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Ilma Rakusa: Listen, Litaneien, Loops

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Kristian Kühn

Betroffen oder „Die Zeile schläft – der Jambus wälzt sich hoch.“


In der WELT finde ich heute (19.08.2016) den Subtext: „Die Unionsinnenminister stellen ihre „Berliner Erklärung“ vor. Ein Maßnahmenkatalog, der ein Teilverbot von Burka und Niqab vorsieht – und eine Liste, wo genau Verschleierung untersagt werden soll.“


Wir sind beim Thema. Auf den politischen Diskurs will ich nicht eingehen. Sondern auf eine Rede, die Ilma Rakusa im März im Münchner Lyrik Kabinett über „Listen, Litaneien, Loops – zwischen poetischer Anrufung und Inventur“ gehalten hat und die, wie die ganze Reihe Münchner Reden zur Poesie, von der Stiftung Lyrik Kabinett herausgegeben und in gebundener Form angeboten wird.

Listen haben etwas Politisches, sind Versuch der Entschleierung, sie zeichnen ein Gefüge von Richtlinien, konstruieren eine Wirklichkeit, auch und obwohl, wenn der Text – wie manch postmoderne Listenlyrik – ein Bewusstseinsgerüst als frag-würdig zu dekonstruieren wünscht.

Den Vortrag habe ich leider nicht gehört. Deshalb ist mir die „Magie der Stimme“ nicht gegenwärtig, das Ritual ihrer Invokation. Das Durchlässige ihrer Botschaft.

„Die Übersetzung der Sprache der Dinge in die des Menschen ist nicht nur Übersetzung des Stummen in das Lauthafte, sie ist die Übersetzung des Namenlosen in den Namen.“


So Walter Benjamin in seinem Essay Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. Ich kann das Lauthafte der Rede also nicht nachvollziehen, das Durchlässige ihrer Botschaft nur aus dem geschriebenen Zusammenhang herauslesen. Und da macht Rakusa auf mich, um es selber auch vorsichtig auszudrücken, den Eindruck von Vorsicht und Latenz. Sie argumentiert versteckt.

Mit dem Märchenhaften, der Aufgeschlossenheit und Durchlässigkeit des Kindes, Märchen und Mythen zu empfinden, beginnt sie. Mit den Anfängen schriftlicher Aufzeichnung fährt sie fort. Nicht mit profanen Listen kretischer wie mykenischer Tempelbuchhalter auf tönernen Schrifttafeln, deren gebrannte Scherben vom großen Untergang und einer vorgriechischen Sprache (Linear B) künden, schon vorher – mit den ersten Aretalogien, die uns erhalten sind, etwa der Göttin Inanna aus dem Dreistromland, mit ihren Zuschreibungen von Beinamen, ihrer Vortrefflichkeit in Form einer Litanei:

Daß du hoch bist wie der himmel / dies ist dein name
Daß du weit bist wie die erde / dies ist dein name
Daß du über die aufständischen kommst / dies ist dein name
Daß du das land überrollst / dies ist dein name
usf.


Rakusa geht nicht auf die dann später erfolgte memphitische Isis-Propaganda ein, wo Isis eben auch die Inanna ist, die Eine, die sie Alles ist. Mit entsprechend langer Liste:


Ich Isis bin die Herrscherin über alles Land und bin erzogen von Hermes und habe mit Hermes zusammen die Schrift erfunden, die heilige wie die demotische: damit alles in der selben geschrieben wird. Ich habe den Menschen Gesetze gegeben und habe durch Gesetze festgelegt was keiner aufheben kann. [… usf.] Ich habe die Frauen gezwungen sich von den Männern lieben zu lassen. Ich habe das Gerechte mächtiger als Gold und Silber gemacht. Ich habe bestimmt, daß das Wahre für schön befunden wird. Ich habe die Eheverträge erfunden. [… usf.]*



Rakusa lässt das Ägyptische, das Hellenistische beiseite, folgt stattdessen mittelalterlichen Kirchengesängen. Sie sagt vorab über den Sog des Märchenhaften in ihrer Kindheit noch: „Das Neue verband sich mit schon Bekanntem, das weckte Interesse und beruhigte zugleich.

