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Lavinia Braniste: Null Komma Irgendwas (Auszug)

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Foto: Adi Bulboacă

Lavinia Braniște:

Auszug aus
Null Komma Irgendwas,

aus dem Rumänischen von Manuela Klenke


Meine Mutter arbeitet in Spanien. Seit so langer Zeit, dass ich den Eindruck habe, es sei schon immer so gewesen. Sie arbeitet im Tourismusgewerbe am Strand und kommt einmal pro Jahr in der Nebensaison nach Hause, weil sie das über die Feiertage im Winter irgendwie arrangieren kann. Jahrelang hat sie Rumänien nicht mehr mit grünen Blättern und Blumen gesehen, da sie immer nur kommt, wenn es schlammig ist, die Menschen in dicke Klamotten eingemummelt sind und die Welt grau aussieht. Dann hat sie den Eindruck, dass Rumänien ein trauriges Land ist. Doch manchmal erlebt sie noch den Schnee, der sie wie ein kleines Kind zum Strahlen bringt. Die Mütze rutscht ihr gerne über die Augen, sie zieht die Nase hoch und nimmt die Schaufel, um auf dem Hof Schnee zu schippen. Und dann erzählt sie in Spanien „schau mal, so hoch war der Schnee”, und die wundern sich da und sagen immer wieder, dass sie wenigstens einmal nach Rumänien reisen müssen.

Wenn sie zu mir nach Bukarest kommt, plane ich immer ein Unterhaltungsprogramm – wo wir hingehen und was wir machen können – damit wir nicht nur in der Ein-Zimmer-Wohnung herumhängen und uns langweilen.

Jetzt habe ich uns einen ganzen Tag dafür reserviert, eine Runde durch die Neubausiedlung im Berceni-Viertel zu drehen. So können wir ein bisschen gucken, was da los ist. Ich habe ihr immer wieder Links von neugebauten Hochhäusern geschickt. Falls ich mich dazu entscheiden sollte, einen Kredit aufzunehmen, gibt sie mir die Anzahlung dafür.

Morgens scheint ein bisschen die Sonne, aber bis wir aus dem Haus sind, ist sie schon verschwunden. Der Tag wird wieder grau, genauso wie gestern und vorgestern. Wir nehmen die U-Bahn, steigen bei Victoriei um und nachher verharren wir die ganze lange Fahrt bis Dimitrie Leonida nebeneinander auf den Sitzen. Ich erzähle ihr, dass die neuen Züge in Spanien hergestellt werden und dass das Mädchen, das die Stationen ansagt, in einem gerichtlichen Verfahren mit Metrorex steckt, weil sie ihr Geld nicht bekommen hat. Keine Ahnung, was ich ihr sonst noch über Rumänien erzählen könnte.

„Achso, ist sie nicht aus der Ceauşescu-Zeit?”

„Nein, nein. Sie ist ein junges Mädchen, eine Schauspielerin.” Die U-Bahnstation Dimitrie Leonida ist wie eine Zeitkapsel und meine Mutter mag das, doch sobald wir oben an der Straße ankommen, gefällt es ihr nicht mehr.

„Auweia!”

Wir laufen nach links, wo die Straße abrupt endet. Hin und wieder sieht man zwischen den neugebauten Hochhäusern kleine Höfe – wie auf dem Land – , die der Immobilieninvasion standgehalten haben. Ein Kuhfladen, ein Pferdeschnauben, ein Hahn.

Ich finde es nett. Zumindest liegt es abseits des Stadttrubels. Eine Ein-Zimmer-Wohnung gibt es zum Preis von zwanzigtausend Euro. So etwas findet man nur selten.

„Wo ist denn hier die Kanalisation?”, fragt meine Mutter.

„Ich habe in Foren gelesen, dass diejenigen, die von der Straße weit abgelegen sind, gar keine Kanalisation haben, sondern eine Sickergrube.”

„Was soll denn das heißen, eine Sickergrube?”

„So genau weiß ich das auch nicht.”

„Die werden wohl kaum mit Toiletten-Entsorgungswagen zu den Hochhäusern kommen.”

„Das glaube ich auch nicht.”

Wir gelangen zu einer schlammigen Straße. Ein paar Schritte weiter stoßen wir direkt in der Mitte auf eine riesengroße Pfütze.

„Wo dieses Wasser wohl herkommt? Geregnet hat es doch gar nicht”, sage ich.

„Da ist bestimmt was geplatzt.”

