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Jürgen Nendza: Mikadogeäst

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Jan Kuhlbrodt

Zur Auswahl von Gedichten Nendzas



Zum ersten Mal hörte ich Jürgen Nendza auf einer Lesung in Leipzig. Er las aus dem damals gerade erschienenen Band Die Rotation des Kolibris und ich war sofort erheblich fasziniert von diesen Texten, zumal sie sich in einen Wahrnehmungskonflikt begaben, der mich damals, und auch heute, mehr oder weniger sehr beschäftigte.
Das Phänomen auf das ich hier anspiele heißt Aliasing und spielt im Zusammenhang mit Film eine gewisse Rolle, ist aber auch im Alltag zu verzeichnen. Das Gehirn setzt optische Informationen zusammen nach ihm bekannten Modi, und so erscheinen uns Bewegungen zuweilen in einer der Realität gegenläufigen Weise, wie wir die Speichen eines Rades, die sich schnell im Sonnenlicht vorwärts drehen, zuweilen in einer rückläufigen Bewegung sehen. Im ersten Gedicht des Zyklus „... sagen die Luftwurzeln“, der auch in der Auswahl abgedruckt ist, heißt es:

...

So bleiben wir stehen
in der Luft, in einer Schleife
ohne toten Umkehrpunkt, während
unter uns die Landschaft
weiterzieht.


Man kann diese Sammlung ausgewählter Gedichte Nendzas, die im Poetenladen unter dem Titel Mikadogeäst erschienen ist, unter diesem Gesichtspunkt, also dem der Wahrnehmungs-verschiebung, lesen. Aber nicht nur hinsichtlich optischer und natürlicher Phänomene.
Im Durchstreifen der Landschaft, im Überfliegen, vermischen sich auch historische Prozesse, scheinbar Abgeschlossenes mit Gegenwärtigen.

Man könnte hier von einem social aliasing sprechen, wenn im Vorbeiziehen des Aktuellen Geschichte in einer neuen Ordnung oder besser Unordnung, denn Geschichte war von sich aus nie geordnet, aufscheint. Grandios zu erfahren im langen Gedicht Piegaresische Fenster.

Die über weite Strecken zweiversigen Strophen entfalten in diesem Text ihr kaleidoskopisches Potential. Fast hätte ich geschrieben meisterhaft, aber ich misstraue diesem Wort doch zu sehr.

...

die Gegenwart im Unterholz für eine Geschichte
des Widerstands zum Beispiel, die mitläuft

durchs Vokabular gegenüber den Hügel hinauf
zum römischen Weiler, wo wir den Tempel Dianas

sehen im Zitat und mit jedem Wort
ein Labyrinth, in dem die Zeit sich verliert,


Auch wenn mir als Leser längere Texte eher liegen, mag ich doch noch auf ein Gedicht hinweisen, in dem Nendza seine Fähigkeit zur Lakonie erprobt, ohne - wie viele andere - in diesem Bereich grandios zu scheitern:

UNTER DEM KNÜPPELPFAD

das trittempfindliche
Gedächtnis, Vennlilien,

ihre Frakturschrift ins Gelb.

Das Hundeverbot, die rote
Fahne. Am Ende beugt sich
ein Blutauge ins Denken.


So könnte es gehen, denke ich immer wieder bei der Nendza-Lektüre.


Jürgen Nendza: Mikadogeäst. Gedichte aus 20 Jahren. Leipzig (Poetenladen) 2015. 128 Seiten. 16,80 Euro.

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