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Jörg Neugebauer: Kafka - Das nächste Dorf

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Mein Großvater pflegte zu sagen: „Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, daß ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, daß — von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen — schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.“ (Aus dem Prosaband "Ein Landarzt", erschienen 1919)


Dieses kleine Stück Kurzprosa von 1919 besteht, nach zwei sehr kurzen Einleitungssätzen, aus einem einzigen langen Satz.  "Kurz" lautet auch das erste wichtige Bezugswort: "Das Leben ist erstaunlich kurz". So wie dieser Text, möchte man sagen. Kaum länger als ein durchschnittlich langes Gedicht. Alles dreht sich hier um die Kürze. Kürze scheint geradezu der zentrale Begriff dieses Textes zu sein. Aber es heisst nicht allein "kurz", sondern "erstaunlich kurz", ja "erstaunlich kurz" ist dieser Text, zweifellos, und das ist selbst doch "erstaunlich", denn Prosatexte pflegen im allgemeinen länger zu sein. Der Text, so scheint es, schildert nicht nur einen Vorgang, sondern er beschreibt in gewisser Weise auch sich selbst. Aber wovon ist eigentlich hier die Rede? "Das Leben" ist "erstaunlich kurz", heißt es. Wer das sagt, ist "mein Großvater". Das könnte natürlich theoretisch ein wirklicher Großvater sein, doch was dieser angebliche Großvater dann im folgenden von sich gibt, das klingt verdächtig nach Kafka, das ist geradezu Originalton Kafka, und so darf man, zumindest versuchsweise und ohne jeden Anspruch auf Gewissheit, einmal annehmen, dass aus  jenem "Großvater" Franz Kafka, der Schriftsteller, spricht, nicht so sehr der Versicherungsbeamte , der er im Zivilberuf war.
"Das Leben ist erstaunlich kurz" - Kafka wurde nur knapp einundvierzig Jahre alt. Als er diesen kleinen Prosatext schreibt, hat Kafka noch fünf Jahre zu leben. Und er weiss das auch, zumindest rechnet er damit, seit zwei Jahre zuvor bei ihm Tuberkulose festgestellt wurde, eine damals tödliche Krankheit. Nehmen wir also für einen Augenblick an, dieser "Großvater" hätte etwas von Kafka, wäre, in diesem Augenblick, da dieser kleine Text entsteht, ein ausgelagertes Teil-Ich jenes lungenkranken Franz Kafka, der ahnt, dass er nicht mehr sehr lange zu leben hat und für einen Augenblick auf sein schon größtenteils gelebtes Leben zurückblickt. Von "Erinnerung" ist da die Rede - in unserem Text - und dass sich etwas "zusammendrängt": das "Leben" in diesem Fall, aber auch der Text selbst ist so: "zusammengedrängt" - in einem einzigen Satz wird etwas Grundlegendes über das Leben ausgesagt, ja vielleicht ist es nur so möglich, "zusammengedrängt" eben, etwas Grundlegendes über das Leben auszusagen, während jede ausführlichere Darlegung alles verwässern würde: Über das Leben, so scheint es, läßt sich nur "zusammengedrängt" etwas Grundlegendes aussagen, oder gar nicht.
Diese möglicherweise grundlegende Aussage will der Großvater an einem "Beispiel" verdeutlichen: Wenn Kafka in diesem Augenblick der Großvater ist, dann ist das "Beispiel" die Literatur, das Erzählen in sprachlichen Bildern. Ein solches wird nun sogleich im weiteren Verlauf des Satzes entfaltet: Der Ritt ins nächste Dorf. Die Haltung, in der der etwa 35jährige Kafka/Großvater auf sein Leben zurückblickt, ist die des Nicht-Begreifens: "...dass ich zum Beispiel kaum begreife...". Das Leben als solches kann nicht "begriffen" werden; was im Leben geschieht, wie schnell oder langsam, warum, aufgrund welcher Gesetzmäßigkeiten, das alles ist nicht zu "begreifen" - man kann aber ein "Beispiel" geben, ja, das Ganze in einem sprachlichen Bild darstellen, das kann man. Dadurch wird es zwar auch nicht "begriffen", es ist aber - als Bild wenigstens - "da". Und so verdanken wir der Tatsache, dass der 35jährige Kafka/Großvater sein Leben rückblickend nicht zu "begreifen" vermag und für einen Augenblick möglicherweise unter diesem Umstand leidet, diesem Nicht-Begreifen-Können also verdanken wir diesen kleinen Text aus dem Jahr 1919, diese Miniatur, die ja irgendetwas an sich haben muss, was die Menschen anspricht, fesselt, verzaubert, interessiert - sonst würde sie nicht immer wieder abgedruckt, in unzähligen Ausgaben und Lesebüchern, im Internet, sondern wäre, wie 99 Prozent aller Literatur, die je veröffentlicht wurde, schon seit langem vergessen. Das Nicht-Begreifen-Können als Quelle, als Ursprung von Literatur!
