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Kenah Cusanit: Chronographische Chorologien I

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Erec Schumacher


Zu Kenah Cusanit – Chronographe Chorologien I



Von der Jahreszahl zur Zyklengenerierung

Kenah Cusanits zweiter Band – erschienen bei hochroth Berlin - ist wieder ein schmaler, in seiner feinen Haptik minimalistisch gestalteter Band geworden. Mit 36 Kurztexten weist er knapp ein Drittel mehr an Text auf als der Vorgänger aus Papier.
Der Titel kündigt es unmissverständlich an. Es geht um Zeitmessung im Kontext des spacial turn, um Raumausbreitung mit Hilfe von historischen Daten.
Die Menschheitsgeschichte wird in den Chorologien verstanden als eine polyphone Geschichte von Ein- und Auswanderungen, von Flüchtlings- und Wanderungswellen. Von Sehnsucht und Gier nach neuen Territorien, Terra Incognita auf der Landkarte und im Kopf. Wie interagiert der Mensch in seinem Bewegungsdrang mit seiner Umgebung, mit seiner Raumwahrnehmung, sowohl schöpferisch als auch zerstörerisch oder beides zugleich? Dies auf 36 Seiten exemplarisch zu rekonstruieren, ist ein faszinierendes Unterfangen.


Jeder Text ist einer Jahreszahl oder einem historischen Zeitraum zugeordnet. Der Fort-gang des Bandes ist dabei nur sehr bedingt chronologisch im Sinne einer linearen Zeit-rechnung aufgebaut, die Texte springen zwischen den Jahrhunderten und Jahrtau-senden. Während der Prolog in der Zukunft (2979) spielt, reicht das am weitesten zurück-liegende Datum ins Paläozän, 65 Millionen v. Chr., umspannt also den Zeitraum von der Ausbreitung der ersten Primaten bis zum vermeintlichen Verschwinden des Homo Sapiens.

Die Texte spannen so einen Resonanzraum auf, einen Erwartungshorizont, den LeserInnen mit ihren geschichtlichen Kenntnissen abscannen können.
Im Prolog endet die Spur des Menschen, das lyrische Ich ist eins geworden mit dem Ozean, dem Logos. Ein unaufgeregt wirkendes klimakatastrophisches Szenario, in dem die Bäume wachsen zur hinsichtlichsten Reling des Meeres. Die Vögel (überraschend ..., dass sie leben) in Nestern aus Leinen. Weiter heißt es in 2979: das Meer, das langweilig ist. [...] dieses grundlose Wasser hat einen Grund, mich. dass ich überfahrbar bin, aber nicht übergehbar.
Innerhalb dieses immens bemessenen Zeitfensters bewegen sich die lyrischen neun- oder zehnzeiligen Notate souverän im Gewand von Zeitungs-, Tagebuch-, Randnotizen oder Briefen. So entstehen Netzwerke von Assoziationsketten, die den Text mit Schichten überdecken, ihn gelegentlich auch in die Irre laufen lassen und Erwartungshaltungen bestärken oder untergraben. Es sind teils geläufige Geschichtszahlen (1815, 1933, 1940, 1945, etc.), mit denen westliche LeserInnen sofort etwas verbinden können, teils konkrete Benennungen wichtiger historischer Ereignisse oder Personalien (Jesu Geburt, Gutenberg, James Cook, Thomas Jefferson, Freud, Jung, Gershwin, etc.), die einen ersten Orientierungsrahmen bieten. Die Sprunghaftigkeit der zeitlichen Anordnung ist dabei nur auf den ersten Blick eine willkürliche. Die Texte konstituieren ein extrem variables System, über das sich beliebige Zyklen generieren lassen. Tatsächlich können die Texte in einzelne, nicht explizit ausgewiesene Mini-Zyklen gruppiert werden.

