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José F.A. Oliver: wundgewähr

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Gerrit Wunstmann

Safranfrühe Mondschattenlieder
José F. A. Oliver erkundet in „wundgewähr“ die Grenzen der W:orte


w:ort

Das ist es vielleicht, was mich vor Jahren, als ich zum ersten Mal Gedichte von José Oliver las, lange bevor ich ihm zum ersten Mal persönlich begegnete, für ihn einnahm. Diese kleine Marotte, Wörter durch Doppelpunkte, manchmal auch Leerzeichen, Zeilenbrüche, Groß- und Klein-schreibung aus ihrem gewohnten Kon:text zu nehmen. Was ist ein Wort eigentlich, abgesehen von der Summe seiner Buchstaben und seiner Etymologie? Was geschieht mit Wörtern, wenn man sie ontologisch betrachtet?

Sie sind mehr als willkürliche Sinnzusammenhänge, die man irgendwann mal auswendig gelernt hat, das spürt man spätestens, wenn man sich mit Fremdsprachen ausein-andersetzt. Oder, wie José es in seinen Gedichten oft tut, mit den eigenen zwei Muttersprachen. Wenn er spanische Verse in deutsche Gedichte einzieht, verändert sich augenblicklich der Ton, der Leser wechselt von einem Ort zum anderen, geht in ein anderes Empfinden, dass sich mitunter allein durch Sprache ausdrücken lässt. Sprachlosigkeit ist Verlorenheit, ist ein Nicht-Ort, ein Nichtverstehen, das eng mit Unsicherheiten verknüpft ist. Man fällt aus gewohnten Strukturen, stolpert, verliert halt – und je nachdem, wie man reagiert, fällt man entweder in Verzweiflung oder er:findet Neues, und damit auch Neues an und in sich selbst.

Das ist, sch:eint mir [um den Effekt beispielhaft zu demonstrieren] ein elementarer Antrieb hinter José Olivers Schreiben zu sein, der sich im Laufe der Jahre entwickelt hat. In den frühen Gedichten tastet er sich an diese Technik, das Wort an sich zu hinterfragen, noch langsam heran, zum Beispiel sichtbar in seinen frühen Gedichten, die unter dem Titel „Heimatt“ erst vor wenigen Jahren bei Schiler neu aufgelegt wurden. Heute, im aktuellen Band „wundgewähr“ (Matthes & Seitz), lotet er die Grenzen des sagbaren aus, ja, erfindet bisweilen gänzlich neue Sprachansätze, in die man sich hineinfinden muss, möchte, denn sie machen etwas mit dem, wie man die Sujets der Gedichte wahrnimmt, die vom tagespolitischen Kommentar über das gebrochene Stillleben über Verlusterfahrungen und Weltzweifel zu einer Art Erkenntnis führen: Welt, Wahrnehmung und Sprache sind niemals eins, man muss sie subjektiv einander nahebringen. Nicht mit dem Ziel, zu verstehen. Sondern mit dem Ziel, Fragen zu stellen, wann immer es geht.

nachklang

gichtknotentempus des tages / am morgen
die schweren schwäne & ruder-
schwänze der vögel / ihr taumelweg
ans wasser / ins leichtere revier / & b:leibt

1 fisch-
maulschnappen meiner gedanken / ich
werfe angelruten in die sprache, die
stickstumm noch vor fülle dichterw

: orte abverdaut / Un
aufgeräumt die metriklust der bilder / sie folgt
auch meinem gang fluchtvirtuell
aus poemen schwenk:end fort ins wasser

Der mit dem fein geriffelten Umschlag, der sich jeder Glattheit widersetzt, haptisch und mit einer Collage des Autors auch optisch so verwirrend wie anziehende Band ist umfangreich: Knapp 220 Seiten Gedichte, die über mindestens zehn Jahre hinweg entstanden sind (so zumindest den hin und wieder zu findenden Zeitangaben entnehmbar) enthält er und ist in mehrfacher Hinsicht ein Versuch: eine vers:ierte Kartographie von Lebensabschnitten im Kontext des Weltgeschehens, die sich in Kontexte einer tiefg:reifenden sprachlichen Archäologie setzt. Gedichte, die mit Form und Bedeutung experimentieren und sich über Neologismen Zugänge suchen, zu sich, zum Leser, in denen der Mensch ein „sterbling“ ist, wo sich im August „mondschattenlieder safranfrüh“ begegnen und „mundneugierig“ mit der Welt kommunizieren.


José F.A. Oliver: wundgewähr. Berlin (Matthes & Seitz) 2018. 224 Seiten. 24,00 Euro.
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