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Ivor Joseph Dvorecky: Picknick in der Nacht

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Ivor Joseph Dvorecky


P i c k n i c k   i n   d e r   N a c h t



„Picknick in der Nacht“ versammelt die besten hierzulande noch nicht veröffentlichten Gedichte eines der führenden amerikanischen Dichter, aus über fünf Jahrzehnten, die der Hanser Verlag in Absprache mit dem Autor am geeignetsten für die deutschsprachigen Leser hält.



1.


Charles Simic möchte unseren Blick auf die Alltagswelt verändern, mit seiner Magie eine Lücke in der gewohnten Ordnung finden. Wie auch andere Künstler seit der Moderne macht er sich den Verlust von Gewissheiten zu eigen. In dem Moment, da die Sicherheit schwindet, erahnen wir eine Welt hinter den Dingen, der wir uns nicht entziehen können. Für Augenblicke öffnet die Ungewissheit einen Raum, in dem wir uns lebendig fühlen, da wir uns an nichts festhalten können: der geheime Mechanismus der Surrealisten.

Alles vom Verstand vollständig Begriffene verarmt die Seele, geht uns nicht mehr an, oder wie Robert Musil es ausdrückt: Wissen, rationale Ordnung, begrifflich definierte Gegenstände und Bezeichnungen […] solche Gedanken sind in gewissem Sinne tot; das ist die Kehrseite des Gefühls, dass sie unabhängig von uns gelten.
¹

Charles Simics Geschäft ist die Seele, das sagt er selbst, zuweilen bezweifelt er aber auch, dass es die Seele gibt, er bezweifelt sogar, dass es uns gibt (er bedient sich des Kunstgriffs, das zu bezweifeln).

Er ist drei Jahre alt, als Deutschland in das Königreich Jugoslawien eindringt, mit über zwanzig gehört er als M.P. zur amerikanischen Besatzungsarmee. Eine Vorbestimmtheit für die metaphysische Spannung zwischen Geist und Welt sieht Charles Simic in seiner Familien-geschichte angelegt. Die ordnungsliebende Mutter stammte aus der Tradition orthodoxen Priestertums, den respektlosen Familienanhang seines Vaters charakterisiert er als ein dadaistisches Kabarett. Das Ineinander von beschützender Familie und bedrohlicher Außenwelt hinterließ tiefe Spuren in ihm. Noch Jahre später erinnert Simic sich an die zitternde Erde unter dem vorbeimarschierenden Tod, und wie aus der Wehrmachtskolonne ein Soldatenstiefel einen kleinen weißen Hund tritt: Ein Tritt ließ ihn fliegen, als hätte er Flügel. / Das ist es, was ich immer sehe! / Die Nacht sinkt herab. Ein Hund mit Flügeln.

Hunde bevölkern Charles Simics Gedichte. Sie haben vier, auch drei oder sechs Beine, oder zwei im Smoking. Sie sind unsere stumme, animalische Seele. Ein Hund mit einer Seele, verstehst du das? Ihr Menschenaffen / mit dem Kopf eines Sokrates, falsche Priester, Ministranten, / emeritierte Professoren des Bösen!
² Vielleicht wurden Hunde deswegen nie im Titel eines Gedichtbandes ausgestellt, im Gegensatz zu Fliegen und Katzen und Gräsern und Steinen …

Geprägt von den Erfahrungen des Verlustes, verschmelzen bei Simic Kindheitstraumata mit der conditio humana des modernen Menschen. Eigentlich ist seine Poesie im Kern zeitlos und daher unpolitisch, doch die Bombardierungen in seiner Kindheit sowie das Gefühl des Absurden erlauben es Simics Texten, in einer unbestimmten Weise aktuell zu sein. Er ist außerdem Autor poetischer und politischer Essays; in Donald Trumps Amerika der Milliardäre, strotzender Waffenkonzerne und wachsender Armut glaubt der Dichter, sich in einem Irrenhaus zu befinden.


2.


