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José F.A. Oliver: Fremdenzimmer. Essays

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Dominik Dombrowski

Der immer doppelte Horizont

[Von der Dimension der Schicksalsgehöfte]



Klar, José F.A. Olivers Band „Fremdenzimmer“ ist anno 2015, also vor Unzeiten, erschienen und erst jetzt, ca. anderthalb Jahre später kommt diese Besprechung von mir - aber dies ist natürlich auch mein Statement, denn das Buch ist ja bleibend und vielleicht eines der wichtigsten. Man müsste es wahrscheinlich sowieso alle Jahre wieder noch einmal besprechen, dieses Fremdenzimmer! Und da steckt es ja eh schon tief, dieses Zweischneidige. Wie leicht könnte heuer etwa unglücklicherweise ein Kompliment vergiftend geraten, dass das Buch etwas Bleibendes hat, politisch gesehen? Weil es ja natürlich schade wäre, dass es das haben müsste...? Bei José gibt es reichhaltig solche Doppelbödigkeit; es ist sein Stil, er hat da etwas erschaffen, konsequent, zwischen Sehnsuchtsort und Außen-vor-Sein, zwischen Durchgangsstation und Willkommenskultur.

Was wurde da – mittlerweile - aus der „Anatomie der Fremde“, wie es in einem früheren Gedicht José Olivers heißt? Nicht bloß eine Verdoppelung, sondern eine Auffächerung, eine Bereicherung der Zeichen und Deutungen zieht sich durch dieses Fremdenzimmer und – was definitiv Literatur meint – für Leser und Autor gleichzeitig: Es scheint nämlich schon so, als baue sich da langsam eine gute Tradition, eine evidente literarische Gattung auf. Denn explizit sind es im Moment wohl die Lyriker, die mittlerweile diese einfühlsameren, sinnlicheren, autobiographischen Essay-bücher entwerfen - Meditationen darüber, wie sie wurden, was sie sind,  - und was die ganze Zeit (wie es den Journalisten eigentlich eignen würde, aber zu selten noch tut) mit ihnen gemacht hat: Tomas Tranströmer, „Die Erinnerungen sehen mich“, Durs Grünbein, „Galileo Galilei“ oder – viel früher noch, zum Beispiel  – Jean Paul Sartres „Die Wörter“.