Multiperspektivität auf verschlungenen Pfaden

Bezeichnenderweise variieren die ersten fünf Texte den Themenkomplex des Sehens, das im westlichen Denken verankerte Primat des Sehsinns, den Sehvorgang als Akt westlicher Weltaneignung, welche immer ein Abbild zu schaffen sucht, derweil sich östliche Kulturen verstärkt innerer Wahrnehmung zuwenden. Ausgehend von Perspektive, Horizont und Standpunkt weitet sich im Fortgang der Texte der Blick zusehends. Ausgangspunkt ist die Raum- und Zeitkapsel des eigenen Arbeitszimmers. Aus dem Fenster fällt der Blick auf scheinbare Singularitäten: ein Baum, ein Taubenhaus, der Schornstein eines Kamins (so wie es LeserInnen aus Cusanits erstem Band aus Papier kennen). Assoziationen mit der Arche drängen sich auf, ein Spiel mit Licht und Schatten, das lyrische Ich vorgestellt als irres, andauerndes Subjekt. Zunehmend wird der Standpunkt erhöht, der Blick erfolgt von einem Hügel aus (wegen der besseren Sicht), das Ich jedoch ist einsam geworden durch zu langes Hinsehen. Der dritte Text, der sich um die Erstbesteigung des Fuji im Jahr 663 dreht, deutet das Auge als ein täuschbares Organ und verweist auf ein Sehen mit geschlossenen Augen. Im fünften Text (1983) spielt das lyrische Ich Sonnenuntergang, während es sich auf eine Space Shuttle-Mission begibt (was kann ich von oben sehen).
Der nächste Zyklus umfasst vier Texte und thematisiert Kolonialismus, Imperialismus sowie Industrialisierung. Ausgangspunkt ist das Ende des Julianischen Kalenders (1752) und der Verlust von zehn Tagen, der sich aus der Kalenderumstellung ergab, der drohende Verlust von Naturdingen, die sich noch widersetzen, aber schon ins Hintertreffen geraten. Es sind Aufbruchsszenarien und Gegengeschichten, Entgrenzungsvorgänge, die gleichzeitig auch Fluchtbewegungen darstellen, nagende Ungeduld und zunehmende Unduldsamkeit gegenüber eigener Rückständigkeit und veralteten Sehzwängen. Ich würde noch eine Weile als Hirte arbeiten... aber ich fange an, es zu hassen. Militärgeschichte wird gestreift, Mobilmachungen, die Tötung von James Cook durch indogene Hawaiier.
Die Texte stehen nicht als Solitäre, sondern beeinflussen und überblenden sich gegenseitig. An einen Text (1904 – 1908), der den Aufstand der Herero und Nama und den folgenden Vernichtungsfeldzug deutscher Kolonialherren in Deutsch-Südafrika als Hintergrundereignis aufruft, schließen sich drei Texte über den Horror des Naziregimes an, wobei zwei Texte jeweils einen Satz wiederholen. Die Pappeln standen schon (1940): zwei Mal pro Zeile im Blocksatz angeordnet - sowie ob die Pappeln schon standen? (1945) – hierbei jede Zeile um ein Wort versetzt, was den Effekt eines unruhigen, in Auflösung befindlichen Textbildes ergibt. Darauf folgt ein Text über Gutenberg. Zitat: ich glaube, dass es gut wäre, wenn alle Menschen zeitgleich dasselbe läsen und allmählich anfingen, logisch zu denken. Der Gedankenfluss kulminiert in der Ausmalung eines ambivalenten Bildes: oh, ich sehe Kinder in einer Reihe stehen, wie Soldaten, oder kleine Instrumente eine Melodie spielen. Logisches Denken und die Lesbarkeit der Welt als Rationalisierungs- und Formierungs- und Unterdrückungsinstrument von Herrschaft. Der nächste Text (7- 4 v. Chr.) verhandelt die Geburt Jesu Christi (dieser Stall ist ein einfaches Konsulat am Rande der Stadt). Hier werden geschichtliche Bezüge und Zusammenhänge hergestellt, alles hängt miteinander zusammen und kann nicht singulär betrachtet werden, hat eine Vorgeschichte, die sich wiederum aus anderen Vorgeschichten speist. Der Blickwinkel ist dabei durchgehalten ein postkolonialistischer, weg von einem eurozentristischen Denkschema. Texte über außereuropäische Kulturkreise (Aleuten, Ewenken, China, Tibet, Japan, etc.) werden eingeflochten. Ein Text, der vorgibt, sich auf die Rosenkriege in England (1455) zu beziehen, wischt diesen Verweis bereits in der ersten Zeile beiseite und schert aus in das zwölfte, das Holz-Schwein-Jahr des chinesischen Kalenderzyklus - der auf jeweils 60 Jahre angelegt ist - und eben auf das Jahr 1455 fällt. Statt der Rosenkriege reflektiert der Text ein friedfertiges und verständnisvolles Umherlaufen. Er verweist am Ende auf das chinesische Wasserschwein-Jahr, das intuitiv mit dem Feuer spielt. Tatsächlich tauchen in dem Band weitere Texte (663, 1983) auf, die auch im Wasserschwein-Jahr datiert sind. Die Space Shuttle-Mission (1983) kann so als zeitgeschichtliches Update der Erstbesteigung des vulkanischen Fuji (663) gelesen werden.

