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Hesiod: Theogonie

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Dirk Uwe Hansen

In der Maske des Scharlatans



Hesiod stand und steht noch immer im Schatten Homers. Er wird dabei zum Opfer eines Gedankenganges, der – grob vereinfacht – etwa so abläuft: Weil Homer der einflussreichere und der „bessere“ Dichter ist, kann in den Fällen, in denen Hesiod und Homer Übereinstimmendes sagen, natürlich nur Homer der Gebende, Hesiod der Nehmende sein. Daher gilt es als erwiesen, dass Homer der ältere, ja der ursprüngliche Dichter ist, der dann mit elegantem Zirkelschluss wieder zum besseren verklärt werden kann. Diese Einschätzung hat sich hartnäckig erhalten, auch wenn natürlich immer wieder Stimmen laut geworden sind (etwa die von Martin L. West), die mit guten Gründen für die Priorität Hesiods eintreten.

In den Chor dieser Stimmen reiht sich nun auch Raoul Schrott ein mit seinem Essay „Der Ursprung der Musen bei Hesiod und Homer. Ein Beispiel des Kulturtransfers von Ost nach West“, der den größeren Teil des zu besprechenden Buches ausmacht und damit weit über die im Titel angekündigten Erläuterungen hinausgeht. Denn Schrott unternimmt es zugleich, ein neues Bild von der Rolle, die Hesiod als ältester europäischen Dichters bei der Entstehung der Poesie spielt, zu zeichnen. Dieses Bild ist ein spannendes, bisweilen kühnes und es gefällt mir sehr: Nicht als originalgeniehaften Erfinder der Poesie stellt Schrott Hesiod an den Anfang der europäischen Literatur, sondern als ersten uns fassbaren Agenten in einem orientalisch-griechischen Kulturaustausch; nicht der griechische Helikon, so seine These, ist der eigentliche Ursprungsort der Musen, es ist der Norden Syriens, von wo aus der Kult der Götterdyade Hepat -Musuni nach Griechenland übernommen wurde. Die Musen, wie wir sie kennen, erblickten das Licht der Welt in dem sich daran anschließenden Assimilationsprozess.

Dichtung wird so zum Nebenprodukt einer kulturellen Verschmelzung orientalischer und griechischer Vorstellungen. Dieses Bild könnte, wenn es sich beweisen ließe, viele der Probleme, die der Text der hesiodeischen Theogonie bietet, lösen. Ja, die wissenschaftliche Diskussion, die er unter  Gräzisten, Orientalisten, Archäologen, Historikern und Sprachwissenschaftlern auslösen könnte und sollte, verspricht reichen Erkenntnisgewinn.

