Herman Melville: Bartleby
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Herman Melville
Bartleby
Ich bin, ich
muß es gestehn, nicht mehr der Jüngste. Die Art meiner Berufsgeschäfte hat mich
seit nunmehr dreißig Jahren in ungewöhnlich enge Berührung mit einer in mancher
Hinsicht merkwürdigen, man kann wohl sagen sonderbaren Sorte von Menschen
gebracht, über die meines Wissens noch nie etwas geschrieben worden ist – ich
meine die Anwaltsschreiber, die Kopisten in den Kanzleien der Advokaten. Ich
habe ihrer eine ganze Menge gekannt, beruflich sowohl wie privat, und könnte,
wenn ich wollte, allerlei Historien zum besten geben, zur Erheiterung wackerer
Männer, zur tränenseligen Rührung empfindsamer Seelen. Doch will ich aller
anderen Kanzleischreiber Lebensgeschichte beiseitelassen und nur einiges aus
Bartlebys Leben erzählen, Bartlebys, der ein Schreiber war und zwar der
seltsamste, den ich je gesehen, von dem ich je gehört habe. Während ich von
anderen Anwaltskopisten den gesamten Lebenslauf niederschreiben könnte, ist bei
Bartleby dergleichen nicht möglich. Es existieren wohl überhaupt keine
Unterlagen für eine ausführliche, befriedigende Biographie des Mannes: ein
unersetzlicher Verlust für die Literatur. Bartleby gehörte zu den Menschen, über
die sich nichts ermitteln läßt, es sei denn an den Quellen selbst, und die
flossen in seinem Fall nur äußerst spärlich. Was ich mit eigenen erstaunten
Augen von Bartleby gesehen habe, das stellt meine gesamte Kenntnis von ihm dar
– abgesehen allerdings von einem ziemlich unbestimmten Bericht, der später hier
wiedergegeben werden wird.
Bevor ich
unseren Schreiber aber einführe, so wie er mir zuerst vor Augen trat, empfiehlt
es sich wohl, daß ich erst kurz von mir selber spreche, meinen Angestellten,
meinem Büro und allem Drum und Dran – denn eine gewisse Aufklärung darüber ist
unentbehrlich für ein richtiges Verständnis der nachher vorzustellenden
Hauptperson. Zuvörderst: ich bin ein Mensch, der von Jugend
an tief davon überzeugt war, daß man mit einer gemächlichen, sachten
Lebensweise am besten fährt. Mag ich also einem Beruf angehören, dem landläufig
ein zupackendes, hastiges, ja zuzeiten aufgeregtes Wesen nachgesagt wird, so
habe ich doch nie geduldet, daß dergleichen Regungen meinen Frieden störten. Ich
zähle zu den Anwälten ohne Ehrgeiz: man wird mich nie vor Gericht plaidieren
oder irgendwie auf den Beifall der großen Menge ausgehen sehen, sondern in der
kühlen Stille einer behaglichen Klause beschäftige ich mich behaglich mit den
Wertpapieren, Hypotheken und Rechtsansprüchen reicher Leute. Unter meinen
Bekannten gelte ich ganz allgemein als ein in hohem Maße zuverlässiger Mensch.
Der verstorbene John Jacob Astor, eine poetischem Überschwang wenig geneigte
Persönlichkeit, trug kein Bedenken, als meine erste hervorstechende
Wesenseigentümlichkeit die Vorsicht zu bezeichnen; die zweite sei das planvolle
Denken. Nicht um mich dessen zu berühmen, sondern als einfache Tatsache
berichte ich bei dieser Gelegenheit, daß ich nicht ohne berufliche Beziehungen zu
dem verewigten John Jacob Astor gewesen bin. Seinen Namen, ich gestehe es,
wiederhole ich gern; er hat einen runden, sphärenhaften Klang, wie Klirren von
Goldbarren. Hinzufügen möchte ich, daß ich für die gute Meinung des seligen
John Jacob Astor nicht unempfänglich war.
Schon eine
Weile vor dem Zeitpunkt, an dem meine kleine Geschichte beginnt, hatten meine
Berufsgeschäfte einen erheblich größeren Umfang angenommen. Das gute alte, im
Staat New York inzwischen abgeschaffte Amt eines Beisitzers im Kanzleigericht
war mir übertragen worden. Es war nicht mit allzu großen Mühen verbunden, warf
aber einen recht angenehmen Ertrag ab. Ich lasse mich nur selten aus der Ruhe
bringen und gestatte mir noch seltener eine unbekömmliche Entrüstung über
Unrecht und Kränkung; indes in diesem Fall muß ich um Nachsicht für ein
erregtes Wort bitten und rundheraus erklären, daß die in der neuen Verfassung
verfügte plötzliche und brüske Abschaffung des Amtes eines Beisitzers beim
Kanzleigericht in meinen Augen eine – sagen wir eine überstürzte Maßregel
darstellt, schon deshalb, weil ich auf einen lebenslänglichen Genuß der
Einkünfte gerechnet hatte, während ich sie nun lediglich für ein paar kurze
Jahre bezogen habe. Aber dies nebenbei.