Mit sechzehn Jahren landet Charles Simic, aus Paris kommend, in New York, wo er nach zehnjähriger Trennung seinem Vater wiederbegegnet, und die große glitzernde Stadt muss für ihn Augenblicke zauberhafter Fülle bereitgehalten haben. Seit einigen Jahren leben dort vier Dichter zusammen mit Malern des Abstrakten Expressionismus wie Pollock oder de Kooning Tür an Tür. In den Fünfzigerjahren hat New York die Avantgarde-Führerschaft vom Paris der Jahrhundertwende übernommen. Zuerst unbeachtet, las Kenneth Koch ein Initialgedicht von Frank O’Hara, und die Lichter gingen an:


Oh! Kängurus, Glitzerdinger, Schokoladendrinks!
Ihr seid wirklich großartig! Perlen,
Harmonikas, Gelatinebonbons, Aspirine! all
das Zeug, von dem sie immer geredet haben

stets macht es ein Gedicht zur Überraschung!
Diese Dinge sind jeden Tag mit uns
sogar an Brückenköpfen und Totenbahren. Sie haben
eine Bedeutung. Sie sind stark wie Felsen.


( Frank O’Hara, Today, 1950 )


John Ashbery, Kenneth Koch, Frank O’Hara und James Schuyler begründen die erste Generation der New York School of Poetry. Sie haben vom Action Painting gelernt, dass das Schreiben eine Aktivität darstellt, von der das Gedicht ein Überbleibsel ist, und sie übernehmen auch die von den Surrealisten stammenden Techniken sowie die romantische Überzeugung, der Geist des Dichters sei der wahre Gegenstand eines Gedichts.

Der spirituelle Atheismus der französischen Surrealisten, mit der radikalen Forderung nach ständiger Selbsterkenntnis, wandelt sich durch den Materialismus Amerikas in ungehemmte Konsumerfahrung, die auch Spiritualität inkludiert. Charles Simic besucht Lesungen, auch die von Frank O’Hara, und er mutmaßt später in seinem ersten Gedichtband:

Ich habe Funken stieben sehen
Wenn zwei Steine geschlagen werden.
So ist es vielleicht doch nicht dunkel darin;
Vielleicht scheint dort ein Mond
Von irgendwo her, wie hinter einem Berg –
Gerade Licht genug, um die seltsamen
Zeichen und Sternenkarten auszumachen
Im Innern an den Wänden.


( What the Grass Says, Stone, 1967 )


Die Überfülle Amerikas erlöst Charles Simic, der in Paris französische Dichter auswendig lernen musste, nicht von einem Mangel: Vielleicht ist dies das Europäische an Charles Simic, sein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber den Versprechungen einer Konsumwelt. Es ist der alte Mangel, dem alle Metaphysik entspringt und hinter dem sich in der einen oder anderen Gestalt das Leiden an der Vergänglichkeit verbirgt. Diese Bewegung in der Zeit vorwärts ist weltliche Magie, das Überschreiten der Kluft in die Vergangenheit jedoch Metaphysik. Wenn Charles Simic von sich sagt, Mein Thema ist die Seele, so sagt er damit auch, sein Thema sei die Zeit. Die Seele ein Heilmittel dagegen, zumindest was die Vergänglichkeit betrifft.

Gegenstände sind dabei Verbündete, besonders in der frühen Dichtung von Charles Simic. An ihnen bezeugt er die Aufhebung der gewohnten Ordnung, auch widerstehen sie der Zeit besser als der Mensch. Objekte, wie Schamanen bekannt, können nicht nur eine Verbindung zu ihrem einstigen Besitzer bewahren, in ihnen kann das Verlorene überdauern. Henning Mankell
³ berichtet in seinem ergreifenden Buch, dass die durch Aids Todgeweihten, wenn sie in ihren Memory Books etwas von sich hinterlassen sollen, häufig auf Dinge verweisen: auf ein frisch gestrichenes Zimmer, einen gestrickten Pullover … manchmal ein Foto – Dinge, die in Beziehung zu ihnen standen. Von einem Paar alter Schuhe, die den Buchdeckel des schlaflosblauen Gedichtbandes schmücken, spricht Charles Simic: Mein Bruder und meine Schwester, totgeboren, / Setzen ihre Existenz in euch fort, / Führen mein Leben zu ihrer unfassbaren Unschuld.

Der Dichter möchte, dass der Leser sein Zeuge ist. Er bedauert den verlorenen Augenblick, den niemand vernimmt und der ihn deswegen in das Nichts stürzt. Eine Ewigkeit / Um dieses schlichte Ereignis // Und nichts sonst; und nirgendwo / ein Bezugspunkt; / Und niemand sonst, / Soweit ich weiß, als Zeuge. Er möchte den Leser bei sich wissen.