Springen wir ans Ende des Satzes und damit des Textes: Dieser hängt nun ganz von dem Wort "fürchten" ab:  Wie kann, so heisst es im Text, ein "junger Mensch" sich auch nur ins nächste Dorf aufmachen, "ohne zu fürchten, daß — von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen — schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht". Die Furcht überschattet das ganze Leben. Bei Kafka mangelt es nicht an Belegen dafür, dass er sich vor vielem gefürchtet hat. Vor Mäusen etwa. Auch vor der Ehe. Vor Frauen als solchen nicht unbedingt, aber davor, was daraus werden könnte, wenn man sich als Mann zu eng an eine Frau bindet. Diese Furcht verlor sich erst spät, als die Krankheit ausgebrochen und das Ende des Lebens absehbar war - in seiner letzten Beziehung, zu Dora Diamant in Berlin. Wo auch seine letzte Erzählung vollendet wurde- die "Mäusesängerin Josefine", ein ironisches Selbstportrait des Künstlers Franz Kafka. Worauf aber bezieht sich die "Furcht" in unserem kleinen Text? Darauf, dass die Zeit nicht ausreicht - "bei weitem nicht hinreicht", wie es heisst. Und wofür reicht sie nicht hin? Für einen Ritt auch nur ins nächste Dorf. Für das, sollte man meinen, Alleralltäglichste. Da ist der Gedanke an jene vielzitierte Briefstelle nicht fern, aus einem der unzähligen Briefe Kafkas an Felice Bauer, mit der er zweimal verlobt, doch nie verheiratet war:
"Manchmal denke ich, Du hast doch, Felice, eine solche Macht über mich", schreibt er 1913, "verwandle mich doch zu einem Menschen, der des Selbstverständlichen fähig ist."
Das Alltägliche, scheinbar Selbstverständliche als das Schwerste - es scheint so, als seien es nicht die vermeintlich großen Taten, die das Leben ausmachen, sondern der Kampf um das eigentlich Selbstverständliche. Ähnlich vielleicht in der Literatur, die  für Kafka aufs engste mit dem Leben verbunden war. Auch hier, in der Literatur, ist es relativ einfach, große Worte zu machen, die aber bald hohl klingen, weil sie bei genauerem Hinsehen wenig Konkretes besagen. Das kleine, Alltägliche, das scheinbar Selbstverständliche darzustellen, ist ungleich schwerer - und dafür "reicht die Zeit bei weitem nicht hin".
Kafka ist nicht der Autor der großen Worte, obwohl viele Interpreten nur nach denen gesucht haben in seinen Schriften. Und wenn er große Worte gebraucht, Worte wie "Schuld" etwa, "Furcht" oder "Glück"/"Unglück", dann stets mit einem großen Fragezeichen. Was er intensiv, fast obsessiv beschreibt, ist vielmehr Alltägliches, und das tut er ganz ohne Fragezeichen, aber oft so detailliert und aus ungewöhnlicher Perspektive, dass das Alltäglichste und scheinbar Selbstverständlichste fragwürdig wird. Und ist es nicht das, was Kunst soll: Das vermeintlich Selbstverständliche so zeigen, dass erkennbar wird, wie wenig selbstverständlich es ist? So wie der scheinbar selbstverständliche Ritt ins nächste Dorf.
Von einem anderen Wort nicht erst zu sprechen, das in dem kleinen Text zwischen zwei Gedankenstrichen sozusagen aus der Betrachtung ausgeklammert wird: "von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen -" heisst es da. Es geht also nicht darum, dass der dumme Zufall alles durcheinanderbringen kann, was ansonsten wohlgeordnet seinen gewohnten Verlauf nimmt. Sondern dass dieses gewohnte, scheinbar Vertraute und Alltägliche selbst - bei näherem Hinsehen  - sich womöglich als etwas ganz anderes zeigt als wir dachten. Der Ritt ins nächste Dorf ist eben nicht nur der alltägliche Ritt ins nächste Dorf - sofern wir uns - ein weiteres Schlüsselwort aus diesem so kleinen Text - die "Zeit" nehmen, diesen scheinbaren Routinevorgang einmal offen zu erleben. Die Kunst kann dafür öffnen, das Erstaunliche an den scheinbar alltäglichen Dingen und Abläufen wahrzunehmen, es neu zu entdecken. Novalis bezeichnete die Poesie als "singende Opposition gegen die Welt der Gewohnheit". Wer diesem Gesang zu lauschen bereit ist, dessen Dasein erschöpft sich nicht in routinehaften Vollzügen, die Zeit, als kurzbemessene Lebenszeit, verliert ihre bestimmende, ja bedrohliche Rolle, und der "Ritt ins nächste Dorf" darf Jahrhunderte dauern.

Jörg Neugebauer

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