Karl Kraus: Lob der verkehrten Lebensweise
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Karl Kraus
Lob der verkehrten Lebensweise
Ich hatte
die traurigen Folgen einer normalen Lebensweise, mit der ich es eine Zeitlang
versuchte, nur zu bald an Leib und Geist zu spüren bekommen und beschloß, noch
einmal, ehe es zu spät wäre, ein unvernünftiges Leben zu beginnen. Nun sehe ich
die Welt wieder mit jenen umflorten Blicken, die einem nicht nur über die
Wirklichkeit der irdischen Übel hinweghelfen, sondern denen ich auch manch eine
übertriebene Vorstellung von den möglichen Lebensfreuden verdanke. Das gesunde
Prinzip einer verkehrten Lebensweise innerhalb einer verkehrten Weltordnung hat
sich an mir in jedem Betracht bewährt. Auch ich brachte das Kunststück zuwege,
mit der Sonne aufzustehen und mit ihr schlafen zu gehen. Aber die unerträgliche
Objektivität, mit der sie alle meine Mitbürger ohne Ansehen der Person
bescheint, allen Mißwachs und alle Häßlichkeit, entspricht nicht jedermanns
Geschmack, und wer sich beizeiten vor der Gefahr retten kann, mit klaren Augen
in den Tag dieser Erde zu sehen, der handelt klug, und er erlebt die Freude,
darob von jenen gemieden zu werden, die er meidet. Denn als der Tag sich noch
in Morgen und Abend teilte, wars eine Lust, mit dem Hahnenschrei zu erwachen
und mit dem Nachtwächterruf zu Bett zu gehen. Aber dann kam die andere
Einteilung auf, es ward Morgenblatt und es ward Abendblatt, und die Welt lag
auf der Lauer der Ereignisse. Wenn man eine Weile zugesehen hat, in wie
beschämender Art sich diese vor der Neugierde erniedrigen,wie feige sich der
Lauf der Welt den gesteigerten Bedürfnissen der Information anpaßt und wie
schließlich Zeit und Raum Erkenntnisformen des journalistischen Subjekts werden
– dann legt man sich aufs andere Ohr und schläft weiter. »Nehmt, müde Augen,
eures Vorteils wahr, den Aufenthalt der Schmach nicht anzusehn!«
Darum
schlafe ich in den Tag hinein. Und wenn ich erwache, breite ich die ganze
papierene Schande der Menschheit vor mir aus, um zu wissen, was ich versäumt
habe, und bin glücklich. Die Dummheit steht zeitlich auf, darum haben die
Ereignisse die Gewohnheit, vormittags zu geschehen. Bis zum Abend kann immerhin
noch manches passieren, aber im allgemeinen fehlt dem Nachmittag die lärmende
Betriebsamkeit, durch die sich der menschliche Fortschritt bis zur Stunde der
Fütterung seines guten Rufs würdig zeigen will. Der richtige Müller erwacht
erst, wenn die Mühle stillesteht; und wer mit den Menschen, deren Dasein ein
Dabeisein ist, nichts gemein haben will, steht spät auf. Dann aber gehe ich
über die Ringstraße und sehe, wie sie einen Festzug vorbereiten. Vier Wochen
hallt der Lärm, wie eine Symphonie über das Thema von dem Geld, das unter die
Leute kommt. Die Menschheit rüstet zu einem Feiertag, die Zimmermeister
schlagen Tribünen und die Preise auf, und wenn ich bedenke, daß ich all die
Herrlichkeit nicht sehen werde, beginnt auch mein Herz höher zu schlagen.
Führte ich noch die normale Lebensweise, so hätte ich wegen des Festzugs
abreisen müssen; nun kann ich dableiben und sehe trotzdem nichts. Ein alter
König bei Shakespeare winkt ab: »Macht kein Geräusch, macht kein Geräusch;
zieht den Vorhang zu! Wir wollen des Morgens zu Abend speisen.« Ein Narr, der
die Verkehrtheit dieser Weltordnung bestätigt, setzt hinzu: »Und ich will am
Mittag zu Bette gehen.« Wenn aber ich am Abend frühstücken werde, wird alles
vorbei sein, und aus den Zeitungen erfahre ich bequem die Zahl der
Sonnenstiche.
Alle
größeren Unglücksfälle geschehen am Vormittag; so bewahre ich mir den Glauben
an die Vortrefflichkeit der menschlichen Einrichtungen. Doch in den
Abendblättern steht nicht nur was geschehen ist, sondern auch wer dabei war,
man fühlt sich in eine sichere Entfernung von einer Brandstätte gerückt und bat
dennoch Gelegenheit, die Häupter jener Lieben zu zählen, die rechtzeitig u. a.
bemerkt wurden, so daß kein einziges fehlt. Man mache sich die Verwandlung des
Weltenraumes in einen lokalen Teil zunutze, so gut man kann, man bediene sich
des Verfahrens, das unter dem Namen Zeitung eine Konserve der Zeit herstellt.
