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Josef Hader: Die Normalitätslüge

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Josef Hader

Die Normalitätslüge

Normal zu sein, ist das Ideal der Mittelmäßigen“ (C. G. Jung)


Das Sich-Hervortun-Wollen ist dem Menschen angeboren. Während seiner gesamten Existenz führt er es im Schilde und leugnet es gleichzeitig. Vieles muss herhalten, um den Kern der Sache zu vernebeln. Diese Ambivalenz ist ihm Lebenssinn und Geißel zugleich. Die Wege seiner Bestrebungen sind tatsächlich verschlungen, wogegen er öffentlich Geradlinigkeit und Bescheidenheit heuchelt. Wer des subtilen Sich-Hervortuns nicht mächtig ist, wird übergangen, endet als Mauerblümchen und kann weder sich selbst ernst nehmen, noch wird er von den anderen ernst genommen. Zu normal zu sein, behindert ein erfülltes Leben und macht unglücklich. In ihrem Bestreben, sich „Anders Als Alle Anderen“ zu geben, sind alle Menschen sooo gleich. Die vier altbekannten magischen „A“ des Auffallens gelten für das Positionieren der eigenen Person genauso wie für das Produkt- und Dienstleistungsmarketing. Ja, ums Auffallen dreht sich alles, aber bitte unbedingt nur im normalen Rahmen; der nächste scheinbare Widerspruch. Es geht also darum, möglichst normal auffällig zu sein, denn das stößt uns nicht vor den Kopf. Das (geheime) Bedürfnis nach Geltung lechzt nach Befriedigung durch anerkannte Prestigeobjekte, Prestigeberufe, Prestigefreizeitvergnügen etc., wobei als Referenzwert wohl die Richtlinien des jeweiligen gesellschaftlichen Umfelds gelten. Die abnormal Auffälligen werden gemeinhin als unangenehme Zeitgenossen empfunden und sozial ausgegrenzt. Manchmal geschieht es jedoch, dass Abnormale Bewunderungsstatus erlangen, mitunter in der Kunst. Sie dürfen auf dem Radius der Gesellschaft vom Rand in die Bewunderungszone hineinrücken. Oft vollziehen diesen Ruck lediglich einzelne Lebensumstände, wenn beispielsweise das Werk eines Künstlers geschätzt wird, er selbst als Person allerdings weiterhin Außenseiter bleibt.


Die Kunst als Mediator

Die Dichterbranche hält dazu einige eindrucksvolle Beispiele parat. Es sind dies schizophrene Künstler, die für ihr Werk hohe Aufmerksamkeit erfahren durften, aber den Schritt hinaus über die Schwelle der Irrenanstalt nie wirklich vollziehen konnten. Sie avancierten wegen ihres ungestümen und scheinbar bedenkenlosen Schreibstils zu anerkannten Vertretern der „Art brut“. Normale schätzen diese Schreiberzeugnisse. Vielleicht, weil sie die Routine ihrer eigenen eingetrübten tagtäglichen Gedankenmuster erfrischend durchbrechen oder weil viele Normale sich voyeuristisch an gemeinhin Unaussprechlichem delektieren und sich selbst dabei als noch opportuner erfinden können. Oder weil hier Texte aus einer scheinbar fremden Ursache heraus entstanden sind, die mit einer Vermengung aus Einfachheit und Komplexität des Pudels Kern auf unorthodox treffende Weise bloßlegen. Talentierte schizophrene Schriftsteller können Worte überaus beweglich handhaben, sie montieren sie unvoreingenommener, spielerischer, kreativer, unberechenbarer, als es üblich ist. Sie folgen mit größter Konsequenz der Tonspur ihres künstlerisch produktiven Erregungszustandes, den sie nicht mühsam „herbeibeten“ müssen, sondern den sie – anscheinend als Indiz der Krankheit – unkompliziert abrufen können. Der normale Dichter reduziert seine etwaigen „übertriebenen“ Einfälle auf ein gängiges Maß, der schizophrene hingegen lässt sie originär stehen.
Die Erforschung schizophrener Kunst ist mir eine spannende Herausforderung, die mich immer wieder verblüfft. Die beiden Schizophrenen Ernst Herbeck und Edmund Mach waren zur selben Zeit psychiatrische Patienten im „Haus der Künstler“ auf dem Gelände der Landesnervenklinik in Maria Gugging in Niederösterreich und dort die einzigen Dichter unter ebenfalls sehr anerkannten bildenden Künstlern. Der Psychiater und Leiter, Leo Navratil, begann schon Mitte der 1950er Jahre, seine Patienten aus Diagnose- und Therapiegründen künstlerisch zu fordern und zu fördern. Daraus entwickelten sich einige hervorragende Talente, die sogar in der offiziellen Kunstwelt reüssieren konnten. Primar Navratil benutzte die Kunst, um die Kranken innerlich zu berühren, und im Gegenzug berührten die Schizophrenen die Außenwelt mit ihren künstlerischen Werken in unerwartet hohem Ausmaß.

