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Johann Reißer: Archäologie und Sampling: Die Neuordnung der Lyrik bei Rolf Dieter Brinkmann, Thomas Kling und Barbara Köhler

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Jan Kuhlbrodt

Bewegungen



Eigentlich bin ich eher skeptisch angesichts germanistischer Arbeiten, aber, wenn man sich darauf einlässt, ergeben sich doch immer wieder interessante und spannende Parallellektüren. Während ich also über die Produktionen zur Gebrannten Performance Klings und Köhlers Istanbulbuch nachdachte, las ich in einer Arbeit, die sich mit der Neuordnung der Lyrik bei Rolf Dieter Brinkmann, Thomas Kling und Barbara Köhler beschäftigt. Das Buch ist von Johann Reißer und im Kulturverlag Kadmos erschienen. Es heißt Archäologie und Sampling.

Wie der Name des Buches verrät, untersucht Reißer die Dichtung als Verfahren im historisch politischen Kontext, er arbeitet die Verfahren der drei genannten Autoren heraus und begründet sie aus den Situationen der jeweiligen Arbeits- und Lebensweise heraus. Natürlich arbeitet Reißer damit gegen einen noch immer verbreiteten Geniekult an:

Von einem statischen Punkt aus betrachtet, erscheint Dichtung somit als Verfahren, der Sprache Form und der Zeit Maß einzu-schreiben. Richtet man die Aufmerksamkeit dagegen auf den Geschehensablauf, so kann Dichtung als Verfahren verstanden werden, welches die im Fluss von Sprache und Zeit vorgefundenen Elemente nach Form und Maß verbindet.

Sicherlich war die Lektüre der Arbeiten Roman Jakobsons grundlegend für vorliegende Schrift, denn sie lösten die Dichtung und deren Theorie im Gefolge des russischen Formalismus und des französischen Strukturalismus aus den Fußfesseln des romantischen Kultes und ermöglichen es letztlich heutigen Zeitgenossen, wie eben Reißer, auf eine solche Weise über Dichtung zu schreiben, wie er es in vorliegender Schrift tut.

Bei Brinkmann zum Beispiel zeigt Reißer auf, wie der Dichter sich Verfahren des Pop und Jazz bedient und damit seine Dichtung auf eine Art widerständig macht, gegen die Totalitarismen der deutschen Geschichte, die sich letztlich auch in deren Dichtung eingeschrieben haben. Die Verwendung technischer Mittel wird so auch politisches Statement.


Brinkmanns Ideal poetischer Klarheit, Gegenwärtigkeit und Mannigfaltigkeit kann nur durch eine offene Form umgesetzt werden, welche vorherrschende Realitäts- und Ausdrucksmuster unmittelbar zulässt und schnelle Wechsel zwischen verschiedenen Ebenen und Formen ermöglicht.

Brinkmann ist also der älteste, unter den drei untersuchten Dichterinnen und Dichtern. Und vielleicht war er nicht auf eine klassische Art Schule-bildend, als dass sich seine Verwendung der Mittel im Dichtungsbetrieb tradiert hätte. Was sich aber nach Brinkmann auf jeden Fall fortgesetzt hat, ist das sehr reflektierte Einsetzen künstlerischer Mittel und Möglichkeiten, immer in Kontakt auch zu anderen Künsten und außerkünstlerischen Bereichen.

Konstitutiv für Klings Sprachräume sind auch Bewegungen der Neuen Musik und des Punks. Bewegungen, die sich immer auch neuester technischer Mittel, wie eben des Samplings, bedienen.
Oder Barbara Köhlers Dichtung, die ohne gewisse poststrukturalistische und feministische Theorien so wahrscheinlich nicht denkbar und auch nicht rezipierbar wäre.


Die Wechselwirkungen zwischen Sprache und Körper werden in Köhlers poetischen Texten zu einem zentralen Ansatzpunkt, um einfache Darstellungs-logiken auszuhebeln.

Indem Reißer ihre Verfahren herausarbeitet und sie Bewegungen in Technik und Theorie konfrontiert, trägt er einiges zum Verständnis bei, aber vor allem zum Verständnis dieses Verständnisses.

Grob gesagt, hat der Buchdruck mit beweglichen Lettern die Literatur, wie wir sie heute kennen, zuallererst ermöglicht, mit allen daraus resultierenden politischen Konsequenzen. Das zwanzigste Jahrhundert hat wiederum grundlegende Veränderungen der Produktion und Reproduktion von Literatur gebracht, deren Auswirkungen wahrscheinlich noch gar nicht abzusehen sind. Wie die technischen Neuerungen des vergangenen und des laufenden Jahrhunderts unser Schreib- und Leseverhalten beeinflussen, ist gerade äußerst spannend mitzuerleben. Mit leichter Verzögerung schlägt sich das auch in Theorie nieder. Die Darstellungslogiken und künstlerischen Verfahren sind gerade dabei, sich grundlegend zu verschieben.



Johann Reißer: Archäologie und Sampling. Die Neuordnung der Lyrik bei Rolf Dieter Brinkmann, Thomas Kling und Barbara Köhler. Berlin (Kulturverlag Kadmos) 2014. 216 Seiten. 22,50 Euro.

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