Die Zeit teilt uns in viele Menschen. Oft, wenn Charles Simic in seinen Gedichten spricht, möchte er die Ganzheit wiederherstellen, und wir nehmen Zweifaches wahr, das spielende Kind und den alternden Dichter. Er möchte, dass sein junges Ich ihm zuhört. In diesem Augenblick ist die gewöhnliche Zeit ausgesetzt, die ursprüngliche Ganzheit ahnbar – aber das Kind kann ihn nicht hören, wie hinter einer Glaswand spielt es weiter im ewigen Jetzt der Kriegsjahre.

Drückte mich eines Tages in eine dunkle Ecke,
Fand einen Jungen dort,
Von Lehrern und Schulkameraden vergessen,
Mit hängenden Schultern,
Das Haar auf dem Kopf schon grau.
Freund sagte ich.

Während du hier stehst und auf die Wand starrst,
Erschossen sie einen Präsidenten,
Spazierte ein Bursche auf dem Mond,
Nahm Dolly, das Mädchen, das wir alle liebten,
Zu viele Schlaftabletten und starb
In einem Hotelzimmer in Santa Monica.


Die unablässige Sorge um Erinnerungen lässt den Engel der Schlaflosigkeit aufmerken, der, wie jeder weiß, in Gestalt einer schwarzen Katze umhergeht. Zeitlebens begleitet er Charles Simic. So wie er ihn tagsüber zum Träumen hinter die Dinge anhält, macht er ihn nachts hellsichtig: Gib mir eine lange dunkle Nacht ohne Schlaf, / Dann besuche ich jeden Ort, an dem ich je gelebt habe […] / Eine schwarze Katze schlüpft aus den Schatten / Und reibt sich an meinem Bein, / damit ich weiß, sie wird heute Nacht mein Führer sein.


3.
                              


Obwohl Charles Simics Dichtung seinem umfangreichen Lesen philosophischer Werke viel verdankt, kann die Antwort des Dichters niemals philosophisch sein. Der Dichter misstraut den Tröstungen der Philosophie wie einer Bühnenhure. Er fordert etwas, das so wirklich ist wie die Seele.

Liebe Philosophen, wenn ich denke, werde ich traurig.
Geht es euch auch so?
Immer wenn ich versuche, in das noumenon einzudringen,
Kommt eine alte Freundin und stört mich.
»Sie ist nicht einmal am Leben!«, schreie ich zum Himmel.


Die Antwort eines Dichters, und eines Surrealisten, kann nur Erfahrung sein, was bedeutet, dass Frage und Antwort Doppelagenten sind. Oft ist das Hinterfragen schon eine Antwort und die Antwort geoffenbarte Fragwürdigkeit. Trotzdem webt Charles Simic seinen Gedichtbänden von Anfang an auch Strophen ein, die man eher für eine Antwort nehmen würde oder ein Ausruhen, was dem nicht widerspricht. Es sind Stellen von rein sinnlicher Präsenz, die an östliche Lyrik, an William Carlos Williams und Imagisten wie George Oppen erinnern, dem Simic ein Gedicht widmet. Gleich zu Beginn eine pastorale Schnecke, dann Vögel und Sonnenuntergänge, ein Frosch, vielleicht der von Bashō, dann das obligate Glas Wein, die kleinen Freuden des Alltags. Und immer wieder, der Leser sei an die Kindheit erinnert, die Brüste einer Geliebten. Oder sind es mehrere? Sie bleibt auffallend unscharf; der Dichter scheut sich, Umstände zu denunzieren.

Was aber in der Philosophie mit ihrem beweglichen Gedankenspiel wenig problematisch ist, birgt für das poetische Erleben die Gefahr einer Ermüdung. Charles Simic nimmt beunruhigt wahr, wie seine Gedichte sich gleichen. Er stellt einen Vergleich zu Wallace Stevens an. Allein, Stevens glaubt nicht an die Seele, nur an die Imagination. In ihrem entpersönlichten Spiel von Subjekt und Objekt, die beide oft nur durch einen Klang der Wörter in Beziehung gehalten werden, entsteht der Sinn erst im Gedicht, und das verleiht ihm eine jeweils frische Materialität. Wenn hingegen Charles Simic von einem Hund spricht, dem weißen Nichts oder dem Gekreuzigten an der Straßenecke, der Leser weiß, er meint etwas hinter den Kulissen, und er weiß auch, dieses Rätsel hat keine Antwort. Naturgemäß begünstigt ein Auswahlband diesen Eindruck noch, besonders wenn der Autor aus Sorge vor dem deutschen Leser einen schrägen Blick auf das Bizarre des amerikanischen Alltags eher vermeidet.

