Direkt zum Seiteninhalt

Katharina Kohm: Ein utopischer Raum im Zeichen dystopischer Zukunftsprognosen - Teil 1

Diskurs/Kommentare > Diskurse
Fokus Lyrik –
 
der Zwischenstand von gegenwärtiger Sprachkunst und ihrer Vermittlung im deutschsprachigen Raum

von Katharina Kohm

Ein utopischer Raum im Zeichen dystopischer Zukunftsprognosen – Teil 1

 
Die Lyrik steht, einst in der Romantik als höchste Kunstform verehrt und in deren Hierarchie der Musik anverwandelt und doch über allen Künsten thronend, aktuell noch immer als Orchidee im öffentlichen Raum. Diese Metapher ist deshalb weiterhin treffend, da diese Pflanzen in der Pflege hohe Ansprüche an ihre Umwelt stellen, man viel falsch machen kann; ihr Blühen aber ist ein Wunder und ein Trotzdem. Sie erfüllen keinen wirtschaftlichen Zweck, geben keinen Ertrag als sich selbst, wachsen sogar mit Luftwurzeln. Es macht also keinen Sinn, sie dem sonst auf Ertrag spekulierenden Markt zu überlassen.

Diese Vorbemerkung scheint der Zeit enthoben.

Die Abnutzung dieser Metapher durch Negativkonnotationen in Bezug auf fehlende Förderung sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieses Bild in seiner Auszeichnung das Besondere, Individuelle und in seiner Fragilität Widerstand markiert. Dazu kommt die hohe Qualität der Gedichte vieler Lyrikerinnen und Lyriker.

Was die Gegenwartslyrik, und die Community, die sich innerhalb des letzten Jahrzehnts gebildet hat, zurecht jetzt einfordert, ist ihre Partizipation an sozioökonomischen Prozessen, gerechtfertigt durch die Fähigkeit von Sprachdichte, der Konzentration und der Erzeugung eines ästhetischen Raums an Reflexion. Die Einbettung der Lyrik und ihrer Vermittlung innerhalb unserer Institutionslandschaft könnte als verkürzte Forderung und Intention des Festivalkongresses gelten.

Ein reziproker Prozess, ein Dialog sollte diese Tagung werden, indem sie den Status der gegenwärtigen Lyrikszene vom 7.-10. März 2019 in der Innenstadt Frankfurts diskutierte, ausleuchtete und die Entwicklung der letzten 15 Jahre mitreflektierte.

Die von dem Lyriker und Vermittler Tristan Marquardt und der Lyrikerin Monika Rinck kuratierte Veranstaltung versprach "Verständigung und Präsentation – ein Katalysator poetischer Energien" zu werden, so die Kulturdezernentin der Stadt Frankfurt am Main, Dr. Ina Hartwig, in ihrem Grußwort.

Institutionelle Unterstützung erhielt der Festivalkongress nicht nur von der Stadt Frankfurt am Main und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, sondern auch aus dem Kulturförderungstopf des Bundes nennenswerte Summen, was im Vorhinein schon zum Skandalon von erwartbarer Seite an Presse (BILD) aufbereitet wurde. Schon im Vorfeld der Großveranstaltung schien man mitten hineingezogen in die Debatte in Bezug auf Lyrikförderung als, so die Argumentation der Lyrikszene selbst, gemeinnützige und schützenswürdige Kunstform, die nicht dem Markt allein zur "Regulierung" überlassen werden dürfe, wie das die AfD indes dazu verlauten ließ.

Dass Lyrik politisch ist, dass Kultur und v.a. Kulturförderung mit Politik zu tun haben, ist an dieser Stelle selbsterklärend.    