Meine
Kanzlei befand sich im Oberstock des Hauses Wall Street Nro –. Auf der einen
Seite schaute man auf die weiße Wand eines geräumigen Lichtschachts, der das
Gebäude von oben nach unten durchzog. Die Aussicht mochte einen vergleichsweise
unfrohen Eindruck machen; da ihr ganz fehlte, was in der Sprache
der Landschaftsmaler »Leben« heißt. In dieser Hinsicht bot die Aussicht auf der
anderen Seite meiner Kanzlei zum mindesten einen Gegensatz, wenn auch keinen
Ausgleich. Die in diese Richtung weisenden Fenster gewährten die unbehinderte
Aussicht auf eine hohe, von Alter und dauerndem Schatten schwarz gewordene
Ziegelmauer; es bedurfte keines Spiegelscherbens, sogenannten Spions, die
verborgenen Schönheiten dieses Gemäuers ans Licht zu bringen, denn zum Wohle
aller kurzsichtigen Beschauer ragte die Mauer keine zehn Fuß vor meinen
Fensterscheiben empor. Bei der großen Höhe der umliegenden Gebäude und dank dem
Umstand, daß sich meine Kanzlei im zweiten Stock befand, gemahnte der
Zwischenraum zwischen der Ziegelmauer und unserer Hauswand nicht wenig an einen
ungeheuren viereckigen Wasserschacht.
In der Zeit
unmittelbar vor Bartlebys Auftreten hatte ich in meiner Kanzlei zwei Kopisten
und einen vielversprechenden Jüngling als Bürolehrling. Nummer eins: Turkey –
»Puter«; Nummer zwei: Nippers – »Beißzange«; Nummer drei: Ginger Nut –
»Pfeffernuß«. Das sind gewiß Namen, derengleichen man im allgemeinen nicht im
Adreßbuch findet. Es handelte sich denn auch um Spitznamen, die sich meine drei
Angestellten gegenseitig beigelegt hatten, da sich in ihnen die jeweiligen Persönlichkeiten
und Wesenseigentümlichkeiten aufs treffendste ausdrückten. Puter war ein
untersetzter, asthmatischer Engländer in meinem Alter – das heißt also hart an
sechzig. Des Morgens zeigte sein Gesicht, wie man wohl behaupten darf, eine
schöne blühende Farbe; nach zwölf Uhr Mittags aber – seiner Essensstunde –
flammte es wie ein Kohlenrost zur Weihnachtszeit und zwar – wenn auch
vielleicht mit einem allmählichen Abnehmen der Glut – weiter bis sechs Uhr
nachmittags. Nach sechs sah ich nichts mehr vom Eigentümer des Gesichtes, das
mit der Sonne seinen Zenit erklomm und mit ihr offenbar unterging, am nächsten
Tag aufstieg, kulminierte und abermals unterging, in sonnengleicher
Regelmäßigkeit und unverminderter Glorie. Ich habe im Laufe meines Lebens allerlei
merkwürdige Zufälligkeiten erlebt, und es war gewiß nicht die geringste
darunter, daß immer in dem Augenblick, wenn Puter aus seinem roten, leuchtenden
Gesicht den vollsten Strahlenglanz entsandte, daß immer in diesem kritischen
Moment der Tagesabschnitt begann, da ich mir sagen mußte, daß nun für den Rest
der vierundzwanzig Stunden seine Arbeitsfähigkeit wieder auf das empfindlichste
gestört sein würde. Nicht als ob er in Untätigkeit versunken wäre oder sich
arbeitsunwillig gezeigt hätte – keineswegs. Die
Schwierigkeit bestand vielmehr darin: er neigte nun zu einem allzu großen
Energieaufwand. Eine seltsame, erhitzte, verworrene und ziellose Betriebsamkeit
überkam ihn. Ohne alle Vorsicht tauchte er seine Feder ins Tintenfaß. Seine
sämtlichen Tintenkleckse auf meinen Schriftlichkeiten brachte er nach zwölf Uhr
mittags an. Nicht genug damit, daß er des Nachmittags unaufmerksam wurde und in
betrüblicher Weise zum Klecksen neigte, er ging an manchen Tagen noch weiter
und schlug ziemlichen Lärm. Dann flammte sein Gesicht in gesteigertem
Wappenglanz, als hätte man Kannelkohle auf Anthrazit geschüttet. Er vollführte
unsympathische Geräusche mit seinem Stuhl, er verschüttete den Streusand und
schnitt beim Zurichten seiner Schreibfedern in seiner Ungeduld die Kiele völlig
