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Kerstin Becker: Biestmilch

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Dirk Uwe Hansen

Wir sind hier eingeborn


Zu Kerstin Becker, Biestmilch



Biestmilch ist für Kühe, was Vormilch für Menschen ist. Aber auch bevor ich das herausgefunden hatte, war es schon ein schönes Wort, ein bisschen geheimnisvoll, ein bisschen beängstigend und fremdartig. Fremd und doch selbstverständlich da, wie es einem Kind mit vielen Wörtern ergehen mag, und wie es mir auch mit anderen Wörtern des Bandes ging (Zibbenfutter, Ränftel und Himmelmiezel etwa). Und es ist ein guter Titel für Kerstin Beckers neuen Gedichtband, dessen großes Thema die Kindheit ist.
Kindheit: Im ersten Moment macht mich das misstrauisch. Auch wenn wir spätestens seit „Fasernackte Verse” wissen, dass Becker nun wirklich nie zu klebriger Sentimentalität neigt, beim Sprechen über Kindheit ist der Weg schmal, der zwischen den Abziehbildern von Bullerbü bis Oliver Twist hindurchführt. Und um es gleich vorweg zu sagen: Beckers Gedicht gleiten nie nach einer der Seiten ab, haben mit kandierter und kommerzialisierbarer Kindheitssimulation nichts, aber auch gar nichts zu tun.
Mir fällt, um sie zu beschreiben, kein besseres Wort ein als authentisch, aber auch das will erklärt sein, denn natürlich handelt es sich bei den Texten nicht um O-Töne aus dem Kinderland.
Authentisch aber ist der Eindruck, den sie hervorrufen, zum Beispiel der Geschmack von frisch aus der nassen Erde geklaubten Kartoffeln:

Erdäpfel

Wirbeltiere mit den krummen Rücken
bücken wir biegen uns fassen
die Kühle klebender Klumpen
Trauerränder wir stoppeln
Hohlgenagte

stochern Mäusen nach stolpern
Ackerschmalz auf den Lippen
werfen uns Knollen
wie Liebesperlen zu beißen
zwischen den Furchen
ins Ungeschälte


Vieles von dem, was mir die Gedichte dieses Bandes wertvoll macht, lässt sich an diesem Gedicht beobachten: Die Sprache, die schlicht ist und dabei ganz unprätentiös neue Wörter und Wendungen schafft — natürlich habe ich das Wort Ackerschmalz zuvor nie gehört, und doch scheint es mir ganz selbstverständlich da zu sein —, das „Wir”, bei weitem das häufigste Personalpronomen in diesem Buch, und auch die wieder ganz unprätentiös verwendeten künstlerischen Mittel wie Binnenreim, Alliteration und Rhythmus. Die Authentizität, um die es mir zu tun ist, entsteht also nicht durch irgendeine vermeintliche Ungekünsteltheit, sondern dadurch, dass dieses Gedicht mich nicht einlädt, eigene Kindheitserinnerungen auf den Text zu projizieren und ihn damit sinnreich aufzuladen, sondern mich konfrontiert mit etwas Unbekanntem, das beim Lesen sogleich eine selbstverständliche Gültigkeit gewinnt, mir eine Erfahrung verschafft und nicht mich an eine Erfahrung nur erinnert (außer vielleicht an die uns allen gemeinsame Kindheitserfahrung, auch einmal Teil so eines selbstverständlichen „Wir” gewesen zu sein).

Tanks

es stinkt wenn wir in leere
Tanks auf dem Hof kriechen schreien
und trommeln im Eisenbauch
Gefangene Untergang Euterdunst

bin Jonas im Wal brüllst du du
und dein Quark aus der Christenlehre
hier Nautilus brüll ich es hallt
wir spucken aus ans Metall

nachts träum ich wälz mich Fremde trinken
Milch die nach uns im Tank
sie schlucken den Schweiß unserer Hände
und unsere Spucke weit weg


So kunstvoll die einzelnen Gedichte komponiert sind, so auch der gesamte Band. Er besteht aus vier Zyklen, die sich wie Kugelschalen umeinander legen und sich dabei immer weiter von einer Keimzelle zu entfernen scheinen hin zum Erwachsenwerden. „Erdäpfel”, der erste Zyklus, dreht sich um Haus, Hof und Feld, in „Glasfluss”, aus dem auch das Gedicht „Tanks” stammt, erweitert sich der Fokus hin zu einer Meierei und damit zu einer Welt außerhalb von Haus und Hof, die Gedichte von „Brennstoff” spielen in einer (auch ein bisschen mythisch aufgeladenen) alten „Fabrik / zum Mondrakete baun” und „Sperrgebiet” führt uns in eben das: das Sperrgebiet zwischen Kindheit und Erwachsensein. Die ersten drei Zyklen beginnen alle mit einem Geburtsgedicht, und auch hier weitet sich die Perspektive Schritt für Schritt – („wir lernten schon / in der Plazenta Kummer kaun” beginnt das erste, „sie schicken erste Schreie in die Nacht / aus der sie wehrlos kommen” das zweite, „die Leute munkeln die Mutter / hätts nicht gewollt” das dritte, das Einleitungsgedicht des letzten Zyklus handelt vom „Körper / ... kriegen”).
Eines der Gedichte, die ich sicher nie wieder aus dem Kopf bekommen werde, will ich noch als Beispiel dafür anführen, wie es Becker gelingt, mit unaufgeregt sicher eingesetzten Mitteln das In- und Nebeneinander von Innen- und Außenwelt der Kinder zu zeigen:

Schwarze Kirschen

wir hocken in der alten Krone
hinter der Fabrik
unsere Bäuche ackern sich
an rußbezognen Kirschen ab
die Lippen kleistern wir
spucken Kerne unsichtbar
und unten:

Laster Rampen
Männer schleppen
Flaschen fallen
Kästen klirren
Scherben schimmern
zwischen Lachen
Frauen kommen
aus der Käserei
sie knöpfen
ihre Kittel auf
sie ziehn übern Hof
die Brüste blank
und alles johlt

wir sehn die Würmer an
bevor sie wir mitsamt verzehrn


So gelingt Becker mit diesem Band gleich mehreres. Einmal finden wir großartige Gedichte, die Bilder vermitteln, die der Leser nicht mehr aus dem Kopf bekommen wird und will (und ach, ich könnte noch mehr Lieblingsgedichte anführen, und es wird jeder Leser seine eigenen finden), zum anderen ist das Ganze eine sorgfältig und mit großer Kunstfertigkeit zusammengefügte Komposition aus vier mit gleicher Sorgfalt komponierten Zyklen. Das sollte sich niemand entgehen lassen.


Kerstin Becker: Biestmilch. Gedichte. Dresden (edition AZUR) 2016. 98 Seiten. 17,90 Euro.

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