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Ludwig Steinherr: Flüstergalerie

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Dirk Uwe Hansen

Das Gedicht als cicerone


Eine Flüstergalerie ist ein merkwürdiger Ort. Eine schmale Galerie assoziiere ich mit diesem Begriff, dicht unter einer kleinen Kuppel, aber über einem gigantischen Raum, der von Licht und Kunstwerken strahlt. Dazu Menschen, die sich aufgrund der architektonischen Besonderheit dieser Galerie über den leeren Raum in der Mitte hinweg austauschen könnten, meist aber eher banale Alltäglichkeiten äußern, um die Akustik zu testen.
Flüstergalerie heißt auch der neue Band mit Gedichten Ludwig Steinherrs.
Seine Flüstergalerie aber, so erfahren wir im ersten Kapitel der Sammlung, das denselben Titel wie das Buch trägt, ist eine Flüstergalerie im Kopf, geprägt vom unablässigen Summen der Stimmen:


O TRÄUMER AUF DEM TRANSATLANTIKFLUG –

wie du in deinem Sessel verschwindest
die Schlafmaske vor den Augen
die weißen Earphones eingestöpselt
entrückt aus Raum und Zeit
der körperlose fließende Geist –

Was für ein Selbstbetrug!

Könntest du in deinen eigenen
Schädel hineinschaun:

Eine barbarische Höhle ist er –

ein hohler Baumstamm
in dem Killerbienen nisten

ein Stundenhotel
mit abertausend gläsernen Lustkabinen

eine Flüstergalerie für schlaflose Götter

ein babylonischer Turm
aus dem die Flammen schlagen

ein Planetarium
geflutet mit Blut –

auf den Wellen lassen
die Sterne ihre Spiegelbilder tanzen
als Papierschiffchen


Auch die anderen Gedichte des ersten Kapitels beschäftigen sich mit den Bedingungen des Dichtens.
Im zweiten Kapitel (Rom, kulinarisch) tauchen dann doch die von mir assoziierten Kunstwerke auf, etwa im dem Gedicht „Römische Notiz“ Le Gros´ Darstellung des heiligen Bartholomäus in der Kirche San Giovanni in Laterano (so vermute ich, der Künstler wird nicht genannt):


Herr, vergib mir
daß ich diese Stadt dennoch liebe, abgöttisch
mit blasphemischer Inbrunst –

Ich, der ich ihrer Größe
nicht gewachsen bin –

Vor dem plötzlichen Wolkenbruch
ins Kirchendunkel geflüchtet
krame ich in meiner Jackentasche
nach einer Aspirintablette –

stumm starrt
aus monumentaler Perspektive
der Heilige Bartholomäus –

mit gemeißelten Armen bietet er mir
seine eigene abgezogene Haut


wie einen Regenmantel, tropfend von Blut.


Wie hier prägt die Begegnung der Stadt Rom, ihrer Kunstwerke und ihrer Geschichte mit dem Alltag des Sprechers der Gedichte die meisten Texte dieses Abschnittes; der erste Besuch eines Fünfzehnjährigen im Jahre 1978 auf der Piazza Venezia etwa („mystische Verzückung / Liebesspiel mit einer überströmenden Göttin / auf offener Straße und am helllichten Tag“) – der Leser mag geneigt sein, dieses Gedicht autobiographisch (Steinherr ist Jahrgang 1962) zu lesen.
Mysterienspiel“ ist der dritte Abschnitt überschrieben. Hier geht es um das Sehen dessen, was hinter den Selbstverständlichkeiten liegt, dessen, was bleibt, wenn man ein „Gedicht über Vermeer“ schreibt ohne die Worte „Licht Stille Mädchen Krug / Perle Karte Fenster Brief“, um „Gelallte Orakelsprüche / zu ehernen Schlangen erstarrt –“  (in „Altgriechisch, sehr spät“). „und plötzlich entdeckst du / zum ersten  Mal: / du hast das meiste überblättert –“ heißt es in „Epiphanie“.
Auch im vierten Kapitel („Im Zweifel für das Licht“), in dem sich die Liebesgedichte finden, begegnen wir wieder den großen Themen Kunst und Mysterium.


HOCHSOMMERNACHT, KÜHLSCHRANKLICHT

So schneeweiß unsere Körper
wie auf erotischen Daguerreotypien –

Unsere Lippen so eisig
Tiefkühlkrabben à la Rodin
mit denen wir einander
gierig füttern –

O köstliche köstliche Krabben –

Und dieser Augenblick –
ein Schneeball
in der Hölle!