zuschanden, worauf er plötzlich wütend wurde und die Stücke auf die Erde
schmiß. Auch sprang er beständig auf, lehnte sich über seinen Tisch und ließ
die Papiere wüst umherfahren, ein bei einem älteren Mann wie ihm besonders
widriger Anblick. Da er mir jedoch in vieler Hinsicht außerordentlich wertvoll
war und während der ganzen Zeit vor zwölf Uhr mittags sich durchaus aufgeweckt
und solid erzeigte, auch ein großes Arbeitspensum in vorzüglicher, kaum zu
übertreffender Weise hinter sich brachte – aus allen diesen Gründen war ich
gewillt, über sein überspanntes Wesen hinwegzusehen, wenn ich ihm auch
gelegentlich einmal Vorhaltungen machte. Ich ging dabei stets mit aller Milde
zu Werk, weil er – des Morgens die Höflichkeit, ja ich muß schon sagen die Sanftmut
und Ehrerbietung selbst – am Nachmittag dazu neigte, im Falle einer
Herausforderung mit Worten etwas unbesonnen, ja offen gesagt unverschämt zu
werden. Da ich also, wie gesagt, seine vormittäglichen Dienste schätzte und
nicht zu entbehren gedachte (gleichzeitig aber von seinem erhitzten Wesen nach
der Mittagsstunde unangenehm berührt war) und als ein friedliebender Mensch mir
nicht durch meine Ermahnungen unpassende Antworten von ihm zuziehen mochte, so
entschloß ich mich an einem Sonnabendmittag (am Sonnabend war es immer
besonders schlimm mit ihm), ihm in aller Güte anzudeuten, daß es vielleicht
jetzt, wo er in die Jahre käme, angebracht sei, seine Arbeitszeit abzukürzen:
er brauche, kurz gesagt, nach zwölf Uhr nicht mehr ins Büro zu kommen, sondern
solle sich nur ruhig nach dem Mittagessen nach Hause begeben und bis zum Tee
ausruhen. Aber nein: er bestand darauf, auch nachmittags seine Pflicht zu tun.
Sein Gesicht erhitzte sich aufs unleidlichste, während er mir, am anderen Ende
des Zimmers mit einem langen Lineal herumfuchtelnd, in wohlgesetzten Worten auseinandersetzte, wenn seine Dienste am Vormittag von
Nutzen seien, dann müßten sie ja am Nachmittag vollends unentbehrlich sein.
»Mit aller
schuldigen Ehrerbietung, Sir«, sagte Puter bei dieser Gelegenheit, »aber ich
halte mich offengestanden für Ihre rechte Hand. Vormittags exerziere und
marschiere ich ja nur mit meinen Kolonnen – aber nachmittags, da stelle ich
mich an ihre Spitze und mache eine zügige Attacke auf den Feind, so« – und
damit vollführte er einen heftigen Stoß mit dem Lineal.
»Aber die
Tintenkleckse, Puter!« gab ich zu bedenken.
»Richtig! –
Aber mit aller schuldigen Ehrerbietung, Sir: Schauen Sie diese Haare an! Ich
werde alt. Ich möchte doch meinen, Sir, daß ein paar Tintenkleckse an einem
heißen Nachmittag einem alten Mann mit grauen Haaren nicht so hart zum Vorwurf
gemacht werden dürfen. Das Alter, auch wenn es Tintenflecke macht, verdient
Ehrfurcht. Mit aller schuldigen Ehrerbietung, Sir: wir werden beide alt!«
Diesem
Appell an meine kameradschaftliche Gesinnung konnte ich schwer widerstehen. Das
eine sah ich jedenfalls, daß er nicht gehen würde. Also entschloß ich mich, ihn
zu behalten, wobei ich allerdings mein Augenmerk darauf richtete, daß er am
Nachmittag mit meinen minder wichtigen Papieren beschäftigt wurde.
Nippers –
»Beißzange« – der zweite auf der Liste, war ein mit seinem Backenbärtchen und
seiner gelblichen Gesichtsfarbe einigermaßen seeräuberhaft aussehender junger
Mann von fünfundzwanzig Jahren. Nach meinem Dafürhalten war er das Opfer zweier
böser Mächte – des Ehrgeizes und der Verdauungsstörungen. Der Ehrgeiz bekundete
sich bei ihm in einer gewissen Unlust an den Berufspflichten eines gewöhnlichen
Kopisten, in einem unverantwortlichen Übergreifen auf Arbeiten, die dem Fachmann
vorbehalten bleiben müssen, wie z. B. das Abfassen rechtsgültiger Urkunden.
