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Jean Baudrillard: Die Ausweisung der Toten

Gedichte > Zeitzünder

Jean Baudrillard

Die Ausweisung der Toten

(in: Der symbolische Tausch und der Tod, 1976)

(Auszug)


Seitdem die Wilden nur die Mitglieder ihres Stammes als "Menschen" bezeichneten, ist die Definition des "Menschlichen" beträchtlich erweitert worden: es ist zu einem universellen Begriff geworden. Eben das nennt man Kultur. Heute sind alle Menschen Menschen. Diese Universalität begründet sich allein durch Tautologie und Verdoppelung: eben dadurch gewinnt das "Menschliche" die Kraft eines moralischen Gesetzes und eines Prinzips der Aussonderung. Denn das "Menschliche" ist von Anfang an Setzung seines strukturalen Doubles: Setzung des Unmenschlichen. Es selbst ist sogar nichts anderes, und die Fortschritte der Menschheit und der Kultur sind eine einzige Kette von aufeinander folgenden Diskriminierungen, welche die "Anderen" mit dem Charakter von Unmenschlichkeit, also Nichtigkeit, belegen. Für die Wilden, die sich "Menschen" nennen, sind die Anderen noch etwas anderes. Für uns, unter dem Zeichen des Menschlichen als universellem Begriff sind die Anderen dagegen nichts.

(...)

Der Rassismus ist modern. Die früheren Kulturen oder Rassen haben sich ignoriert oder vernichtet, aber niemals unter dem Zeichen einer universellen Vernunft. Es gab kein Kriterium für den Menschen und keine Ausgliederung des Unmenschlichen, sondern nur Unterschiede, die einander bis in den Tod hinein gegenüberstehen. Erst unser undifferenzierter Begriff des Menschen läßt die Diskriminierung entstehen.

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