Doch genau hier liegt das Problem. Denn an dieser Diskussion scheint Schrott überhaupt nicht gelegen zu sein. Statt eine Diskussion anzuregen, versucht er, alle Fragen allein und abschließend zu klären – oder sich wenigstens den Anschein zu geben, alle Fragen abschließend geklärt zu haben; dafür allerdings muss er in die Maske des Scharlatans schlüpfen und das, was ein hervorragender und anregender Essay hätte sein können, mit allerlei fadenscheinigen Halbgelehrsamkeiten bemänteln. Die sind dann bisweilen schlicht falsch, manchmal überflüssig und nicht selten ärgerlich.
Nicht nur finden wir etwa den Dichter Pindar etwa 50 Jahre nach seinem Tod als „in Athen studierend“ und in den Fußnoten mal „Pi.“, mal „Pind.“ abgekürzt. Korinnas Gedicht über den Wettstreit zwischen Helikon und Kithairon wird als „PMHG (sic!) 654“ nachgewiesen – dass sich hinter dem Kürzel die Ausgabe der „Poetae Melici Graeci“ von Denys Page verbirgt, wird weder durch ein Abkürzungsverzeichnis deutlich, denn ein solches fehlt, noch durch die Bibliographie. In der findet sich dann auch noch der Archäologe Paul Zanker als „G. Zanker“...
Man mag das alles für lässliche Versehen halten, doch steckt, denke ich, mehr dahinter. Die häufig für Leser, die weder Altphilologie noch Altorientalistik studiert haben, schwer aufzulösenden Abkürzungen, sowie Zitatnachweise in Form von Autorennamen ohne Seitenzahl (etwa: „Der kleine Pauly“) sehe ich als Zeichen dafür, dass Schrott nicht daran interessiert ist, seine Aussagen überprüfbar zu präsentieren. Es scheint ihm zu genügen, wenn man ihm glaubt. Dabei wäre sicher einiges noch zu überdenken: die „denkbar einfache“ Etymologie
¹ von Mousa, die Schrott vorschlägt, wobei er aber die Dialektform Moisa unterschlägt, oder auch sein Umgang mit den „falschen“ Etymologien Hesiods, die in der neueren Forschung längst als poetische Etymologien zu ihrem eigenen Recht gekommen sind. Schrott geriert sich, kurz gesagt, wie der von ihm so geschmähte „Schreibstubengelehrte, der meint, alles nötige Wissen in Griffweite zu haben“ – und das ist umso ärgerlicher, da zum einen die hier behandelte Frage eine wichtige und für alle literarisch Interessierten brisante ist, zum anderen aber auch eine, für deren Beantwortung kaum ein Einzelner alle notwendigen Kenntnisse zur Hand haben kann,² da Schrott also, statt eine brisante Diskussion anzustoßen, als alleinseligmachender Erkenntnisbringer auftritt und statt sich die Hilfe von Fachleuten in den Fragen, für die seine eigene Kompetenz nicht ausreicht, zu sichern, eben diese hilfsbereiten Fachleute durch schäbige Behandlung – wie in Fußnote 1 auf Seite 68 – vor den Kopf stößt.
Die Übersetzung der hesiodeischen Theogonie, die den Band eröffnet, gibt sich dagegen erfreulich schlicht und folgt dem griechischen Text dicht – die abrupten Registerwechsel, die sich in Schrotts Übersetzung der Ilias finden lassen, fehlen hier fast vollständig. Für den deutschen Text wählt der Übersetzer, wohl in Anlehnung an das Griechische, dabei die durchgehende Kleinschreibung (außer für Eigennamen und am Satzanfang) und verzichtet auf Satzzeichen außer Punkt und Gedankenstrich. Dafür führt er, wieder angelehnt an die griechische Konvention, einen Hochpunkt ein, der allerdings hauptsächlich verwendet wird, um die Elemente der vielen Aufzählungen voneinander abzugrenzen. Bisweilen führt eine etwas gespreizte Wortstellung zu Unklarheiten, etwa, wenn in v. 13 der Eindruck entsteht, Hera, nicht Athene, sei als „Tochter des Zeus“ gemeint, oder in v. 336: „Dies also ist das geschlecht dem Keto und Phorkys entstammen“: Dass „entstammen“ hier als Partizip auf Geschlecht bezogen werden muss und „dem“ der Artikel und nicht das Relativpronomen ist, erschließt sich dem Leser nur aus dem Kontext; das Griechische ist da deutlicher: τοῦτο μὲν ἐκ Κητοῦς καὶ Φόρκυνος γένος ἐστί („Dies ist das aus Keto und Phorkys stammende Geschlecht“).
Doch das sind natürlich nur Kleinigkeiten. Eine moderne Übersetzung, die dem so oft zu wenig beachteten Hesiod zu größerer Aufmerksamkeit verhilft, ist immer zu begrüßen.
Es bleibt also ein zwiespältiges Bild: Schrotts Buch kann mit Gewinn gelesen, seine Thesen sollten unbedingt zur Kenntnis genommen und diskutiert werden; wer dies allerdings unternehmen will, muss über das aufgeplusterte Posieren des Autors hinwegsehen. So kann ich ihm nur großmütige Leser wünschen.


¹ Der Verfasser des Griechischen Etymologischen Lexikons heißt, nebenbei erwähnt, nicht Frick – wie bei Schrott – sondern Frisk.
² Hier ergreife ich die Gelegenheit, meinem Kollegen Immanuel Musäus für Rat und Hilfe herzlich zu danken.


Hesiod: Theogonie. Übersetzt und erläutert von Raoul Schrott, München (Hanser) 2014. 224 Seiten. 19,90 Euro.

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