Seine Verdauungsschwäche drückte sich aus in einer gelegentlichen nervösen
Unverträglichkeit und hämischen Reizbarkeit, wobei es denn vorkam, daß er bei
Abschreibefehlern hörbar mit den Zähnen knirschte; auch äußerte er in der Hitze
der Arbeit unnötige Fluchworte, die er übrigens mehr zischte als wirklich
aussprach, und lag vor allem in beständiger Fehde mit der Höhe seines
Arbeitstisches. Beißzange war zwar in technischen Dingen erfinderisch und
begabt, mit seinem Tisch aber vermochte er nie zurechtzukommen. Er legte Späne,
Holzblöckchen der erdenklichsten Art und Kartonstücke unter und versuchte es
schließlich mit einer besonders tadellosen Abstimmung, indem er einige Lagen
zusammengefalteten Fließpapiers verwendete. Nichts wollte
fruchten. Rückte er, um seinen Rücken zu schonen, den Pultdeckel in scharfem
Winkel bis dicht unter sein Kinn und schrieb darauf, wie einer der das steile
Dach eines Holländer Hauses als Pult benützt, dann vernahm man bald die Klage
von ihm, daß ihm in dieser Haltung die Arme klamm würden. Senkte er aber
alsdann die Tischplatte bis zu Gürtelhöhe und saß beim Schreiben
vornübergebeugt, dann bekam er sogleich Rückenschmerzen. Mit einem Wort:
Beißzange wußte in Wahrheit nicht, was er wollte. Oder wenn er überhaupt etwas
wollte, so dies: vom Schreiberpult überhaupt freizukommen. Zu den Bekundungen
seines krankhaften Ehrgeizes gehörte es, daß er mit Vorliebe Besuch empfing,
und zwar von allerlei zweideutig aussehenden Gesellen in schäbigen Anzügen, die
er als seine Klienten bezeichnete. Ich mußte überhaupt erkennen, daß er sich
nicht nur gelegentlich als Winkelpolitiker betätigte, sondern sich dann und
wann auch bei den Gerichtshöfen zu schaffen machte und an der Pforte der
»Gräber«, des Stadtgefängnisses, nicht unbekannt war. Von einem Individuum
allerdings, das ihn in meiner Kanzlei aufsuchte und das er nachdrücklich und
mit viel Wichtigkeit als seinen Klienten bezeichnete, möchte ich mit gutem
Grund annehmen, daß es in Wahrheit einfach ein Gläubiger war und daß es sich
bei seinem angeblichen Rechtstitel um eine Rechnung handelte. Bei allen seinen
Mängeln aber und den Unannehmlichkeiten, die er mir verursachte, war Beißzange
mir doch, wie sein Landsmann Puter, im ganzen recht nützlich. Er schrieb eine
rasche und saubere Hand und ließ es, wenn er danach gelaunt war, an einem
weltmännischen Benehmen nicht fehlen. Es kam hinzu, daß er sich immer durchaus
herrschaftlich kleidete und dadurch beiläufig einen gewissen Kredit der
Vertrauenswürdigkeit auf meine Kanzlei ausstrahlte. Mit Puter hingegen hatte
ich meine liebe Not, zu verhüten, daß er für mich eine Art Schandfleck wurde.
Seine Kleidungsstücke sahen immer fleckig aus und rochen nach Speisehaus. Den
Sommer über trug er seine Hosen entsetzlich lasch und ausgebeult; seine
Überröcke spotteten jeder Beschreibung und seinen Hut konnte man nur mit der
Feuerzange anfassen. Der Hut war für mich nun allerdings verhältnismäßig
gleichgültig, denn als einen an Abhängigkeit gewöhnten Engländer veranlaßte ihn
seine natürliche Höflichkeit und Demut, seine Kopfbedeckung abzunehmen, sowie
er das Zimmer betrat; mit dem Rock aber war es eine andere Sache. Ich machte
ihm diesbezüglich Vorhaltungen, aber ohne jeden Erfolg. In Wahrheit war es wohl
so, daß ein Mann mit so geringem Einkommen nicht gleichzeitig
ein üppiges Gesicht und einen üppigen Rock spazieren führen konnte. Wie
Beißzange einmal bemerkte, ging Puters Geld größtenteils für »rote Tinte«
drauf. An einem Wintertag schenkte ich Puter einen sehr gediegen aussehenden
Rock aus meinem eigenen Bestand – einen wattierten grauen Rock, der sehr
angenehm warm hielt und den man vom Hals bis zu den Knieen zuknöpfen konnte.
Ich dachte, Puter würde die Freundlichkeit zu schätzen wissen und sein an
Nachmittagen übliches vorschnelles und lärmiges Wesen dementsprechend dämpfen.
Aber nein: ich möchte geradezu annehmen, daß es eine verhängnisvolle Wirkung
bei ihm hervorrief, sich nun in einen derart flaumigen und einer Bettdecke
ähnelnden Rock einknöpfen zu können – nach demselben Grundsatz, nach dem zu
viel Hafer den Pferden schlecht bekommt. Wie man ja auch von einem jähen und
eigensinnigen Gaul sagt, daß ihn der Haber sticht, so stach unseren Puter sein
Rock. Er wurde übermütig. Er war ein Mensch, dem das Wohlleben zum Nachteil
gereichte.
