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Kito Lorenc: Gedichte

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Jan Kuhlbrodt

Sprachsteine, Wortland


zu Kito Lorenc: Gedichte
mit einem Vorwort von Peter Handke



Ich saß einmal, es muss so vor zehn oder mehr Jahren gewesen sein, aber schon im dritten Jahrtausend, in einen Raum am Deutschen Literaturinstitut, den alle dort „das Café“ nannten und las in einem Reclamheftchen, das 1984 in der DDR erschienen war und Wortland hieß; sein Autor war Kito Lorenc. Das Buch hatte im Raum herumgelegen, aber ich hatte es zwar auch zu Hause im Regal stehen, nur schon lange nicht mehr hineingeschaut. Natürlich fand ich zu jeder Zeit diesen Buchtitel Wortland verlockend. Ein Land aus Worten. Andererseits wahrscheinlich eine schmerzvolle Erfahrung, wenn das, was von einem Land übrig bleibt, nur Worte sind. Und damit ist nicht die DDR gemeint, denn sie war kein Land, sie war Konstrukt. Von ihr sind nur Phrasen geblieben.
Ein junger Mann mit langem Haar und Zauselbart nahm mir das Bändchen aus der Hand, betrachtete den Titel und sagte kundig:
Ja, das geht.“ Er meinte wohl, dass man das Buch bedenkenlos lesen könnte, oder dass die Texte, die es enthielt, lesbar seien, des Lesens wert seien. Ich bedankte mich nett für die Bemerkung und las weiter.


Für mich war es eine Wiederbegegnung mit Lorenc nach fast zwanzig Jahren und ich schwelgte sowohl in Erinnerung an meine Jugend, als auch in den Texten. Nach meinem Verständnis von 1984 hatte es sich beim Autor schon damals um einen sehr reifen Mann gehalten, denn Wortland enthielt bereits Texte aus zwanzig Jahren, und ich selbst war erst 18. Ein doppeltes Vergnügen ist es darum, in diesem Buch hier, herausgegeben von Peter Handke zum 75. Geburtstag des Dichters, einigen Gedichten wieder zu begegnen. Darin der Text:


Notiz

wieder mal vor meinen Reclambänden gestanden
die ich vielleicht nie alle lesen werde
schon gar nicht nach solchen Tagen wie heute
wo ich Kopfsalat gepflanzt habe:

(…)


Dieser erfahrungssatte Text, der ein Ende einschließt, die Vorstellung also, dass Zeit Frist ist und Vollständigkeit ein unfrommer Wunsch, stand damals meinem Lebensgefühl vollständig entgegen. Noch würde ich alle Bücher lesen können, vor allem aber jene, die ich selbst besaß, und Salat pflanzen, naja, das machen die Anderen. Heute weiß ich von der Vergeblichkeit des Bücheranhäufens etwas mehr. Aber ich erinnere mich, dass mir die Weisheit Lorenc‘scher Texte 1984 bereits einigen Respekt abverlangte.

In Handkes Auswahl finden sich viele gute Texte, sicher auch einige, auf die ich hätte verzichtet, weil sie mir zu einfach und zu privat sind, aber so ist es nun einmal mit einer Auswahl, sie porträtiert den Autor, aber auch den Auswählenden, das muss man aushalten bei der Lektüre. Und man hält es leicht aus: denn man begegnet Texten, auf die man nie und nimmer mehr verzichten möchte, zum Beispiel diesem:


FLURNAMEN

Sprachinselland, kein Wasserhindernis -
es ist Łužyca – Lausitz, der Grassumpf, nasser Wiesengrund
im schönsten: ich halte mein Sieb drauf, gleich
springen die Quellen hervor.


(…)


Und hier sind wir auch an einem Punkt, der einen nicht unerheblichen Reiz der Lektüre ausmacht. Kito Lorenc ist Sorbe, also Angehöriger einer slawischen Volksgruppe, deren Siedlungsgebiet vor etwa tausend Jahren bis nach Westsachsen reichte, also auch jene Gegend umfasste, aus der ich stamme (Chemnitz, Chemnitza = die Steinige; Kamen, kámen = der Stein) und so kommt es bei der Lektüre von Lorenc-Gedichten immer wieder zu Begegnungen mit Sprachsteinen, denen ich in meiner Kindheit und Jugend als Flurnamen und Ortsnamen begegnet bin.



Kito Lorenc: Gedichte. Zum 75. Geburtstag von Kito Lorenc. Berlin (Suhrkamp Verlag) 2013. 128 S., 13,95 Euro.

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