Die doppelte Ambition, sowohl einen Kongress als auch ein Festival zu gestalten, ist dem Anspruch nach mehr Förderungen und Partizipation der Lyrik in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen geschuldet, insbesondere an den Schulen und Universitäten, aber auch in Bezug auf die Verlagslandschaft, als auch bezüglich des Anliegens, sich atmosphärisch und gestalterisch einem Festivalcharakter zu verschreiben, der die Begegnung mit der Lyrik als Kunstform und das weitere Vernetzen von Lyrikerinnen und Lyrikern untereinander fördert. Man wollte beides: Fordern und sich gemeinsam präsentieren. Diese Gestaltung zeigt in ihrer Form gerade die Lyrik als Schnittstelle und als Ort der Reflexion, als wichtige gesellschaftliche Plattform, die durch sprachliche Gestaltung über einen größeren Reichtum an Ausdrucksmöglichkeiten verfügt, um gesellschaftlich positiv-poetisch zu wirken. Während des Kongresses wurde dies immer wieder anhand aktueller politischer und geologischer Debatten in den Podiumsdiskussionen verhandelt.

Dass die Lyrikerinnen und Lyriker ihren Stand innerhalb der heutigen Gesellschaft ständig ausloten, wurde schon in der ersten Podiumsdiskussion deutlich, die ich besuchte.

An dieser Stelle soll ganz klar gesagt werden, dass es selbstverständlich nicht möglich war, alle Veranstaltungen zu besuchen, allein schon, da sich das Programm auf drei Orte verteilte, und weil dies in keiner Weise ein objektiver Bericht werden kann, da ich selbst als Lyrikerin, Rezensentin und wissenschaftliche Mitarbeiterin innerhalb der Philologie schnell bemerkte, wie wichtig dieser Festivalkongress auch für die eigene Bewusstwerdung von Aufgaben und Aufgabenteilung und wieder Zusammenführung sowie der Schaffung von Anknüpfungspunkten war. An dieser Stelle und in diesem Zusammenhang sei es mir auch erlaubt, diesen Kongress aus eben dieser meiner Sicht zu erzählen, statt davon in einer anders verhafteten Rolle zu berichten, was mir an dieser Stelle nicht wirklich möglich ist.

Zusammengezogen kann man vielleicht sagen, dass sich die Schwerpunkte der Diskussionen in den Bereichen von Partizipation der Lyrik im Schul- und Universitätsbetrieb, das Verlegen und Verkaufen von Lyrikpublikationen, die finanzielle Förderung sowie auch die Frage nach Poetiken und Mehrsprachlichkeit innerhalb der Lyrikszene verorten lassen.

Schon die erste Podiumsdiskussion am Freitag morgen in der Evangelischen Akademie am Römerberg verhandelte eine zentrale Frage, nämlich diejenige nach dem aktuellen Lyrikbegriff. Begriffsgeschichtlich und von Seiten der Literaturtheorie ist dieser eng mit dem Gattungsbegriff tradiert und verknüpft. Allerdings wurde schnell deutlich, dass es Reibung am Begriff und auch an der Theorie erzeugt, wenn man lyrisch tätig ist.

Auch verschieben sich Grenzen in Bezug auf die Definition von Lyrik, was nicht heißt, dass das Hadern um Begrifflichkeiten obsolet sei, sondern gerade die Abgrenzung aus der kreativen Arbeit an der Sprache den Begriff mitunter verändern kann. Denn semantische Konzepte, aber auch Bedeutungen generell, bilden sich, nach Wittgenstein, durch den Gebrauch und sind so einem Prozess unterworfen, durch den Begrifflichkeiten verschoben werden können.

Gerade wenn Swantje Lichtenstein, Lyrikerin und Professorin, die über Lyrik der Gegenwart promoviert wurde, innerhalb der Diskussion konstatierte, dass die akademische Literaturtheorie der Gegenwartslyrik hinterherhinke, kann gerade dies nötige Auseinandersetzungen ins Feld führen, die dazu fähig sein könnten, mehr Austausch zwischen der Philologie und der Gegenwartslyrik an den Universitäten zu ermöglichen.  

Schon allein, ob man von Dichtung, Lyrik, Poesie oder, wie Michael Fehr, von Erzählung spricht, scheint auch mit den Eigenheiten nationaler oder sprachgemeinschaftlicher Tradierung zusammen zu hängen, denn der Gebrauch eines Begriffs formt seine Bedeutung oder seine Bedeutungsdimension im Prozess der Sprache. So kann es nicht anders sein, als dass man im Publikum Zeuge des Prozesses wurde, der diese Fragen nicht verschleierte, sondern offen verhandelte und der durch die Diskutantinnen und Diskutanten an Tiefe gewann.