Während ich
Puters heimlichen persönlichen Neigungen gegenüber meine eigenen Vermutungen
hegte, war ich von Beißzange allerdings völlig überzeugt, daß er, unbeschadet
seiner sonstigen Fehler, wenigstens in puncto Alkohol ein mäßiger junger Mensch
war. Indessen schien in seinem Fall die Natur selbst die Rolle des
Weinlieferanten übernommen zu haben: sie hatte ihn schon bei der Geburt mit
einem derart reizbaren, branntweinartigen Temperament ausgestattet, daß es bei
ihm eines nachträglichen Kneipens gar nicht mehr bedurfte. Wenn ich mir
überlege, wie Beißzange oft mitten in der Stille der Kanzlei ungeduldig von
seinem Sitz aufsprang, sich über den Tisch beugte, die Arme weit ausbreitete,
das Pult schlankweg aufpackte und mit einem bösen Knirschen über den Fußboden
schob oder eigentlich schleuderte, als wäre der Tisch ein widerspenstiger
Kanzleidiener, der ihm absichtlich Ärger und Schwierigkeiten machte, dann wird
mir aufs neue klar, daß bei ihm Kognaksoda durchaus überflüssig war.
Einen
Glücksumstand für mich bedeutete es, daß sich Beißzanges Reizbarkeit und
dadurch verursachte Nervosität auf Grund ihres besonderen Anlasses – nämlich
der Verdauungs-beschwerden – vorzüglich am Vormittag bemerkbar machte, während
er nachmittags verhältnismäßig milde war. So hatte ich, da Puters Anfälle ja
erst um die Mittagszeit zum Durchbrach kamen, wenigstens nie zu gleicher Zeit
mit ihnen beiden in ihrem überspannten Zustand zu tun. Ihre Zustände lösten
einander ab wie die Wachtparade. War Beißzange im Dienst, so hatte Puter
dienstfrei und umgekehrt. Das war, wie die Dinge lagen, von
der Natur gut eingerichtet.
Ginger Nut –
»Pfeffernuß« – der Dritte auf meiner Liste, war ein Bürschlein von etwa zwölf
Jahren. Sein Vater war Fuhrmann und hegte den Ehrgeiz, seinen Sohn vor seinem
Tode auf der Gerichtsbank statt auf dem Kutschbock zu sehen. Er schickte ihn zu
diesem Zweck zu mir auf die Kanzlei, als Rechtsstudent, Laufjunge, Bodenputzer,
gegen einen Lohn von einem Dollar die Woche. Er hatte ein eigenes kleines Pult,
war aber nicht viel daran zu sehen. Seine Schublade wies bei näherer
Untersuchung eine große Auswahl von Nußschalen der verschiedensten Sorten auf.
Die gesamte edle Rechtswissenschaft war denn auch für diesen hellköpfigen
Jüngling gewissermaßen in einer Nußschale enthalten. Nicht die geringste unter
Ginger Nuts Obliegenheiten – und zwar eine, deren er sich mit der größten
Fixigkeit entledigte – war seine Stellung als Kuchen- und Äpfeleinkäufer für
Puter und Beißzange. Das Abschreiben von Akten ist ja ein sprichwörtlich
trockenes, halsausdörrendes Geschäft, und so waren auch meine zwei Schreiber
oft genug von dem Bedürfnis befallen, sich den Mund mit Spitzenberger Äpfeln zu
befeuchten, die es in den zahlreichen Buden in der Nähe des Zollgebäudes und
des Postamts zu kaufen gab. Auch schickten sie Pfeffernuß häufig nach jener
besonderen Sorte von Gebäck – klein, flach, rund und stark gewürzt –, nach dem
sie ihm seinen Namen gegeben hatten. An kalten Vormittagen, wenn geschäftlich
nicht viel los war, verschlang Puter die Pfeffernüsse zu Dutzenden, als wären
es bloße Oblaten – der übliche Verkaufspreis beträgt ja auch nur einen Penny
für sechs bis acht Stück – und das Kratzen seiner Feder vermischte sich dann
mit dem Krachen der mürben Kuchenteilchen in seinem Munde. Zu den vielen
nachmittäglichen Hitzköpfigkeiten und Wahnsinnstaten Puters gehörte es, daß er
einmal eine Pfeffernuß zwischen den Lippen befeuchtete und als Siegel auf einen
Pfandbrief klebte. Damals hätte ich ihn um ein Haar entlassen. Er besänftigte
mich aber, indem er eine orientalische Verbeugung machte und sagte: »Mit aller
schuldigen Ehrerbietung, Sir – aber es war doch eigentlich nobel von mir, daß
ich Sie aus eigenem Bestand mit Büromaterial versehen habe!«
Wie sich
denken läßt, nahm mein ursprünglicher Geschäftsbereich – als Spezialist für
Liegenschaftssachen, Fachmann für ungeklärte Besitzverhältnisse und Abfasser
tiefgründiger Urkunden aller Art – nach meiner Betrauung mit dem Beisitzeramt
erheblich an Umfang zu. Für Schreibhilfen hatte ich nun eine Menge zu tun. Ich
mußte nicht nur die bei mir befindlichen Angestellten
mächtig antreiben; auch eine zusätzliche Hilfe war nicht länger zu entbehren.
