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Joachim Frank: Tanglewood

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Joachim Frank
Tanglewood
übersetzt von Günter Plessow (und Joachim Frank)


Tanglewood

Das Paar vor mir ist eingeschlafen. Paar im Singular:
Yin und Yang derselben Seele. Ihre Leiber regen sich, wenn sie ein- und ausatmen, unisono.
Träumen sie einander? So daß, wenn die eine schläft, der andere aufpaßt
aus Angst, sie verschwinde sonst? Und sie, wenn beide wach werden, einander betrachten
wie Fremde? Der Augenblick der Wahrheit ist da, wenn ein Blatt fällt und den Mann aus dem Gleichgewicht bringt: „Honey,“
sagt er, hebt den Kopf und linst zu ihr hinüber.
Sie regt sich, seufzt, schläft aber weiter.

Eine Dame in rosafließendem Kleid, reglos wie ein Stilleben.
Ich sehe sie von hinten. Der Schirm, den sie hält, ist rosa gekräuselt
wie gewisse afrikanische Veilchen, die Gefahr laufen, überwässert zu werden.
Ihre Ellbogen sind schmal und ledrig wie eine Pferdepeitsche.
Ihre Statur schrumpft ein, wie um die Wendigkeit von Jockeys anzunehmen,
doch diese Karriere steht nicht zur Wahl :  der Schirm wird ihr im Weg sein.
Pferde, höre ich, sind sehr empfänglich für das, was sie peripher wahrnehmen.
Schwer zu sagen, ob sie mit einem Freund spricht oder einfach den Abstand zum Orchester abschätzt, den Sonnenstand
oder die Wahrscheinlichkeit, in einen Freund hineinzurennen, dessen Namen sie vergessen hat.

Das zwölfjährige Mädchen:  schaue ich, zupft sie an ihren Shorts mal so und mal so.
Ihr Körper hat Mühe, Schritt zu halten mit der Vollendung ihrer Brauen und Lippen,
der Kühle, mit der ihre grauen Augen die Spielkarten betrachten, als wärs ein Orakel.

Die beiden Dicken neben mir teilen sich ein Hähnchen, und einer sagt zum andern:
„jetzt kommt’s,“ und meint damit die berühmte Kadenz im zweiten Satz des dritten
Klavierkonzerts. Der eine direkt neben mir summt mit, doch seine Frau zischt „Psst“.

Wir sind am Grunde dieses Ozeans, Fische schwimmen in anmutigen Formationen. Der eine hier hat tausend
Quecksilber-Finnen, und der andre da hat Augen am Schwanz
und schwimmt rückwärts. Und was ist mit dem Elefantenfisch, kaum zu sehen, ganz eingewickelt in seine Ohren, der
den Sandboden absaugt mit seinem feinen Rüssel?



Tanglewood

The couple in front of me has fallen asleep. The couple, as a singular:
yin and yang of the same soul. Their bodies move as they inhale, exhale in unison.
Do they dream each other? So that when only one is asleep, the other watches her
anxiously, for fear of disappearing? And when they are both awake, they eye each other
like strangers? The moment of truth arrives with the fall of a leaf, upsetting the man's
balance: "Honey," he says, looking over toward her, lifting his head.
With a sigh, she stirs, but sleeps on.

A lady in a pink flowing dress, motionless, like a still-life.
I see her from the back. The umbrella she holds is pink and ruffled,
like certain African violets that are in danger of being over-watered.
Her elbows are thin and leathery, like a horse whip.
Her stature is shrinking, as though to acquire the nimbleness of jockeys,
but that choice of career is out: the umbrella will be in the way.
Horses, I'm told, are quite sensitive to objects in their peripheral vision.
I cannot tell if she talks to a friend, or just gauges the distance to the orchestra, the angle
of the sun, or the likelihood of running into a friend
whose name she has forgotten.

The twelve-year old girl grows as I watch: she keeps pulling her shorts this way and that.
Her body must hurry to catch up with the perfection of her eyebrows and lips,
the coolness with which her grey eyes regard the play-cards, looking for an oracle.

The two fat men next to me share a chicken, and one says to the other,
"here it comes," referring to the famous cadence in the second movement of the third
piano concert. The one next to me starts humming along but is shushed by his wife.

We are at the bottom of this ocean, fish swim by in graceful formations. This one
has a thousand fins made of quicksilver, and this one has eyes on its tail
and swims backwards. And what about the elephant fish, almost invisible, all wrapped in
its ears, vacuuming the sandy floor with its delicate trunk?

(2002)

Aus www.albany.edu/offcourse/nov02/joachim_frank.html   (2002)

Joachim Frank, geboren 1940, ist ein in den USA lebender, deutsch-amerikanischer Naturwissenschaftler (Nobelpreis für Chemie 2017), Schriftsteller, Lyriker und Fotograf. Seine Kurzgeschichten und Gedichte erschienen bisher auf verschiedenen Internetplatt-formen, z.B. The New Poet, Offcourse, Raving Dove u.v.a.
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