Wir spazieren wahllos auf den Wegen weiter, bis wir mitten in dem wilden Neubaugebiet sind. Manche Straßen sind asphaltiert, andere nicht. Es gibt keine Bürgersteige und die Hochhäuser wirken aneinandergedrängt. Von einem Balkon sieht man auf den nächsten. Wenn man zwischen den Hochhäusern hindurchläuft, ist es, als befinde man sich in einem dunklen Labyrinth. Keine Grünflächen, man kann kaum atmen und trotzdem sind die Häuser bewohnt. Da hängen viele Gardinen vor den Fenstern und unzählige Autos parken ungeordnet auf ungekennzeichneten Plätzen.

Wir kommen an eine Ecke und merken, dass vor uns nur noch Wiese ist. Dort streunt ein Hunderudel umher.

„Finden wir den Weg zurück?“, fragt meine Mutter.

„Ich glaube, wir kamen von da“, sage ich und zeige mit der Hand in eine Richtung, irgendwo hinter uns. „Was meinst du?“

„Keine Ahnung. Lass uns hinlaufen.“

„Kannst du noch? Bist du müde?“, frage ich sie.

„Ich kann noch.“

Wir laufen zurück, an den Hochhäusern vorbei, aber die Straßen verlaufen nicht gerade, sondern scheinen wie zufällig angelegt zu sein, und ich habe den Eindruck, dass der Weg uns wieder in die Irre führt.

„Gehen wir zu schnell?“

„Es wird dich hier keiner besuchen kommen“, sagt sie. „Das ist am Ende der Welt.“

Wir halten an.

„Am besten fragen wir jemanden, damit wir zumindest wissen, ob wir richtig sind“.

(...)

Wir bleiben stehen, ohne irgendetwas zu sagen. Im nächsten Augenblick taucht eine Frau mit strubbeligem Haar auf, die gerade aus einem Kellerladen, Magazin Mixt, herauskommt.

Ich frage sie, in welcher Richtung es zur U-Bahn-Station geht.

„Ah, da seid ihr hier falsch. Da ist Popeşti-Leordeni. Die U-Bahn ist in der anderen Richtung.”

Wir gehen wieder los, über die bescheuerten Straßen, und versuchen, ein paar Anhaltspunkte in dieser Hochhausgegend zu finden, damit wir uns nicht wieder verlaufen. Wir fragen noch zwei Mal nach, ob wir richtig sind.

Vor der U-Bahn-Station, mit dem Straßenlärm im Hintergrund, sagt meine Mutter zu mir:

„Ich gebe dir das Geld, wenn du willst. Du weißt, dass ich mit all dem, was du entscheidest, einverstanden bin, aber ich sehe für dich hier keine Zukunft. Bis sich alles entwickelt, dauert es bestimmt noch ewig.”

„Ja, ich habe kein Einkaufszentrum gesehen. Aber es gibt eine direkte Verbindung ins Zentrum. In zwanzig Minuten ist man dort ...”

Das Problem ist, dass sich in den Foren alle aufregen. Alle beschweren sich über die neuen Hochhäuser. Dass der Beton schlecht ist, die Rohre zu schmal, dass sie nicht gut isoliert sind oder dass bei manchen Wohnungen die Heizanlage ausgerechnet im Schlafzimmer montiert ist. „Auf keinen Fall sollst du dir eine von denen kaufen, die noch nicht fertig sind”, sagte mein Kollege Paul Dobre zu mir. „Du musst dir unbedingt angucken, was du kaufst. Aber bei den fertigen Hochhäusern gibt es nur noch verfügbare Wohnungen im Keller oder Dachgeschoss. Alles andere ist bereits vergeben.”

Ich fände es schön, wenn Mihai, meine Fernbeziehung, ein bisschen einfallsreicher wäre, wenn er sich wünschen würde, mehr mit mir zusammen zu sein, oder wenn es zumindest eine einzige Sache gäbe, die er sich sehr wünschte.

Früher, als wir beide in Cluj studierten, waren wir ein Paar. Wir haben uns getrennt, weil er sich mir gegenüber gleichgültig verhielt. Hinterher bin ich nach Bukarest gezogen, doch dann haben wir den Kontakt wieder aufgenommen, als einer von uns – ich weiß gar nicht mehr genau wer – den anderen zu Silvester angerufen hat, um einfach mal so „Frohes Neues!” zu wünschen.

Er sagte, er denke noch ab und zu an mich und ich hielt das für ausreichend. So ist alles bei uns, ab und zu. Wir telefonieren ab und zu, wir sehen uns ab und zu. Es ist selten genug, damit die anderen denken, ich sei single. Und ab und zu kommt es mir so vor, als ob ich oft genug an ihn denke, um behaupten zu können, er sei mein Freund. Meine Mutter weiß nichts von ihm. Ich möchte ihr keine falschen Hoffnungen machen.