Auf eine
Zeitungsanzeige hin stand eines Morgens ein steifleinener junger Mensch auf der
Schwelle meiner Kanzlei, denn es war Sommer und die Tür stand offen. Ich sehe
seine Gestalt noch heute vor mir – ausdruckslos sauber, erbarmungswürdig
achtbar, hoffnungslos einsam. Es war Bartleby.
Nach einer
kurzen Unterhaltung über seine Fähigkeiten stellte ich ihn ein, recht
zufrieden, daß ich der Schar meiner Kopisten einen Menschen von so ungemein
gesetztem Aussehen einverleiben konnte – einen Mann, dessen Art nach meiner
Erwartung wohltätig auf Puters regelloses und Beißzanges feuriges Temperament
einwirken würde.
Ich hätte
schon vorher erzählen sollen, daß Flügeltüren aus Mattglas meine Kanzleiräume
in zwei Hälften teilten, von denen die eine von meinen Schreibern, die andere
von mir eingenommen wurde. Je nach meiner augenblicklichen Stimmung ließ ich
die Türen offen oder geschlossen. Bartleby wies ich kurz entschlossen eine Ecke
in der Nähe der Tür zu, jedoch auf meiner Seite, damit ich diesen stillen
Menschen in bequemer Rufweite hätte, wenn irgend eine Kleinigkeit zu erledigen
wäre. Ich stellte sein Pult in die Nähe eines kleinen Seitenfensterchens, durch
das man ursprünglich auf einige schmutzige Hinterhöfe und Ziegelmauern hatte
sehen können, das aber jetzt, da inzwischen gebaut worden war, überhaupt keine
Aussicht mehr bot, nur noch ein wenig Licht. Drei Fuß vor dem Fenster erhob
sich eine Wand, und das Licht kam von hoch oben, zwischen zwei hohen Gebäuden,
wie durch eine schmale Öffnung in einer Kuppel. Um die Sache weiter
zufriedenstellend einzurichten, brachte ich einen hohen grünen Wandschirm an,
durch den Bartleby meinem Blick völlig entzogen wurde, während er meiner Stimme
erreichbar blieb. Auf diese Weise waren, soviel als möglich, Abgeschlossenheit
und Geselligkeit vereint. Anfangs erledigte Bartleby ganz erstaunliche Mengen
von Schreibarbeit. Als hungere er seit langem nach Kopierarbeiten, fraß er sich
förmlich voll mit meinen Dokumenten. Zur Verdauung blieb keine Zeit. Er
kopierte Tag und Nacht, bei Sonne und bei Kerzenlicht. Mir hätte sein Eifer
recht gut gefallen, wenn es nur ein richtiger, mit Heiterkeit gepaarter Fleiß
gewesen wäre. Er schrieb indessen still vor sich hin, bleich und mechanisch.
Wie sich
denken läßt, gehört es wesentlich zur Arbeit eines Schreibers, daß er die
Richtigkeit seiner Abschrift Wort für Wort nachprüft. Wo sich zwei oder mehr
Schreiber in einer Kanzlei beisammenfinden, helfen sie sich
gegenseitig bei dieser Arbeit, indem einer die Abschrift vorliest, während der
andere das Original vergleicht. Eine sehr öde, ermüdende und eintönige Tätigkeit,
die, möchte ich meinen, für manche Menschen von sanguinischem Temperament ganz
unerträglich sein muß. Zum Beispiel kann ich mir schwer vorstellen, daß sich
Byron, dieser Dichter und Feuergeist, in aller Ruhe mit Bartleby zusammen
hingesetzt hätte, um ein juristisches Schriftstück von, sagen wir, fünfhundert
engbeschriebenen Seiten zu kollationieren.