Dabei ist es gerade das Zusammentreffen der europäischen Tradition metaphysischen Zweifels mit Erscheinungen des amerikanischen Alltags, worin der typische Simic-Sound erklingt. Wiebke Meiers gelungene Übertragung bleibt nahe am Text und bewahrt die Stimme des Autors soweit möglich, und es ist erfreulich, dass die Gedichte im Unterschied zu anderen Ausgaben zweisprachig vorliegen. Ausgerüstet mit der Übersetzung, kann der Leser sich an einen Vergleich machen. Gewiss, das Englische bleibt griffiger und stofflicher, es genießt die Vorzüge einer idiomatischen Ausdruckweise, wie sie ansonsten Umgangssprachen aufweisen. Doch im Gegensatz zu vielen Dichtern erzählt Charles Simic Geschichten, und er fordert von sich eine Sprache, die selbst ein Hund verstehen kann. Es sind die kleinen heimatlosen Hunde an den Straßenecken, für die er den Blues „spielt“. Und ähnlich wie sich John Ashbery gegen die Gefahr von Sentimentalität mit Sprüngen und Ironie wehrt, entgeht Charles Simic ihr durch plötzliche Drehungen und einen abgründigen Humor – Simic ist eher humorvoll als ironisch –, der oft mit geradezu körperlichen Gewalttätigkeiten einhergeht.

Die Melancholie und Einsamkeit eines Giorgio de Chirico scheint in Charles Simics Gedichten durch, wie sie es auch in Edward Hoppers Bildern tut. Mit lakonischer Stimme offenbart Simic das Zusammengewürfelte, ein heimatloses Amerika, und darin die metaphysische Heimatlosig-keit des modernen Menschen überhaupt.

Ein nächtliches Klavier sucht nach Noten voll Wehmut
Im leeren Ballsaal am Ende des Flurs,
Wir sind in die Spalten zwischen den Noten gefallen.
Und dennoch willst du mehr von mir hören?
Die Zeit ist stehengeblieben. Dein Schatten
An der Wand, der dem Galgen gleicht,
Mit Kopf und Hals, hat sich nicht gerührt.



4.                                 


In seiner Studie The Banquet Years analysiert Roger Shattuck, dass die moderne Kunst vier Merkmale aufweise: den Kindheitskult, einen ans Absurde grenzenden Humor, Mehrdeutigkeit und die Kultivierung von Träumen. Daraufhin stellt er genüsslich fest, dass sich alle vier unter einen Begriff subsumieren lassen, den des Kindheitskults.

Der Geist der Kindheit ähnelt dem magischen Denken archaischer Kulturen, jenem un-differenzierten Bewusstsein von der Welt, etwa wie vor einem Essen vom Baum der Erkenntnis. Eine ganzheitliche Welt ohne trennende Grenzen zwischen Innen und Außen, wie sie dauerhaft nur von erleuchteten Heiligen, Ausnahmemenschen wie Henri Rousseau oder Insassen von Anstalten bewohnt werden kann, doch eine Sehnsucht danach bleibt in uns allen.

Die Surrealisten trachteten danach, die Grenze von Innen und Außen niederzureißen, und auch wenn Charles Simic kein Surrealist ist, bedient er sich ausgiebig ihrer Methoden:

Wenn es so kalt und windig wird,
Muss diese alte Welt gestützt werden.
Die geschickt gemalten Kulissen,
Oh, sie wackeln gewaltig!
Sie sind dabei einzustürzen.


Dann wird da nichts als der unendliche Raum sein.


Plötzlich schreit ein Mann auf und geht weiter, als wäre nichts geschehen, ein anderer mit dunkler Brille entlässt Kätzchen aus den Manteltaschen, und jemand flüstert mit vertrauter Stimme, Hast du zufällig eine unsterbliche Seele? / Hast du den leisen Verdacht, dass du keine hast? Die Perspektive hat sich gedreht. Identitäten erweisen sich als unverlässlich, Objekte erlangen ihr eigenes Leben. Wer ist wer (oder was) und was ist was (oder wer)? Selbst Charon, der Fährmann, weiß nicht mehr, wo welche Seite ist.

Der Leser findet sich in dämmrig erleuchteten Korridoren mit toten Glühbirnen und roten Exit-Schildern
er gerät in das Zeitalter der Meister der Levitation, wird bombardiert, schwarze Katzen kreuzen seine Wege, strenge Hunde dienen als Platzanweiser, und der Metzger spielt Akkordeon, während seine kleinen bösen Messer zum Eintreten einladen.

