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Jan Kuhlbrodt: Zeitstrahl

Gedichte > Zeitzünder



Jan Kuhlbrodt

Zeitstrahl                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                       



„Die Bedeutung der Einzelheiten ist umso größer, je mehr sich in einem Land die faktische Wirklichkeit von den Erscheinungen, die Tatsachen von den Worten, das Volk, das diese Tatsachen schafft, von den Intellektuellen, die sie interpretieren, unterscheiden.“
Antonio Gramsci. Gefängnishefte. Heft 14.(1932 – 35) unter dem Stichwort Rechtfertigung der Autobiografie


Amsterdam, ich habe kaum Erinnerungen an diese Stadt, die ich einmal besuchte, weil man mir sagte, dass man sie besuchen müsse. Viel lieber als nach Amsterdam wäre ich ein weiteres Mal nach Rotterdam gefahren, in die der Tabula Rasa des Weltkriegs entsprungenen Schönheit. Aufragte dort das alte Hotel Amerika, erinnernd die Auswanderungswellen: Deutsche, Polen, Schweizer, Österreicher auf dem Sprung nach Amerika alle. Und im Foyer ein riesiges Meeresfrüchtebuffet. Dieses Hotel hatte die Auslöschung der Stadt überlebt und ragte wie ein Notausgang in die Zeit.

Doch dieses eine Haus in Amsterdam gefiel mir. Die Radikalität seines Stils, das Offene.
Die Bauweise ließ es im Vergangenen fast verschwinden, weil die alten Häuser daneben auch Zeugen ihrer je eigenen Zeit waren. Grachten. Grachten. Nur die Farben, Komplementärfarben, die sich durch die großen Fenster ins offene Innere zurückzogen, so zurückzogen, dass man sie auf ihrem Rückzug wahrnehmen musste, die sich also nicht entzogen, im Rückzug ihre Anwesenheit bestätigten, Blau und Gelb, etwas Rot, hoben es mit der Zeit gegen die Nachbarn ab. Das Haus stach nicht hervor, sondern es gab sich als Gegenwart preis.

Wäre ich damals schon Vater gewesen, hätte ich diese alte Lederjacke nicht gekauft, nachdem das neue Haus meinen Blick wieder freigab und ich mich erinnerte, dass wir wegen des Flohmarktes in Amsterdam waren.

Aber wir befinden uns im Jahrhundert der Spekulation, das auf 10, 40, 80 Jahren Hoffnung folgt. Das Optimistische des Aufbruchs. Lederjacken waren mit Aufbrüchen verbunden, Lederjacken und Schiffermützen, oder Mützen mit kurzen Schirmen und Kordeln über dem Schirm als europäische Variante. Baskenmützen. Fast ikonisch. Und ich konnte mir andere Lederjacken nicht leisten, zumal ich mich im Schnitt an Thälmanns Arbeiterjacke orientierte und nicht an den Motorradjacken, wie sie die Punks trugen. Beschriftete Jacken, mit Lackfarbe beschriftet, Jacken, auf die man Spinnennetze gezeichnet hatte, Sprüche, Jacke von Arbeitern, die ihre proletarische Orientierung verdrängt, verloren, oder nie über eine verfügten. Befreiung war gegenstandslos geworden, und Ketten erwiesen sich als Schmuck. Wer keine tragen wollte, legte sie ab, oder verkaufte sie an einen der Flohmarkthändler.

Es beunruhigte mich eine Zeitlang, dass die Brüche in dieser Geschichte, der Geschichte überhaupt, sich nicht mit dem Zeitstrahl synchronisiert fanden. Der einzige Moment, in dem die Zählung mit ihrer Bedeutung korrelierte, war der Beginn, die Geburt, die die Geburt der Zählung war, die Geburt der Zählung nach Christus oder Unserer Zeit, wie es in meiner Schule hieß, die sich sozialistisch nannte, aber wahrscheinlich meinte man atheistisch damit. Meinte: Zählung und auch Episode.

Und wahrscheinlich überkam mich deshalb beim Anblick der Krippenfiguren, die eine deutsche Firma für den italienischen Markt produzierte, ein derart wohliger Schauer, dass ich rund 30 Euro in das Ensemble investierte. Drei Könige, ein Hirte, Vater, Mutter und das Kind in der Krippe, handbemalt, Weichplastik, Maria natürlich in Blau, und auf dem Weihrauchkästchen des einen der heiligen drei Könige saß ein Adler, ein goldener Adler mit ebenfalls blauen Augen. Der Vogel im Ganzen vielleicht einen halben Zentimeter groß, aber das Augenblau stechend.

Das vorläufig schneidendste Ereignis der Zählung unserer Zeit, also meiner, liegt einige Jahre hinter mir, oder hinter uns, oder jenem Teil der Menschheit, der diese Weise der Zählung teilt. Die Zäsur in der Zeit. Eine Zählung, ausgelöst von Flugzeugen, die in große amerikanische Bauten gelenkt oder von Passagieren zum Absturz gebracht wurden, bevor sie mit dem von ihrer ursprünglichen Route abweichenden Ziel kollidierten.

Ich besuchte an jenem Abend, das letzte Rockkonzert meines Lebens. Shellac in der Berliner Maria am Ostbahnhof. Ein gespenstisches Konzert. Die Bassläufe ins Leere. Kein Wort zwischen den einzelnen Songs. Tag eins oder noch Tag null. 11. September. Die Fahrt zurück, in der Nacht nach Leipzig. Autobahn, Brechreiz. Verwirrung. Und an die Krippe war nicht zu denken, zumindest ich dachte noch nicht an Krippen, nicht im September aber auch nicht in diesem Jahr.

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