Die Welt ist häßlicher geworden, seit sie sich täglich in einem Spiegel sieht,
darum wollen wir mit dem Spiegelbild vorlieb nehmen und auf die Betrachtung des
Originals verzichten. Es ist erhebend, den Glauben an eine Wirklichkeit zu
verlieren, die so aussieht, wie sie in den Zeitungen beschrieben wird. Wer den
halben Tag verschläft, hat das halbe Leben gewonnen.
Alle
größeren Dummheiten geschehen am Vormittag: der Mensch sollte erst erwachen,
wenn die Amtsstunden zu Ende sind. Er trete nach Tisch ins Leben hinaus, wenn
es frei von Politik ist. Daß auch die Attentate vormittags geschehen, wird er
allerdings nicht aus den Abendblättern entnehmen können; denn sie werden
zumeist auch von den Korrespondenten verschlafen. Es gibt eine Zeitung, die
einen Vertreter nach dem andern nach Paris schickte, um die Attentate auf die
Präsidenten rechtzeitig zu erfahren; und siehe da, ein Präsident nach dem
andern kam ums Leben, und jedesmal war der Tod eines Präsidenten der
Zwillingsbruder des Schlafs eines Korrespondenten. Als neulich die deutschen
Fürsten in unserer Stadt weilten und alles auf den Beinen war, wußte ich nichts
davon. Aber auch sonst hatte dieser Zwischenfall keine nachteiligen Folgen für
mich, höchstens, daß es zum erstenmal geschah, daß ich zum Frühstück mein
gewohntes Rindfleisch nicht bekam, also einer Neigung entsagen mußte, durch die
ich bis dahin meine Zugehörigkeit zu der Stadt, in der ich lebe, demonstrativ
bekundet hatte. Der Kellner entschuldigte sich und verwies mich zum Trost auf
die Festigung des Dreibunds. Die hatte ich verschlafen. Wenn ein Theologe sich
dazu durchringt, nicht mehr an die unbefleckte Empfängnis zu glauben, so
geschieht es am Vormittag, wenn ein Nuntius sich blamiert, so geschieht es am
Vormittag, und es ist wahrlich immer noch besser, daß ein Sturm der Bauern auf eine
Universität oder der Ruf »Heraus mit dem allgemeinen Wahlrecht!« uns den Schlaf
des Vormittags stört als die Ruhe des Nachmittags. Nur einmal kam ich zufällig
des Weges, wie ein Minister nach Tisch demissionierte. Aber wie unordentlich
ist es auch damals zugegangen! Die Polizisten hieben um drei Uhr auf die
Volksmenge ein, die »Abzug!« gerufen hatte, und sagten schon um viertel auf
vier. »Geht's harn, Leuteln, der Bodens is a schon gangen!« Wie steht es mit
der Justiz? Sie ist nur am Vormittag blind, und geschieht ausnahmsweise einmal
noch in vorgerückter Stunde ein Justizmord, so handelt es sich gewiß um einen
besonders skandalösen Fall. Oder es kann in Deutschland passieren, daß in einer
geschlechtlichen Affäre die Wahrheit auf dem Marsche ist, und zwar seit
fünfundzwanzig Jahren, und dann muß sie wohl die Nachmittage zu Hilfe nehmen.
Um einem solchen Ereignis zu entfliehen, nützt es auch nichts, sich wieder ins
Schlafzimmer zurückzuziehen, da sich bekanntlich gegenüber dem Wahrheitsdrang
gerade dieses als der am wenigsten sichere Ort herausgestellt hat. Gehört es
aber sonst immerhin zu den Annehmlichkeiten des Lebens, dessen
Unannehmlichkeiten verschlafen zu können, so muß ich leider zugeben, daß ich
auf einem Gebiete mit meiner Praxis überhaupt kein Glück habe, und zwar im
Bereich der schönen Künste. Denn es ist eine alte Erfahrung, daß die meisten
Theaterdurchfälle gerade abends geschehen.
Dafür ist in
der Nacht in allen Betrieben öffentlicher Betätigung Stillstand. Nichts regt
sich. Es gibt nichts Neues. Nur die Kehrichtwalze zieht wie das Symbol einer
verkehrten Weltordnung durch die Straße, damit der Staub verbreitet werde, den
der Tag zurückgelassen hat, und wenns regnet, so geht auch der Spritzwagen
hinterher. Sonst ist Ruhe. Die Dummheit schläft – da gehe ich an die Arbeit.
Von fern klingt es wie das Geräusch von Druckpressen: die Dummheit schnarcht.
Und ich beschleiche sie und ziehe aus der meuchlerischen Absicht noch Genuß.
Wenn am östlichen Horizont der Kultur das erste Morgenblatt erscheint, gehe ich
schlafen ... Das sind so die Vorteile der verkehrten Lebensweise.