeit konsequent durch. Neben eigenen Beobachtungen ziehen die Gedichte dabei Literatur, Filme und (natürlich) Gemälde heran. Aus Gemälden entstehen Geschichten, aus seinen Beobachtungen malt Roloff seinerseits Gemälde. Um dann zu schließen mit einem Blick ins Familienalbum. Dort sieht man den vom ersten Weltkrieg versehrten Onkel, den Großvater, der über eine Mine stolperte, die Mutter, von der es heißt,
       
        „[…] du hattest ja nichts außer
        bahnhof und bahnhöfen
        und irgendwo muss noch
        mein see sein, ein zwischen
        die hunde gelegter garten“

Dieses Kapitel stellt eine Auseinandersetzung mit der Geschichte dar, die auf die Einsicht hinausläuft, dass Krieg sich generationenlang in den Genen abgelagert, immer auch ein Teil des Erbes ist; ob wir uns das bewusst machen, oder es lieber verdrängen, ändert nichts an der Tatsache.

Marcus Roloff setzt in „Gespräch mit dem Horizont“ genaue Beobachtungen mit transzendentalen Überlegungen in ein Verhältnis, das jedes Mal wenigstens einen Raum öffnet, bestenfalls sogar einen Horizont.

Lea Schneider zitiert in ihrem Gedichtband „made in china“ den chinesischen Literaturkritiker Liú Xié, der im 6. Jahrhundert von den sechs Bausteinen aus denen Gedichte bestehen, Wind als das bedeutendste identifiziert. „generationen chinesischer literaturwissenschaftlerinnen, schreibt eliot weinberger, haben versucht, herauszufinden, was wind und was knochen ist, aber das einzige, was liú xié ganz eindeutig dazu sagt ist das einzige, worauf sich alle einigen können, ist, dass die perfekte mischung aus knochen und wind, das perfekte gedicht, ein vogel ist.“* In diesem Sinne sind Roloffs Gedichte schon sehr vogelartig. Wie sonst sollte auch ein Gespräch mit dem Horizont gelingen?



* Lea Schneider, „made in china“
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