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Karin Fellner: Ohne Kosmonautenanzug

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Dirk Uwe Hansen

Einfallschleusen für / kleine euphorische Sonnen


Bevor ich den Versuch mache, Karin Fellners neuen Gedichtband einigermaßen objektiv zu beschreiben, muss ich mir zuvor wenigstens kurz und ganz subjektiv Luft machen: Denn die hier vorgelegten Texte sind feine, melancholische Kunstwerke, der Band als Ganzes ein großer Wurf. Ich kann die Gedichte nicht lesen, ohne den Wunsch zu verspüren, mir jedes einzelne davon durch Auswendiglernen anzueignen, um sie eine Weile mit mir herumtragen und sie immer wieder betrachten zu können; zugleich will ich aber auch immer mehr und immer weiter lesen, um dem Verlauf der zu einem großen Zyklus geordneten Kapitel zu folgen. Ein Dilemma, allerdings ein beglückendes. Es ist ein Jammer, dass der yedermann-Verlag, in dem Fellners zweiter und dritter Gedichtband erschienen sind, nicht mehr existiert (denn natürlich wird man nach der Lektüre dieses Bandes alles von Fellner lesen wollen) – umso erfreulicher, dass sie nun bei der parasitenpresse, in der schon ihr Debut „Avantgarde des Schocks“ erschienen ist, wieder eine Heimat gefunden hat.

Die vierunddreißig Gedichte des Bandes sind in vier Kapitel gegliedert, die sich zu einem Zyklus über den Rückzug aus der Wirklichkeit zusammenschließen. In jedem Kapitel tritt uns eine andere Sprecherin entgegen: Die Poetin, Skarda, Die Närrin und Anako Retin. Sprechende Namen in der Tat, spätestens wenn man, von den kurzen Anmerkungen am Ende geleitet, hinter „Skarda“ die Anlehnung an Hölderlins alter ego Scardanelli und hinter Anako Retin die Anachoretin entdeckt.
Das Eröffnungskapitel „“Poetin“ beginnt mit diesem Gedicht:


SPIRITUS, VERFLÜCHTIGUNGSLINIEN

Im Hinterhof hört die Poetin
den Geist der alten Kastanie
ein Pfeifen über dem Sims,
Morgenjets, Hotelduschen
gymnastisch der Nachbar ein
Scherenschnitt auf Schamott.

Dass eine Kröte noch tief
im Brustbein ihr sitze wie Fels
oder Stolz, sagt sie: Herz
sei eine Quetsche und dehne
zu ächter Freundlichkeit dich
zwischen Paneelen

zu Äther, dem flüchtige so
daß wir ins Offene schauen


Behutsam sammelt die Poetin ihr Material aus den verschiedensten Quellen, von scheinbar banalen Alltagseindrücken bis zu Hölderlinversen, das sie sodann kunstvoll und ganz unprätentiös zu einem neuen Ganzen verwebt, einem Ganzen, das ein Fremdeln mit wie auch ein Suchen nach der Außenwelt vereint, ein „...Erinnern, / wie es ginge auch ohne / Kosmonautenanzug /        
in der Leere zu sein“
.

Diese Fähigkeit, aus allerlei Disparatem Neues zu schaffen, zeigt Fellner auch in den anderen Gedichten des Bandes: Mundart trifft da auf streng gebaute Verse, Wort- und Klangspiele auf Zitate, Klingonisch auf den Lorscher Bienensegen, Konservendosen auf chinesische Schnitzereien. Dabei bleiben die Nahtstellen sichtbar, ohne dass das Ganze an Einheit verliert.
Weiter entfernt von der Außenweltswirklichkeit der „Zielhaber“ finden wir Skarda, die Sprecherin des zweiten Kapitels, die mit dieser Welt nur noch durch „...ein Krönchen / aus dem Gold des Absurden...“ verbunden ist, das alle tragen.


Skarda erklärt den Passanten
die Haube unter der Haube.

Zum Beispiel ein Schnee, der sich neigt
über das Dach heißt: la neige.

Ebenso lassen sich Meisen
auf Mimesiswiesen nieder.

sit sitter sittich wird
das rechtmäßig durchkonjugiert.

Folglich ruft Skarda die Stechmücken
zum Schmücken der Nacht,
zum Brunch, zur Brandstiftung, ach-ch!


Erweist sich die Sprecherin hier schon als reine Torin, wird sie im folgenden Kapitel – „Qapla“, ein klingonischer Gruß – endgültig zur Närrin. Und während die Poetin noch einen Nachbarn als Gegenüber hatte, Skarda „Passanten“, so spricht die Närrin „während ein Tauber balzt“ zum Wind, zu Termiten und Registrierkassen.

Die Närrin kaut Borke, sie kauert
im Hochhaus über den Sümpfen
wo Leuchtreklamen glänzen
und magnetische Vögel

Sie flüstert: Auch Blitze sind
ekstatisch und leben im Schwarm.
Schwärmen will sie ins Schwarz
der Galaxien und sagt:

Diesen Knochensack nehm ich
für wahr und schüttle ihn aus.


Im letzten Kapitel hat Anako Retin, die Einsiedlerin, als wäre sie wirklich ins Schwarze geschwärmt, niemanden mehr zum Ansprechen als sich selbst, bringt die Sprecherin in den letzten sechs Gedichten sich selbst fast zum Verschwinden:

Sagt Anako Retin auf Anako Retin deutend:
Wer ist diese Person? So beugen sich ihre Bünde,
im Akkord mit dem Wind, im Ab-, im Weiterblättern.
Lokale Schnitte über offenem Umfeld, Halm
im System der Gräser. Amtlos ist die Person,
wo war sie vor der Gründung?
Die Augen liegen quer über der Nase, ich
übe, sagt Anako Retin, den Rauch
und das Verwehen
in alle zehn Richtungen.


So souverän und unprätentiös wie in der Zusammenstellung des Materials zeigt Fellner sich auch in ihrer Beherrschung der Form. Zwar wirken die meisten Texte, als wären sie schlicht in freien Versen geschrieben, doch hat jedes der Gedichte seinen eigenen, unverwechselbaren Rhythmus. Eines ist etwa am Skelett eines Sonettes entlanggeschrieben, in anderen finden sich klassisch-daktylische und auch Odenmaße, immer als einzelne Teile erkennbar, und doch stets zu einem geschlossenen Ganzen verfugt. Erst die Texte des letzten Kapitels nähern sich der Form des Prosagedichtes an und lassen so den Vers sich ebenso auflösen, wie die Poetin sich in der Anachoretin auflöst „in alle zehn Richtungen“.

Erschienen ist der Band als zweites Buch in der Reihe der nummernlosen Bücher. Ich wünsche ihm (und der parasitenpresse) zahllose Nachfolger und vor allem zahllose Leser.


Karin Fellner: Ohne Kosmonautenanzug. Gedichte. Köln (parasitenpresse) 2015. 46 Seiten. 9,00 Euro.

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