Wenn man nämlich, wie Michael Fehr, seine Texte ausschließlich spricht und somit der Terminus Erzähler als Selbstbezeichnung an dieser Stelle viel treffender erscheint, so muss es auch dem Lyriker selbst bzw. dem Erzähler vorbehalten sein, zu entscheiden, wie er seine Texte und sich selbst nennt.

Die Sprache der Lyrik ist keine per se vorhandene.

Auch die innerhalb der Gegenwartslyrik entstehenden Hybride zwischen Lyrik und Prosa, bspw. Formen des Prosagedichts, lassen die Gattungstheorie veraltet aussehen; diese Formen haben jedoch auch eine bestimmte Tradition.

Es gehe, laut Fehr, beim Sprechen seiner Texte eher um die Bildung von Phrasen als von Versen, natürlich mit dem Fokus auf Mündlichkeit. Das Sprechen in Rhythmen, die die Atempausen zwischen Ein- und Ausatmen mit vorgeben, werden hier zu semantischen Ordnungen innerhalb der Entstehung von Texten.  

Die Sprache der Lyrik sei, laut Fehr, auch eben keine präexistierende, kein Werkzeugkasten fertiger Metaphern, denen man sich bedienen muss, um einen lyrischen Text zu produzieren. Es hat vielmehr, wie Daniela Seel es auf den Punkt brachte, mit einem verdichteten und formbewussten Sprechen zu tun, einer Arbeit an der Sprache. So hat auch bei kookbooks das Lektorieren von Gedichten eine wichtige Funktion. Das gemeinsame Arbeiten an den Texten der Autorin bzw. des Autors, das gemeinsame Schärfen von Sprache ist fester Bestandteil der Verlagspraxis. Dies wirke auch dem Geniegedanken entgegen, ein weiteres, nennen wir es Relikt, vergangener Zeiten. Das Originalgenie, der Dichter, übrigens zumeist männlich tradiert, der von der Muse geküsst werde und formvollendete geniale Gedichte schreibe, ist dabei ein Mythos, der hier entkräftet wurde. "Das Lektorieren von Lyrik kratzt am Geniekult" - an die Stelle des vom Himmel fallenden fertigen Produkts rückt die Bedeutsamkeit des Prozesses und somit auch des Austauschs zwischen Dichtenden und Verlegenden.

Aber nicht nur in Buchform erscheint Lyrik heute, sondern auch in gegenseitiger Korrespondenz bei Lesungen, die mit anderen Künsten kooperieren wie Musik und Tanz, in Performances. Auch gebe es Möglichkeiten, im Netz zu publizieren, diese würden neben die klassische Buchpublikation treten, verdrängten sie aber nicht. Daniela Seel betonte in diesem Zusammehang den Raum des Buches, die typografische Gestaltung und die Vertiefungsmöglichkeiten, die sich beim Lesen eines Bandes im Gegensatz zur flächigen Wahrnehmung in den Neuen Medien bieten, wo eher die Horizontale und das Pluralistische betont werden als das Einzelne, vertikale Moment.

Das Buch als Konserve, diese Analogie von Fehr in die Diskussion gebracht, erscheine dabei doch recht konsistent, vergleiche man dazu Lesungen mit frischen Lebenmitteln.

Einen weiteren wichtigen Diskussionspunkt bildete in dieser Konstellation die, auch immer wieder in Rezensionen negativ kritiserte, Hermetik aktueller Lyrik. Wichtig erscheint an dieser Stelle festzuhalten, dass es nicht nur die eine Art des Verstehens innerhalb eines hermeneutischen Zugangs zur Lyrik gebe. Treffend wurde das rein kognitive Verstehen als Herangehensweise an Dichtung für unzureichend erklärt. Lyrik fordere den Leser und die Leserin bekanntermaßen heraus, sich gerade mit einem komplexen Text nicht nur kognitiv, sondern auch ästhetisch auseinanderzusetzen und nach Wegen des Verständnisses zu suchen. Lyrik stelle gängige Verständnismodelle in Frage, indem sie gerade fordert, das einzelne Gedicht fernab von Schemata auf sich wirken zu lassen. Deutungsprozesse und damit auch Möglichkeiten zur Begriffserweiterung müssen offen verhandelt werden.