Wie die Sache ausgeht, steht nicht mehr im Gedicht, das hängt von jedem Leser selber ab. In Charles Simics Träumen wird das Herz des Lesers gewogen. Denn mitnichten ist diese Welt gutartig, an der Ordnung zu rütteln, ist nie ohne Gefahren. Durch die aufgehobene Ordnung gerät die Welt außer Kontrolle, die von der Ratio gebändigten Kräfte verselbständigen sich, die Welt wird unberechenbar, unverständlich (was wir wollten), sie kippt in Unmenschliches. Der kopflose Automatismus der Surrealisten offenbart das Grauen einer uns fremden Natur.

Wird sein Herz leichter als eine Feder, erkennt der Leser die bewegende Kraft hinter Charles Simics Poesie, eine unbändige Liebe zur Schöpfung. Wie jeder Hund mit Seele, der einer Totalität nicht aufsitzt, steckt Simic in einer Aporie: Er möchte die Dinge vor der Zeit bewahren – und er liebt das Wunder des Immer-Neuen, das nur sie hervorbringen kann. Vielleicht ist es das amerikanische an Charles Simic, dieses tiefsitzende Misstrauen in die Versprechungen der Metaphysik. Stets bewahrt er sich ein kindliches Staunen, die Lust am Ungewissen.

Wo es keine Ordnung gibt, da gibt es auch keinen Gott. Oder er ist Schöpfer und Schwindler, vielleicht das Nichts, er spielt sein Spielchen (Solitaire) mit uns, er ist der – Meister der Verkleidungen. ER kann alles sein: Der Bettler an der Ecke mit geschwollenen Füßen, ein Bodybuilder, Gemmenschneider, kleiner weißer Hund oder Fliege mit türkisschimmernden Flügeln. Charles Simic glaubt an Gott, an diesen Gott, der nicht weltflüchtig ist. Paradies und Hölle sind hier und jetzt.



Völlig benommen, überwältigt und unendlich glücklich fühlte Charles Simic sich beim Anblick der Versuchungen des heiligen Antonius im Museu Nacional de Arte Antiga in Lissabon, für sich denkend: Es kann keine andere Welt geben als diese
. Eine Art Erheiterung kam über ihn, je mehr er das Bild studierte: Es gibt keine Entzückung gleich jener, wie sie ein wahrhaft frevlerisches Bild am Rande der Blasphemie verschafft. Wo das Böse ist, sieht Simic den Maler Bosch wieder und wieder beteuern, da gibt es auch die Unschuld. Und in der Mitte des Altarbildes entdeckt Charles Simic – unglaublich – Jesus Christus, betend zu sich selbst am Kreuz.

¹ Robert Musil, Geist und Erfahrung, 1921
²
Charles Simic, The World Doesn’t End, 1989
³
 
Henning Mankell, Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt, August 2004
Charles Simic, That Little Something, 2008
⁵  
Charles Simic, The World Doesn’t End, 1989
Charles Simic, Tin House Magazine, Winter 2000


Charles Simic: Picknick in der Nacht. Gedichte 1962 bis 2015. Englisch / deutsch. Übertragen von Wiebke Meier. München (Carl Hanser Verlag) 2016. 280 Seiten. 22,90 Euro.


Seit mehr als einem Vierteljahrhundert veröffentlicht der Hanser Verlag Werke von Charles Simic, zuletzt: Mein lautloses Gefolge (2006), davor Grübelei im Rinnstein (2000), Die Wahrnehmung des Dichters (2007) und nun Picknick in der Nacht (2016).

Charles Simic gilt als einer der führenden Dichter Amerikas. 1990 wurde ihm für den Gedichtband The World Doesn’t End der Pulitzer‐Preis verliehen, nachdem er bereits zweimal Finalist gewesen war; er erhielt außerdem die Frost Medal und wurde 2007 der fünfzehnte Poet Laureate, the nation's official poet.

Jahrelang war Charles Simic Professor für Amerikanische Literatur und kreatives Schreiben in New Hampshire. Er ist äußerst produktiv, neben Gedichtbänden stammen von ihm auch Übersetzungen aus dem Französischen und aus südslawischen Sprachen, eine Autobiographie und mit Medici Groschengrab die einzige Abhandlung über den amerikanischen Assemblage‐Künstler Joseph Cornell in deutscher Sprache.

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