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Marcel Beyer: Deine Silbe Grimm

Gedichte > Münchner Anthologie

Marcel Beyer

Deine Silbe Grimm


Das Wörterbuch. Das deinen
Kopf bestimmt. Dein
Nachtmahr, deine Auslegware,
dein Standgericht und deine

Tischvorlage (Ein langhaariger,
schwerer Mann samt
seinem Schatten, wie er im
Dunkeln Anlauf nimmt.) Das

Wörterbuch. Dein Ohrenschutz,
Dein DNA-Test und dein
Zeugenprotokoll. Dein Schemen.
Deine Silbe Grimm.

Das Zeichen auf der Wange.
(Das Wörterbuch. Dein
Kopf, in dem du Gastarbeiter
bist.) Der Schmutz unter

den Nägeln ist dein Wörterbuch.
(Sind die gedehnten Lautketten
und die gestauchten. Sind
KNATHMANN, KNAUCH

und KNAUDER.) KNICKWIRTEN
auch, daß dir der Kopf
wackelt wie ein Has am
Sattel.
Knicklaute sinds.

Sind die zwei alten (die beiden
tätowierten, niemals
verstummenden, nichts außer
Sprache einatmenden und, ja,

die langhaarigen, die schweren)
Knastbrüder, die dich nun
seit Jahrzehnten vor Morgengrauen
in die Zange nehmen.



(in Marcel Beyer: Graphit. Gedichte 2001 - 2013. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2014. 207 Seiten. 21,95 Euro)

Walter Fabian Schmid

Eine kleine Schreckenskammer


Wie stark haben die Brüder Grimm als Wörterbucheditoren eigentlich die Sprache verändert? Und wie kann man auf ihre Arbeit, die unseren täglichen Wortschatz durchdringt, noch aufmerksam machen? Mit diesen Fragen gründete das Goethe-Institut auf dem russischen Länderportal ein Projekt mit dem Namen „Grimmsches Wörterbuch – einmal wöchentlich …“ Eingeladen waren Wissenschaftler und Schriftsteller, um sich frei mit einem Lemma auseinanderzusetzen. Antworten kamen unter anderen von Thomas Lehr, Jochen Schimmang und Hans Pleschinski; aber was Marcel Beyer macht, ist neben dem Abklopfen einzelner Lemmata schlichtweg eine Auseinandersetzung mit dem gesamten Wörterbuch und den Grimms an sich.

Deswegen reduziert Beyer sie nicht nur auf ihre sprachwissenschaftliche Arbeit, sondern holt auch ihre Schauermärchen mit ins Gedicht. Im Geiste der schwarzen Romantik droht das Grimmsche Werk als „Nachtmahr“ und „Schemen“, als wesenloses Schattenbild. Und natürlich darf bei so einer Darstellung auch an den Nachtmahr von Johann Heinrich Füssli und das düstere Porträt der Grimms von Elisabeth Jerichau-Baumann gedacht werden, das einst den 1000 DM-Schein zierte. Die Grimms, die „zwei alten Knastbrüder“, die schliesslich 3 Jahre im Kasseler Exil lebten, weil sie als Mitglieder der Göttinger Sieben aus dem Königreich Hannover verbannt wurden, sind eine grimmige Gefahr, die nicht aus dem Unterbewusstsein wegzukriegen ist.

Natürlich sind Wörterbücher für einen Lyriker in erster Linie unabdingbar als Inspirations- und Entdeckungsquelle, als Gerüst und Fundament eines jeden Gedichts. Aber genauso gut können sie einem zum Verhängnis werden. Ein Wörterbuch kann sich als Prüfstelle auch gegen einen wenden, wenn es das Gedicht untersucht, ob seine Wörter ihren Bedeutungen standhalten. Die Grimms wollten aber weniger Bedeutungen erklären, als vielmehr die Entwicklungsgeschichte der Wörter nachzeichnen. Und in der Etymologie kann man sich nicht nur bestens verfranzen, sie kann einem Gedicht auch wortwörtlich das Genick brechen: „KNICKWIRTEN / auch, dass dir der Kopf / wackelt wie ein Has am / Sattel. Knicklaute sinds.“

Zumindest den Kopf, der bei Beyer wiederum bestimmt wird vom Wörterbuch, verdrehen sie allemal. Dass da ein Zitat von Johann Fischart eingeflochten ist*, dem grossen karnevalesken Sprachspieler und Spracherfinder des Frühneuhochdeutschen, verwundert keineswegs. Beyer thematisiert in vielen anderen Gedichten die Bedeutung der „kleinen Sprachen“, der Dialekte, der sprachlichen Grenzüberschreitung und der verlorenen Wörter. Deswegen ist Deine Silbe Grimm auch ein metapoetisches Gedicht, das ein passender Prolog ist zum Zyklus Im Wörterbuch, durch das der Sprachhund streunt – ein Schnüffler, ein Spürhund, ein Jagdhund mit „Appetit auf unbekannte / Sprachen“.


* Deutsche Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 11. Sp. 1421 - 1426: "knickwirten, m. genickwirbel, bei Fischart: etlichen spallt er den scheitel .. etlichen verwirrt er den knickwirten und das kroffbein im hals, dasz ihn der kopf wackelt wie ein has am sattel (des jägers). Garg. 205a (1575 Aa 8a, Sch. 381). knick genick, wirten wirbel."


Oben: Johann Heirich Füssli: Nachtmahr. Öl auf Lw, Papier, Karton. 127 x 101 cm. Um 1781
Mitte: Die Brüder Grimm von Elisabeth Jerichau-Baumann, 1855
Links: Marcel Beyer. Rechts: Walter Fabian Schmid

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