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Judith Hennemann: tryptichon

Gedichte > Münchner Anthologie

Judith Hennemann

triptychon


läufer navigieren im netzplan: schneller als paranoia,
langsamer als der nachmittag. hackysack, gitarre, tiger,
springer durch glühende reifen, gelungene reproduktion

wir

hinterlassen geblümte tüten, der grill hat es hinter sich.
im diagramm aus stahlrohr und holz: kinder. im andern
aus patchwork und schattenriss: eltern. eine tangente

abdel

spricht arabisch, französisch und facebook. unter der stadt
autobahn herrscht stille. oder die taubheit am fluchtpunkt.
andere inseln betreten, schnittmenge, foul im strafraum:

ich


aus: Judith Hennemann: Bauplan für etwas anderes. Gedichte. Axel Dielmann Verlag, Frankfurt 2017

Martina Weber

Im Triptychon wie in einem Wimmelbild navigieren

Judith Hennemanns Gedicht „triptychon“ steht aufgrund seines Titels in der Tradition des Gemäldegedichtes. Ein Gemäldegedicht nimmt seinen Ausgangspunkt bei einem Gemälde, kann sich aber nicht in dessen bloßer Beschreibung erschöpfen, sondern entwickelt durch den Dialog etwas eigenes und kann für sich stehen, auch wenn der Leser, die Leserin das Gemälde, auf das das Gedicht sich bezieht, nicht kennt.

„triptychon“ funktioniert wie ein Wimmelbild. Ich kann bei jedem Lesen auf den drei Gemäldetafeln andere Bilder sehen, auch wenn „wir“, „Abdel“ und das lyrische Ich durch die Hervorhebungen im Text vielleicht als zentrale Elemente der drei Gemäldeteile angedacht wurden. Judith Hennemann schafft es, in ihrem Gedicht in wenigen Zeilen verschiedene Stimmungen anzuschlagen.  

Einheitlichkeit wird erzeugt durch Ort und Zeit: Wir befinden uns in einem Park am Nachmittag. Der Park, ein beliebter Topos in der Lyrik, wird begrifflich nicht genannt, sondern durch Konnotation anderer Begrifflichkeiten und Bilder als Schauplatz erzeugt. Beschaulich oder gemütlich ist hier allerdings nichts: Jeder scheint allein zu sein, eigenen Interessen nachzugehen, Familien sind zerbrochen, der Grill wird wahrscheinlich einfach liegen gelassen (ein Einmalgrill?) und Blumen gibt´s nur auf Plastiktüten. Über dem Park scheint eine Stadtautobahn zu verlaufen, immerhin ist es still, doch diese Ruhe wird nicht positiv bewertet, sondern als Taubheit. Es scheint also keine „objektive“ Ruhe zu sein, sondern eine Unfähigkeit, etwas wahrzunehmen, - oder jemanden: Abdel, die anderen.

Das Gedicht bietet keine zusammenhängende Wahrnehmung sinnvoller Beobachtungen an einem Nachmittag im Stadtpark. Zusammenhänge, Zugehörigkeiten, eine begreifbare Weltsicht sind längst verloren gegangen. Es werden Fragmente wahrgenommen, es wird Fachvokabular verwendet in der Beschreibung der (räumlichen) Beziehung zwischen Eltern und Kindern: eine Tangente. Der Begriff „gelungene reproduktion“ wirkt hier auch noch nach. Man könnte ihn in Anbetracht der Patchworkfamilie auch ironisch lesen; es gibt Frauen, die den Vater ihrer Kinder nach Genpoolkriterien auswählen.

Der Name Abdel bringt eine politische Ebene ein. Es ist naheliegend, dass Abdel arabische Wurzeln hat, aber ob es einen Bezug zur „taubheit am fluchtpunkt“ gibt, bleibt offen. Diese Passage könnte sich auch auf das lyrische Ich oder ein lyrisches Wir beziehen. Das Gedicht ist nicht nur ein Wimmelbild, es funktioniert auch wie ein Kaleidoskop. Abdel kann auch Teil der Patchworkfamilie sein, Jugendlicher oder Erwachsener, möglich ist es aber auch, dass sein „fluchtpunkt“, also das Ende seiner Flucht, unter der Stadtautobahn liegt, Taubheit in den Füßen. Manchmal sehe ich auf einem dieser Triptychonbilder auch den Grill unter der Stadtautobahn und spüre das Ende der Patchworkfamilie (die „taubheit am fluchtpunkt“). Der Hackysack, die Tiger und die glühenden Reifen lassen mich an einen zurückliegenden Zirkusbesuch denken oder an die Vorstellung eines Zirkusbesuchs, als eingeblendetes Blitzlicht.

Die letzte Zeile beginnt mit der schönen Passage „andere Inseln betreten“. Dies würde sich einfügen in die Interpretation, Abdel sei ein Araber, der einen anderen Kontinent (den Kontinent als Insel im weitesten Sinn) aufgesucht hat, die Passage passt aber auch zu einem Teil einer Patchworkfamilie oder zum lyrischen Ich, falls es nicht Teil der Patchworkfamilie ist (was offen bleibt). Und auch losgelöst von jedem Zusammenhang funktioniert dieser Satz: Das Betreten einer anderen Insel als das Betreten eines neuen, realen oder imaginären Raums. Der italienische Lyriker Filippo Tommaso Marinetti schrieb in seinem Technischen Manifest der Futuristischen Literatur: „Man muss das Verb im Infinitiv gebrauchen, damit es sich elastisch dem Substantiv anpasst und es nicht dem >Typ< des Schriftstellers unterwirft, der beobachtet oder erfindet. Das Verb im Infinitiv kann einzig den Sinn der Fortdauer des Lebens und die Elastizität der wahrnehmenden Intuition geben.“ Für die letzte Zeile des Triptychons passt der Infinitiv perfekt.

Das Gedicht endet mit einer Bewegung hin zum lyrischen Ich. Die verbindenden Elemente lauten „Schnittmenge. Foul im Strafraum.“ Die Schnittmenge ist ein Begriff der Mengenlehre, die im Rahmen der Grundschul-Reformpädagogik der 1970er Jahre in Westdeutschland eingeführt wurde. Das Wort „Foul“ kann für diejenigen, die den Text hören und nicht lesen, auch als das Adjektiv „faul“ im Gegensatz zu „fleißig“ wahrgenommen werden. Wir befinden uns plötzlich auf einem Fußballfeld, und die Gelegenheit eines Tores wurde verpatzt.

Wieso eigentlich sollte Abdel nicht mit dem lyrischen Ich identisch sein? Judith Hennemanns „triptychon“ hebelt gewohnte Wahrnehmungsmuster auf. Nicht einmal die Identität der eigenen Person ist gewiss. Das Triptychon (als dreifach Gefaltetes) hat sich längst aufgelöst. Das Gedicht entzieht uns, den Lesenden, den Boden unter den Füßen, es konfrontiert uns mit den Bedingungen unserer Wahrnehmung und unserer Identität.


Am 1. Mai 2017 publizierte Martina Weber ein Gespräch, das sie mit Judith Hennemann für den Blog „Manafonistas. On music, life etc. beyond mainstream“ führte und das unter o.a. Link gelesen werden kann.

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