Dann und
wann, wenn wir eilig zu tun hatten, beteiligte ich mich auch selbst am
Kollationieren eines kürzeren Schriftstücks und rief dann Puter oder Beißzange
zu diesem Zweck zu mir. Als ich Bartleby so praktisch hinter den Wandschirm in
meiner Nähe verwies, hatte ich unter anderem auch den Zweck im Auge, mich bei
derartigen rasch zu erledigenden Anlässen seiner Dienste zu versichern. Am
dritten Tage wohl, an dem er bei mir war, und bevor sich noch die Notwendigkeit
ergeben hatte, die von ihm gelieferten Schreibarbeiten zu kollationieren,
wollte ich einen kleinen Vorgang, an dem ich eben arbeitete, rasch zu Ende
bringen und rief kurzerhand nach Bartleby. Da ich es eilig hatte und
begreiflicherweise daran gewöhnt war, daß meinen Wünschen sofort entsprochen
wurde, hielt ich den Kopf tief über die Urschrift auf meinem Schreibpult
gebeugt und streckte nur, vielleicht etwas ungeduldig, die rechte Hand mit der
Kopie seitwärts aus, damit Bartleby, wenn er aus seinem Versteck hervorkäme,
sogleich danach greifen und ohne den geringsten Verzug ans Werk gehen könnte.
In dieser
Haltung also saß ich da, als ich nach ihm rief, und setzte ihm in aller Eile
auseinander, was, ich von ihm wünschte – mir nämlich beim Vergleichen eines
kleineren Schriftstücks zu helfen. Man stelle sich meine Überraschung, ich muß
schon sagen meine Bestürzung vor, als Bartleby, ohne sich aus seiner Klause zu
rühren, mit seltsam sanfter, fester Stimme zur Antwort gab: »Ich möchte lieber
nicht.«
Ich saß eine
Zeitlang stillschweigend da und versuchte mich von meiner Verblüffung zu
erholen. Der Gedanke drängte sich mir auf, meine Ohren müßten mich wohl
getäuscht haben, oder Bartleby habe vielleicht den Sinn meiner Worte völlig
mißverstanden. Ich wiederholte mein Ersuchen, so klar und deutlich ich konnte,
aber eben so klar und deutlich erhielt ich die vorige Antwort: »Ich möchte
lieber nicht.«
»Lieber
nicht!« wiederholte ich, sprang voller Erregung auf und durchmaß den Raum mit
einem Satz. »Was soll das heißen? Sind Sie übergeschnappt?
Ich wünsche, daß Sie mir dieses Blatt durchsehen helfen – hier ...!« – und
damit streckte ich es ihm hin.
»Ich möchte
lieber nicht«, sagte er.
Ich schaute
ihn durchdringend an. Sein Gesicht war hager in seiner Gesamtheit; sein graues
Auge von trüber Ruhe. Nicht die geringste Spur von Erregung schien ihn zu
durchbeben. Wäre nur die mindeste Unsicherheit, Empörung, Ungeduld oder
Unverschämtheit an ihm wahrzunehmen gewesen, mit anderen Worten: hätte er nur
irgendwie menschlich im normalen Sinn auf mich gewirkt, so hätte ich ihn
zweifellos mit allem Nachdruck aus dem Hause gewiesen. Wie die Dinge aber
lagen, hätte ich genau so gut meine gipserne Cicerobüste aus dem Hause weisen
können. Ich schaute ihm noch eine Zeitlang zu, wie er seine Schreiberei
fortsetzte, und ließ mich dann wieder an meinem Pult nieder. Das ist ja
seltsam, dachte ich. Was tat man da am besten? Aber die Geschäfte drängten, und
so entschied ich mich, die Sache einstweilen auf sich beruhen zu lassen und
später bei günstigerer Zeit zu regeln. Ich rief Beißzange von nebenan zu mir
und hatte das Papier rasch durchkorrigiert.
Einige Tage
darauf beendete Bartleby die Abschrift von vier umfangreichen Schriftstücken,
der vierfachen Abschrift einer von mir beim Obersten Kanzleigericht eingeholten
Zeugenaussage. Wieder wurde eine genaue Durchsicht notwendig, und da es sich um
einen wichtigen Rechtsstreit handelte, war besondere Sorgfalt geboten. Im
gegebenen Augenblick rief ich Puter, Beißzange und Pfeffernuß aus dem
Nebenzimmer zu mir, in der Absicht, meinen vier Angestellten die vier Kopien in
die Hand zu geben und selbst die Urschrift vorzulesen. Die drei hatten sich
bereits in einer Reihe niedergelassen jeder sein Schriftstück in der Hand, und
nun rief ich auch noch Bartleby herbei, damit er sich der interessanten Gruppe
beigeselle.
»Bartleby!
Rasch – ich warte!«
Ich hörte
das leise Scharren der Stuhlbeine auf dem mit keinem Teppich belegten Fußboden,
und gleich darauf erschien er am Eingang zu seiner Einsiedelei.
»Was ist
gefällig?« sagte er sanft.
»Die
Abschriften, die Abschriften«, sagte ich hastig. »Wir wollen kollationieren.
Hier –« und ich hielt ihm die vierte Abschrift hin.
»Ich möchte
lieber nicht«, sagte er und verschwand still hinter seinem Wandschirm.