Die Ploetzisierung der Miniatur

So oder so ähnlich können LeserInnen in die Texte eintauchen, und schnell werden aus Miniaturen Enzyklopädien der Weltgeschichte, kleine Ploetze. Jeder Text korrespondiert mit nahezu jedem anderen Text, kann eine Verbindung eingehen. Vom Aussichtspunkt des aleutischen Feuerrings zum Chef der LA-Times, der wegen der besseren Sicht auf einen Hügel gezogen ist; von Jane Austens fiktiven Briefen (Ich versuch es gern mit Sprache) zu ewenkischen Lärchen, deren Bewegungen nur Eskapaden der ewenkischen Sprache sind; von Gutenbergs Buchdruckerwerkstatt und seiner Forderung nach mehr Logik zurück zu den Anfängen der Keilschrift (mach Gebrauch von der Geometrie deiner Gedanken, dem euphratischen Ton deiner Schreibunterlage) oder von der Eroberung Mexikos durch die spanischen Konquistadoren zum Völkermord an den Herero und Nama.
Cusanit präsentiert den LeserInnen keine eindeutigen Erklärungsmuster, sondern ein modellhaftes Set für eigene Explikationsversuche mit fließenden Übergängen, Zwischenbeziehungen und Disparitäten, fordert wie Nietzsche ein perspektivisches Sehen und Erkennen.
Was eine große Stärke des Bandes ausmacht, erweist sich auch als eine partielle Schwäche. Für sich genommen und die Jahreszahlen weggedacht, büßen einige Texte ihre Wirkung ein. Sie wollen, so scheint es, nur als Blätter eines Daumenkinos gelingen, welches der Leser immer wieder neu zusammenstellen kann.
Texte wie 65 Millionen v. Chr. hingegen streifen das Korsett der Einbettungen und Verknüpfungen mühelos ab und erschaffen eine ganz eigene Suggestivkraft. einige von uns werden bis in den Himalaya gelangen und ein Grab in den Bergen haben, da liegt man hoch. obgleich wie hier: in einer Schale, die, wenn wir Glück haben, erst abfällt, wenn wir versteinert sind, Weichteile ersetzt und ausgeschwemmt, Kalk und Kiesel eingetragen sind. nichts hat´s gebracht, die Füße an den Kopf zu pressen ...  
Eher unausgereift ist der Schluss. 1979, das Geburtsjahr der Autorin, ist ein Text, in dem Cusanit ein Recht auf Verspätung durch Zuspätkommen zu etablieren sucht. Das wirkt dann doch fast wie ein Rückzieher angesichts des kunstvollen Furors, der zuvor entfacht wurde.
In aus Papier verharrt Cusanit noch ganz in einem anonymen Ort, in einer zumeist ländlichen, thoreauhaften Kulisse mit entsprechend reduziertem Inventar: Tisch, Zimmer, Haus, Feld, Heidelbeergestrüpp, Wald, Igel oder Eichelhäher. Alles geschieht dort lautlos, ein unwillkürliches Einverständnis mit einer Katze austauschend, und eine Wesensverwandschaft mit Farhad Showghi´s zeitgleich veröffentlichten Prosagedichten In verbrauchter Zeit aufweisend, karg wie ein Theaterstück von Jon Fosse.
Das Miniaturhafte ist in den Chorologien geblieben. Aber aus dem Ort aus Papier ist ein globales, Raum und Zeit sprengendes Dorf geworden. Rosinante als Reittier des naiven Idealisten Don Quijote, der Traum und Wirklichkeit vermischt, und der Impressionist Monet, der die Natur in Farben, Flächen und Formen auflöst - die einzigen historischen Bezüge in aus Papier haben diesen Aufbruch in eine neue Vielfalt an Perspektiven und Möglichkeitsräumen bereits angedeutet. Jetzt liegt er also vor. Chapeau.



Kenah Cusanit: Chronographe Chorologien I. Hrsg. von Peter Holland. Berlin (hochroth Verlag) 2017. 46 Seiten. 8,00 Euro.


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