Die Texte im fünften Kapitel („Dämonenwahl“) thematisieren die schwierige Suche nach den Mysterien im Alltag („Jeder weiß / daß heutzutage an einem Frühstücksbüffet / der ontologische Gottesbeweis / ein Tabu ist –“).
Leben, Tod und Verlust sind die Themen des sechsten Abschnitts („Die Verwandlung der Mücke“); eine Reihe der hier versammelten Gedichte (etwa „Mythengeburt“ und „Schlaf“) verführen uns wieder dazu, sie autobiographisch zu lesen. Ein Unfall im Alter von zwei Jahren, der rückblickend als eine zweite, gewaltsame Geburt beschrieben wird (und natürlich an den zweimal geborenen Dionysos denken lässt), eine fast tödlich verlaufene Kohlenmonoxid-vergiftung, die Anlass gibt, sich zu fragen „was aus den Tulpen geworden wäre / die ich dir mitgebracht hatte / aus den Zeilen des begonnen Gedichts –“.
Fango“, der längste Text des Bandes, bekommt einen eigenen Abschnitt gewidmet. Auch hier gibt ein Alltagsaugenblick Anlass zu Betrachtungen über Vergehen und Werden, aus denen sich der Geist „tief tief erfrischt“ erhebt.
Vor dem Schlussplädoyer“, das achte Kapitel, zieht Bilanz. So heißt es in dem gleichnamigen Gedicht:


Ich beantrage noch in den Zeugenstand zu rufen:

- das kleine Mädchen das heute zum ersten Mal die neuen roten Schuhe trägt

- die trostlose Absinthtrinkerin von Degas und ihr Spiegelbild

- den Nachtportier im ausgestorbenen Hotel APHAIA samt seiner zerfledderten Nietzsche-Ausgabe



- die blutenden Dornenseelen in Dantes Selbstmörderwald



Formal schließt sich der letzte Abschnitt „Glückskekse und Knallbonbons / Zweiter Karton“ an dieses letzte Gedicht an, jedoch sind die hier versammelten Aphorismen sehr viel heiterer, geprägt von einer Lust am Surrealen:


„Dieser Keks ist garantiert dialektikfrei, metaphysikfrei
und ohne Zusatz von Eschatologie gebacken.“


Es sind große Themen, denen sich Steinherr in „Flüstergalerie“ stellt: Mysterium und Alltag, das Wirken Gottes in der Welt, immer wieder die christliche Kunst und der Mythos. Häufig lässt er dabei die Themen und Bilder aufeinanderprallen, einen Prinzen des 17.Jh.s oder das brennende Troja etwa mit der Vorstellung eines schwarz-weiß flimmernden Slapstick-Film Klaviers, oder – umgekehrt – bei der Betrachtung eines vermeintlich harmlosen Urlaubsschnappschusses: „Ich, der allwissende Betrachter weiß: / Der Sommer damals war mörderich / die Reise eine Katastrophe / von griechischer Gewalt – / Dein rasender Geist schrie lautlos / wie Sylvia Plath unter der Glasglocke –“; dabei laden die Texte den Leser immer wieder ein, sie autobiographisch als Erfahrungsberichte zu lesen („Wir hatten Pisanellos traurige / Madonna mit den bleischweren Lidern / angeschaut und gingen jetzt / noch immer benommen / wie nach einer leichten Betäubung / am Flußufer entlang –“).
Auch wenn der Autor hier und da surreal befremdende Kombinationen („mit Mystik-Rouge und apokalyptischem Kajal“) findet, bleibt die Sprache doch stets einfach, die Zeilenumbrüche stellen keine Brüche im Fluss der Gedanken oder des Sprechens dar, sie sind eher als Pausen im Fluss einer Erzählung zu lesen. Auch die Bilder, die Steinherr in den Texten zusammenbringt, werden häufig nicht vom Gedicht konstruiert, sondern aus dem Fundus der Vorstellungen seiner Leser abgerufen. Die Gedichte begegnen uns wie Reiseführer, die auf Besonderheiten hinweisen, von denen sie fürchten, sie könnten den Besuchern eines Ortes sonst entgehen (die abgezogene Haut des Hl. Bartholomäus etwa) oder wie Rezepte, die uns auffordern, Zutaten neu miteinander zu kombinieren, die nicht erst hergestellt werden müssen, weil sie in unseren Schränken schon zur Verfügung stehen:
die Zyklopen-Mauern des Vatikan“, „Deine Stimme / unendlich fern / unendlich fremd“, „die einsamen Fadenspiele des Minotaurus“, „taub / wie Beethoven“, „halb Pharao / halb Hans Castorp“, „Monster-Möwen“, „Menschenleere Mondlandschaft“.)


Es ist, so machen die Gedichte immer wieder den Eindruck, das eigene Erleben des Autors, das wir Leser, wenn wir den Hinweisen und Rezepten dieser Gedichte folgen, rekonstruieren können, und das uns sein Erleben des Mystischen vor Augen führen will.


Ludwig Steinherr: Flüstergalerie. Gedichte. München (Lyrikedition 2000) 2013. 140 Seiten. 19,90 Euro.

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