Empathie ist hier überall irgendwie das Zauberwort, denn der Unterschied zu den prosaischeren Kollegen ist bei den Poeten immer das Intensiv-Szenischere, dieses Konzentriertere, das Intimere und das Persönlichere im Gegensatz zur bloßen autobiographischen, historisierenden Auf(er)zählung: „Lyriker bleiben da : stets dichter“, so würde es José möglicherweise formulieren. - Man kann davon ausgehen - es wird hoffentlich so sein - dass dieses Buch „Fremdenzimmer“ gerade ab dieser Zeit immer phänomenologischer und nicht warnender werden wird, eine Erlebnislektüre für uns Wanderer zwischen den Welten, denn - wann hat man das schon einmal? Einer der sprachgewaltigsten deutschen Gegenwartslyriker, der gleichzeitig der Sohn von (hier mal spanischen) Einwanderern ist - und der aus dieser Spanne, diesem Übergang heraus meditiert?  Wenn man zum Beispiel das Gedicht „angezählt“ aus dem früheren (jetzt im „Schiler-Verlag“ Berlin/Tübingen neu aufgelegten) Lyrikband „Gastling“  liest: „ins land geboren / zufällig eins / entzweit / angekommen / aufgebrochen // gastling“, bekommt man ja bereits einen Eindruck, ein Motiv hinsichtlich der Publikation dieser aktuellen biographischen Essay-Sammlung, deren Titel „Fremdenzimmer“, so existentiell-tiefstapelnd das klingt, ja bereits gleichzeitig diesen hohen bescheidenen Sehnsuchtsmoment in sich birgt:  Zwei Mütter - ist dabei der Titel des ersten Kapitels, zwei Mütter, das sind hier: zwei Sprachen, zwei Länder, zwei Mondgeschlechte, usf. Und jetzt denke ich noch einmal an dieses entzweit im Gedicht „angezählt“ im „Gastling“… - Entzweit ist hier Synonym, aber auch eine Paradoxie innerhalb eines Einsamwerdens, der gewonnene, sich entblätternde (doppelte) Horizont – eins zu zweien gemacht.  
Das Eingangskapitel in „Fremdenzimmer“ diskutiert bereits am Paradigma der Vertrautheiten (Emma Viktoria und der Originalmutter ;-)) die Kindheit des Protagonisten in all seiner Vieldeutigkeit, der Märchenhaftigkeit und der Lieder, das Bereichernde in der nicht Zwischen-, als vielmehr – mehrdimensionalen – Welt:schau eines Einwanderers, nein, des Sohnes eines Immigranten, der Naivität auf den Grund zu gehen, das Reflektieren darüber, das andalusische Blut, die alemannische Wirklichkeit, die Tradition (aus Franco-Diktatur & Weltkrieg?) und von dort dann die Träume zwischen Hausacher Gymnasium und ihren wunderfitzigen Drangsalen und Gutseln (Bonbons). Chronist seiner Geworfenheit – eigentlich ein Verlust, je anders auf der Welt zu sein, als in mehr als einer „Heimat“? „Fremdenzimmer“ ist eine Lektüre, die seine Leser mit seinen Lektionen und Legenden engagiert bezirzt und sie dabei heftig befragt, sie kommt dabei humoristisch (im Sinne eines leise augenzwinkernd – melancholischen Sounds) und dreisprachig daher: deutsch und badisch / dialektisch und spanisch. José Oliver reflektiert hier mit erfrischend-schwerer Leichtigkeit staunend seinen Sprachenrausch (= Tausch und Täuschung) als Kind und als Teenager, die schulischen Erlebnisse, die augenzwinkernden Lehrer- und Heinrich-von-Kleist-Missverständnisse zwischen Spießertum und Sinnlichkeit: „Lexikalisch wohlbemerkt. Ich kenne keinen rein dialektalen Ausdruck dafür. Auch wenn manch einer schu in Gont kummen isch, der seine Schätze nicht zu hüten wusste.“ Da hat es die Poesie natürlich einfacher, und – tröstlicherweise - erst später schwer. Gertrude Steins Verszeile „A rose is a rose is a rose“ ist im alemannischem Nachoriginal rhythmischer aufgehoben als in der hochsprachlichen Version, bei: „E Ros isch e Ros isch e Ros“, hat es folglich seinen Reiz, zwischen der Schriftensprache und dem Dialekt hin und her zu pendeln. Aber es hat nicht nur Reiz, sondern es hat auch Takt und Trost: „Schon auf dem Heimweg dämmerte mir, dass man für den Nachnamen ebenso gültig den ansonsten anderweitig verwendeten Begriff ‚Gschlächt‘ benutzen und dass das Haus, in dem man lebte und das im übertragenen Sinne eine Art Schicksalsgehöft darstellte, h:erdverbunden als ‚Heimat‘ bezeichnet werden konnte.“
Im Moment gibt es wahrscheinlich wenige Bücher, die wichtiger und empathischer sind, und gleichzeitig orientierter und unpostfaktischer als dieses; mit José F. A. Olivers „Fremdenzimmer“ ist viel gesagt und viel gewonnen. Es sei aber noch unbedingt der Aspekt hinzugefügt, dass immer der Lyriker sich hier Bahn bricht; es heißt da zwar mit etwas Understatement auf dem Umschlag: „Prosa“, aber was wir verstärkt bei José Oliver in den Schlusskapiteln: „Vaterskizze, m:einen Kühlschrank betrachtend“, „Vier Gerüche Holz“, „Postskriptum“ und „Epilog“ zu lesen bekommen, sind hermetisch-wache Langgedichte; sie sind wie Rückstrahler auf das ganze Buch – etwas sehr Geheimnisvolles, Seltenes, eine Seltsamkeit aus Politik und Kunst, wie, wenn man einen (vor)bestimmten Stein am Weg findet, der einem ab da etwas bedeutet.


José F.A. Oliver: Fremdenzimmer [Autobiographische Essays]. Frankfurt am Main (weissbooks.w) 2015. 119 Seiten. 16,90 Euro.

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