Das hat er auch zu mir gesagt, dass er mir keine falschen Hoffnungen machen möchte.

„Wenn du jemanden hättest, wäre es was anderes. Zu zweit ist das eine andere Sache”, sagt mir meine Mutter, die seit ihrer dunklen Jugend alleine ist.

„Das weißt du ja ...”

„Ich weiß, wie es ist, keine Kraft zu haben, alles alleine zu tragen.”

Wir gehen die Treppe zur U-Bahn herunter. Ich stecke die Karte einmal hinein, damit sie durchgehen kann, dann stecke ich sie erneut hinein, um ebenfalls durchgehen zu können.

„Geh mir nicht auf den Keks damit, dass ich heiraten soll.”

„Du weißt, ich tue das nie.”

Wir bleiben im Zentrum und besuchen das Nationalmuseum für Landesgeschichte, wo eine Ausstellung alter Kinderbücher zu sehen ist. Bevor wir hineingehen, zeige ich ihr die Statue von Traian mit der Wölfin. Ich sage ihr, dass sie sehr umstritten war und dass Traians Schwanz glänzt, weil alle, die sich dort haben fotografieren lassen, ihn angefasst haben. Sie lächelt, aber ich denke, das tut sie nur aus Höflichkeit. Ich weiß nicht, was ich ihr sonst noch über Rumänien erzählen soll.

Einige der ausgestellten Bücher erkenne ich wieder, aus meiner Kindheit. Meine Mutter kennt sie auch, aber andere sind viel zu alt. Ein ganzer Stand nur mit Pinocchio, in unterschiedlichen Variationen! Ich schaue ihn mir fasziniert an.

„Ich hatte Pinocchio nie!”

Meine Mutter macht einen schuldbewussten Gesichtsausdruck. Dann einen gelangweilten. Dann einen müden.

„Kannst du noch stehen?”

„Ich kann noch”, sagt sie und greift nach meiner Hand.

Ich reiche ihr die Wange, damit sie mich küsst. Das ist unser Insider.

Jedes Mal, wenn wir uns treffen, erscheint sie mir verändert, obwohl wir uns immer über Skype sehen. Jetzt hat sie lange Haare, so lang wie sie sie noch nie zu Hause in meinen ersten siebzehn Lebensjahren getragen hat. Und ich sehe an ihr, wie die Zeit vergeht. So wie man die Ringe an einem Baumstamm sieht, kann ich von Jahr zu Jahr sagen, wie sie sich verändert hat. Wenn die Zeit an ihr ihre Spuren hinterlässt, dann ebenso auch an mir. Sie ist mein Schutzengel. Was macht man, wenn der Schutzengel älter wird?

Das ganze Leben habe ich mir gewünscht, ein braves Kind zu sein.

„Komm, wir setzen uns gleich irgendwo hin”, sage ich zu ihr.

Am Tisch, im Café, sagt sie, ich solle mir bestellen, was ich will. Sie bezahlt.

„Ich weiß, dass du dir alleine nichts kaufst, dass du es nicht übers Herz bringst, und dass du auch nicht ausgehst.”

„Du musst wissen, ich bin gar nicht so einsam.”

„Okay!”

Der Kellner bringt uns zwei Tassen Cappuccino und eine elegante Schale mit Macarons, eins von jeder Sorte, damit wir sie „anprobieren”, wie meine Mutter in einem spanisch kontaminierten Rumänisch sagt. Meine Tasse hat ein perfektes Herz aus Schaum, aber in ihrer ist der Schaum in alle Richtungen verzerrt und man kann nichts mehr erkennen.

„Oh, wie schön”, sagt sie, über den Tisch gebeugt, mit der Nase in meiner Tasse.

„Möchtest du das Herz haben?”, frage ich sie.

„Neeeeein. Wieso? Ich habe doch auch eins!”

Sie beeilt sich, den ersten Schluck aus der Tasse zu trinken, damit sie keinen Grund hat, mit mir zu tauschen. Damit mir der schöne Kaffee bleibt. Das bedeutet für sie, Mutter zu sein. Schnell essen, was nicht so gut ist, damit mir das Beste übrig bleibt. Das ist ihr ins Blut übergegangen. Jetzt merkt sie es nicht einmal mehr.


Lavinia Braniște: Null Komma Irgendwas. Roman. Aus dem Rumänischen von Manuela Klenke. Berlin (mikrotext) 2018. 288 Seiten. 21,99 Euro. Auch als E-Book erhältlich (12,99 Euro). Originaltitel: Interior Zero, Polirom 2016.
 
Das Buch ist in jeder Buchhandlung oder hier erhältlich ...
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