Diese Begriffserweiterungen müssten von Philologen auch innerhalb der universitären Lehrpraxis und in der Forschung behandelt werden, so Lichtenstein. Der Ort, so auch hier die Forderung, müsse sich für Gegenwartslyrik öffnen,  annähernd dem US-amerikanischen Vorbild.


Der vielsprachige deutsche Raum

Das anschließende Podium diskutierte die polyglotte Lyriklandschaft innerhalb des deutschsprachigen Raums. Die Lyrikerinnen und Lyriker schilderten ihre Schwierigkeit, sich immer in Bezug auf die eigene Herkunft bzw. die vorheriger Generationen, positionieren zu müssen. Der Moderator Federico Italiano, der für die eigentlich vorgesehene Moderatorin Aurélie Maurin eingesprungen war, schaffte es leider nicht immer, Fragen außerhalb des Deutungsrahmens zu finden und anwesende Dichterinnen und Dichter zu präsentieren. Anders innerhalb des deutsprachigen Raumes zu dichten, erscheint als anstrengende Doppelbelastung, an sich schon Lyrik zu schreiben, Kunst zu betreiben und andererseits immer auch dieses Andere zu repräsentieren, durch eigene Körperlichkeit. Im Grunde galt das lange auch für weibliche Künstler. An dieser Stelle war bemerkenswert, dass der aus dem Kongo stammende Lyriker Fiston Mwanza Mujila, der in Österreich auf Französisch schreibt und Lehraufträge über Afrikanische Literatur an der Universität Graz durchführt, gerade das Verbindende der Poesie als Sprache betonte, die einen Modus von Sprache zu bezeichnen scheint, der über Landessprachen hinweg Grenzen zu überwinden imstande ist, durch einen gemeinsamen Zugang zum Sprechen, und zwar einen ästhetischen. Dieser romantische Gedanke, den man schnell mit der Rede von der Universalpoesie in Bezug setzen könnte, erschien hier aber aus der eigenen Erfahrung gesprochen. Dennoch werde man dann eben doch als markierter und exotischer Schriftsteller wahrgenommen, so Mujila. Die Unsicherheit, ob man sich als Zaungast, als Quotenmensch oder als uniquer Dichter versteht, erzeugt ein innerliches Dilemma, das all jenen anzuhaften scheint, die nicht weiß und männlich sind. Das sind Probleme, mit denen man sich leider nicht erst seit diesem Podium beschäftigen muss, dennoch trat diese Problematik an dieser Stelle offen zutage und wurde dadurch nachvollziehbar.

Der britische Lyriker Joel Scott betonte in diesem Zusammenhang die Vernetzungspolitik der Unabhängigen Lesereihen. Dennoch sei es für ihn so, dass er hierzulande nicht ermächtigt und kein Teil der Gesellschaft sei.

Was der Literaturbetrieb generell noch nicht verstanden habe, so die Lyrikerin Safiye Can, sei, dass Schrifstellerinnen und Schriftsteller unterschiedlicher Herkunft eine Bereicherung für die Literatur seien, und dass man doch in der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Ort, an dem man sich schreibend befinde, sein eigenes kreatives Potential schöpfe. Ob in kritischer Auseinandersetzung mit frz. Traditionen des Surrealismus oder in Anlehnung an die konkrete und visuelle Poesie – so werde an diesen Schnittstellen die Dekolonialisierung von Literatur vorangetrieben und in diesem Zusammenhang Kolonialisierungstendenzen auch innerhalb der hermeneutischen Tradition demaskiert und möglicherweise obsolet in der Beschäftigung mit dem Einzeltext. Es müsste viel mehr Einzeltextphilologie geben.


Weiter zu Teil  2 »
Zurück zum Seiteninhalt