„Im Herbst da reiht der Feenwind“, lautet einer der bekanntesten Verse und zugleich auch der Titel eines Buches von Ernst Herbeck (Residenz Verlag, Hrsg. Leo Navratil). Das Buch erwartungsvoll aufgeschlagen und kurz angelesen auf der Suche nach Prägnantem, fällt mir spontan folgender Dreizeiler eines längeren Gedichtes ins Auge: „Freiheit das Wort im lauten Klang. / liegt als Parole für die Leut’, – / bereit uns zu verbannen.“ Übermächtig über der Form thront die Eruption der Aussage wie auch in seinem folgenden Gedicht:

Der Tod

Der Tod ist eigentlich
eine Erlösung. (Vom
schwachen Leben.) Der
Tod ist das Leben für
die schwachen Toten.
Der Tod ist zu begehren
im Kampf; Der Preis da-
für. Sehnen sie sich nach
der Tat für den Tod?
Der Tod, der Tod, der Tod!
Deshalb wird Krieg ge-
führt!“


Das obskure Gedankenfeuerwerk von Edmund Mach spritzt wie Blut aus klaffenden Wunden und bekleckert den Mainstream, ohne bewusst literarische Formen sprengen zu wollen. Unter Verworrenem und Widersinnigem finden sich immer wieder Perlen von Formulierungen mit überwältigender Scharfsicht, überraschenden Wendungen und unfreiwilliger Komik. Dass seine Texte nichts mit Faserschmeichlerei zu tun haben, stellt Mach schon im Titel seiner Bücher klar wie zum Beispiel bei „Triumph des Schockens“ (Verlag G. Grasl, Hrsg. Manfred Chobot), aus dem das folgende Gedicht stammt:

Eine hübsche Besucherin

Essen und Darmkrankheit
macht nichts
Mach hat zum Besuch
ein Fräulein, viel steht er
nicht auf sie, sie trinken
und trinken, bis das Loch
fertig ist.
Das Mobilar war ansprechend
und man fertigt sich
ein Leben an.
Zu dir ist nichts, von
dir ist alles. Inge lehrt das Torlone
Essen über dem Herd
schicken, und der Besuch
war also. Mit dem Wodka
war es all.“



Verrücktnormal und normalverrückt

Wir suchen einerseits das Verrückte im Normalen und andererseits das Normale im Verrückten. Daraus könnte man folgern, dass das Normal und das Verrückt die gegenüberliegenden Pole derselben Kategorie sind und jeder Punkt auf der Skala einem anderen Mischungsverhältnis der beiden Eigenschaften entspricht. Durch kontinuierliches Verschieben des Messpunktes schlägt irgendwann das überwiegend Normale ins überwiegend Verrückte um und umgekehrt. Der Sachverhalt ist jedoch komplexer, wenn die beiden Extreme als unabhängig voneinander stehend gesehen werden. Ein zweidimensionales Schema bietet sich hier an: Die oppositionelle Ausprägung von normal wäre nicht verrückt, sondern nicht normal. Analog verhält es sich mit verrückt/nicht verrückt. Somit fokussiert sich das Spannende dieser Betrachtung auf einen Zustand „maximaler Bewunderung“, den die beiden Ausprägungen nicht normal und nicht verrückt definieren und den vor allem das Werk von Ernst Herbeck anscheinend ganz gut getroffen hat und den die Menschen, wie eingangs behauptet, (heimlich) anstreben.


© Josef Hader, www.josefhader.at
Erschienen in: Jetzt anders! Ein Lesebuch voller Vielfalt und für Toleranz.
Hrsg. von Franziska Röchter. Verl (chiliverlag) 2014. 188 Seiten. 12,90 Euro.

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