Das tut es aber nur wohl, wenn Gesetz und Härte, die Bildern, Namen und Beiwörtern eingeschrieben sind, beiseitegelassen und verdrängt werden – damit der Litanei ein kindlich himmlisches Gepräge aufzensiert wird, um Tradition genießbarer und auf unser Denken angepasster erscheinen zu lassen. Doch kann sich das alte Wissen mit dem Neuen kaum verbinden, indem man Konsequenz verwischt! Ist nicht, spätestens mit dem Aufscheinen der literarischen Moderne, die Grundlage dazu, nämlich der alte Vertrag mit der Sprache, gebrochen?

Es geht also um Tradition, oder anders, um die Frage, wie halten es heutige Autoren mit dem (so genannten) Logos, der die Sprache, die Namen, das Bewusstsein von Welt miteinander angeblich zusammenhält und stets von neuem generiert – oder gibt es ihn gar nicht, immerhin leitet sich davon unser Wort Logik ab? Und der Vertrag bleibt für alle Zeiten gebrochen? Eine Abwehrhaltung.

Rakusa schließt vom christlichen Mittelalter gleich auf zu einem litaneihaften Gedicht Paul Éluards, einem der großen Surrealisten (und diese stehen den Romantikern, etwa dem Novalis, in Logos-Fragen recht nah), und wechselt über zu seinem Gesang auf die Freiheit (im Kriegsjahr 1945) als „Inbegriff des höchsten Guts“. Damit entzieht sie sich geschickt der Frage, ob ein etwaiger Logos, sofern vorhanden und die Aisthesis dann bestimmend, den Menschen einengen würde (zwingen in eine kosmische Begrenzung und Ordnung/sichtbare Unordnung) – oder ob kraft der menschlichen Teilhabe an ihm auch eine Befreiung durch ihn/sie von der conditio humana denkbar sein könnte. Rakusa geht in ihrer Aneinanderreihung gleich weiter zu Chlebnikov und dessen Invokation einer Sternensprache. Also wahrscheinlich einer Privatmythologie, die nur jene betroffen macht, die sie erträumen, auf ihrer Suche.

Funktioniert ein Gedicht als Anrufung, wenn man etwas Diffuses, eine Anhaftung sucht? Oder sich selbst? Das Eigene? (Vgl. Hilde Domin: Wozu Lyrik heute), oder bleibt der Wunsch dann hängen im Irgendwo? Wenn man heute aufgrund von Aufklärung & Erziehung nicht mehr an eine im Kosmos eingeschriebene Ideenwelt glauben mag?

Wie kommt es, habe ich als Kind mich gewundert, dass bei allen Katzen das Fell exakt dort ein Loch hat, wo das Auge sitzt? Wittgenstein, der von einer Strukturidentität der Welt der Fakten und der Welt der Gedanken in seinen „Philosophischen Untersuchungen“ spricht, beantwortet diese Frage in seinem Satz 217:

„Wir können auch sagen: „Jedes Ding passt in sich selbst.“ – Oder anders: „Jedes Ding passt in seine eigene Form hinein.“ Man schaut dabei ein Ding an und stellt sich vor, dass dieser Raum dafür ausgespart war und es nun genau hineinpasst.“


Nur wenn diese Bedingung erfüllt ist, „vollzieht“ man „sinnvolle Gedanken über die Welt“. Wittgenstein umgeht also die Frage nach dem Logos, indem er von Strukturidentität spricht. Und Rakusa, beim springenden Punkt von Anrufbarkeit angelangt, oder – sagen wir neutraler – eben dieser Strukturidentität von Welt, von Symbol, Bild und Name, ohne dass sie es „besprechen“ würde, springt weiter zu Joseph Brodsky, dem russischen Nobelpreisträger, den George Steiner in seinem Essay „Von realer Gegenwart“ so schön als einen der letzten streitbaren Verfechter des Logos kennzeichnet, und widmet sich seinem Gedicht „Große Elegie an John Donne“ und zitiert:

„John Donne ist eingeschlafen. Alles schläft.“
(…)


Und nach der darauf folgenden Liste, was und wer alles mit ihm schläft, beim Schlafen als Schreiben, fährt Rakusa mit der Brodsky-Zeile fort:

„Die Zeile schläft – der Jambus wälzt sich hoch.“


Es gibt, zumindest für Brodsky, dieses sich verselbständigende energetische Feld, diese vorsprachliche Silbenmetrik, die aus dem Schlaf ins Bewusstsein drängt. Die Sprache spricht sich selbst, hätte Novalis gesagt. Und wir nehmen sie nur auf. Mit Gefühl und Verstand als Empfänger. Der eigene Apparat muss sie formulieren, das Gedicht in Form bringen, selber ist sie ein rhythmischer Knoten in uns, wie Mallarmé sich in seinem Vortrag an der Taylorian Institution von Oxford „Über die Berührung vom Vers“ 1894 ausdrückt:

„Denn jede Seele ist ein rhythmischer Knoten“.


Litaneien, in ihrem Gleichklang und ihrer Listenform, schläfern ein. Wenn der Verstand aufgegeben hat, die Liste für sinnvoll zu halten, setzen sie auf den Dämmerzustand vor der Schwelle, von dem auch John Cage in seinen rhythmisch durchkomponierten Vorträgen zur Stille, übersetzt von Ernst Jandl, spricht, etwa im „Vortrag über Nichts“:


„Ich habe nichts zu sagen / und ich sage es / und das ist / Poesie / wie ich sie brauche / Dieses Stück Zeit / ist gegliedert / Wir brauchen nicht diese / Stille zu fürchten. - / wir können sie lieben“


Und dann:

„Ursprünglich / waren wir nirgendwo / ; / und nun haben wir / wieder das Vergnügen / , / langsam / nirgendwo / zu sein. / Wenn jemand / schläfrig ist / soll er schlafen“


Rakusa kommt stattdessen im Zuge der Listenlyrik auch zu diesen Leerstellen und Bewusstseinspausen, allerdings – wie gesagt – sie bleibt dabei in der Latenz, aber auf Jandl kommt sie, zu seinem Gedicht „gemischter satz“ und darin einer „Inventur ex negativo“. Aufgelistet wird „die Vielfalt von nichts“ (Rakusa zitiert hier Ann Cotten: Nach der Welt. Die Listen der Konkreten Poesie und ihre Folgen).

Alles in dem Jandl-Gedicht Gelistete und Benannte sei non-existent, sagt sie, es handle sich also um eine „Liste [die] sich selber ad absurdum führt:


keine jahreszeit
kein jahr
keine zeit
(…)
kein licht
kein lärm
kein geräusch
kein ton
keine stille“


Nicht einmal Bewusstsein von Stille. Hiermit ist der Punkt der Dekonstruktion erreicht, den vielleicht auch Mark Rothko in seinen Bildern anstrebte. Was, wenn die Lücke im Bild so groß ist, dass alles in uns nicht mehr reagiert, sondern schweigt? Ist das dann der buddhistische Zustand von Leere? Kommt dann etwa die Morgenröte eines Jakob Böhme? Oder folgt ein Filmriss, ein Nichts? Oder noch eine Textur, eine andere? Reset. Loop?

Anders gefragt, warum wirkt eine durcheinander gewürfelte Reihung in den labyrinthischen Archiven eines Jorge Luis Borges archaisch? (Rakusa bringt als Beispiel Nora Gomringers Listengedicht „Arche/Telos“, also eine Rettung aus der Vorzeit). Folgt eine solch fragmentarische (inkludierende wie zugleich exkludierende) Liste archetypischen Gesetzen, vielleicht denen des Tiefschlafs? Zeugt sie im Abtauchen des Bewusstseins vom Vergessen alter/neuer Welten? Aber auch anders: Kann eine profane Liste, etwa eine Einkaufsliste oder die Textur eines Haftbefehls, Poesie sein? Ich denke schon. Es hängt vom sich aufdrängenden Bild ab. Ilma Rakusa folgt dieser Fährte, jedoch auf ihre Weise – und führt sie nicht zu Ende, spricht sie nicht aus.

Aber doch, ich goutiere diese Rede, weil – wie leise sie auch Zusammenhänge zu einem Narrativ aneinanderreiht – sie doch zur Diskussion anregt, zumindest über die Funktion von Lücken und Leerstellen im Kontext der Teilhabe durch Poesie.


*
Werner Peek: Der Isishymnus von Andros und verwandte Texte. Berlin, 1930.

Ilma Rakusa: Listen, Litaneien, Loops - zwischen poetischer Anrufung und Inventur. München (Stiftung Lyrik Kabinett) 2016. 37 Seiten. 12,00 Euro.

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