Einige
Augenblicke war ich zur Salzsäule verwandelt und stand sprachlos zuhäupten meiner sitzenden Angestelltenkolonne. Dann faßte ich
mich, trat auf den Wandschirm zu und erkundigte mich nach den Gründen eines so
ungewöhnlichen Verhaltens.
»Warum
weigern Sie sich?«
»Ich möchte
lieber nicht.«
Bei jedem
anderen wäre ich nun sofort in schreckliche Wut geraten, hätte auf jedes
weitere Wort verzichtet und ihn mit Schimpf und Schande des Hauses verwiesen.
Bartleby aber hatte etwas an sich, was mich nicht allein seltsam entwaffnete,
sondern auch, aufs wunderlichste, rührte und aus dem Konzept brachte. Ich
begann ihm ins Gewissen zu reden.
»Es handelt
sich um Ihre eigenen Abschriften, die wir kollationieren wollen. Ihnen selber
wird damit Arbeit gespart, denn eine Durchsicht genügt dann für alle vier
Exemplare. So will's der Brauch; jeder Abschreiber ist verpflichtet, daß er
beim Kollationieren seiner Abschriften hilft. Ist es nicht so? Wollen Sie nicht
sprechen? Antworten Sie!«
»Ich möchte
lieber nicht«, erwiderte er in flötensanftem Ton. Ich hatte den Eindruck, daß
er während meiner an ihn gerichteten Worte jede meiner Behauptungen sorgfältig
bei sich erwog, daß er den Inhalt meiner Worte durchaus begriff und ihre
zwingende Logik nicht anzufechten vermochte, daß ihn aber irgend eine
vordringliche Überlegung dazu veranlaßte, dennoch die bewußte Antwort zu geben.
»So gedenken
Sie also meinem Ersuchen nicht zu entsprechen – einem Ersuchen, das sich auf
Brauch und gesunden Menschenverstand stützt?«
Er gab mir
kurz zu verstehen, daß ich ihn in diesem Punkt richtig verstanden hätte. Ja:
sein Entschluß sei unumstößlich.
Es kommt
nicht selten vor, daß ein Mensch, den man auf noch nie dagewesene und kraß der
Vernunft widersprechende Weise vor den Kopf gestoßen hat, in seinem
selbstverständlichsten Glauben irre wird. In ihm erwacht sozusagen die
unbestimmte Vermutung, daß vielleicht, so seltsam es auch sei, Recht und
Vernunft auf der anderen Seite sein könnten. Sind irgendwelche unparteiischen
Personen zugegen, so wird sich der solcherart Irregewordene an sie wenden, um
bei ihnen für seinen wankenden Gemütsfrieden eine Stütze zu finden.
»Puter«,
sagte ich, »was halten Sie davon? Bin ich nicht im Recht?«
»Mit
schuldiger Ehrerbietung, Sir«, sagte Puter in seinem geschmeidigsten Ton, »ich
glaube wohl.«
»Beißzange«,
sagte ich, »was meinen Sie?«
»Ich?
Hinausschmeißen würde ich ihn!«
(Der mit Aufmerksamkeit folgende Leser wird sich an
dieser Stelle darüber klar sein, daß die Szene am Vormittag spielt, weswegen
Puters Antwort in höflichen, ruhigen Ausdrücken gehalten, Beißzanges Erwiderung
dagegen übellaunig gefaßt ist. Oder, um es mit einem schon früher gebrauchten
Bilde zu sagen: Beißzanges schlechte Laune hatte Dienst, Puters Übellaune hatte
dienstfrei.)
»Pfeffernuß«,
sagte ich, denn ich wollte auch die geringste Stimme zu meinen Gunsten
aufbieten, »was sagst du dazu?«
»Ich sage,
Sir, der hat 'n Vogel!« erwiderte Pfeffernuß grinsend.
»Sie hören,
was die Leute sagen«, sagte ich, an den Wandschirm gewandt. »Nun kommen Sie
heraus und tun Sie Ihre Pflicht!«
Mir ward
keine Antwort zuteil. Ich überlegte einen Augenblick, in heilloser Verwirrung.
Wieder waren es die Geschäfte, die mich drängten, und ich beschloß abermals,
die Entscheidung der Frage bis auf spätere ruhige Zeit zu verschieben. Mit
einiger Mühe bewerkstelligten wir es, die Schriftstücke ohne Bartleby zu
kollationieren, wenn auch Puter alle paar Seiten seine Meinung bescheidentlich
dahin vernehmen ließ, daß dies Verfahren ganz und gar ungewöhnlich sei, indes
Beißzange mit der Nervosität des Magenkranken seinen Stuhl hin und her rückte
und zwischen zusammengebissenen Zähnen ab und zu ein Knirschen und Zischen der
Verwünschung hervorstieß auf den hartgesottenen Esel hinter dem Wandschirm. Was
ihn (Beißzange) angehe, so sei dies das erste und letzte Mal, daß er unbezahlt
die Arbeit für einen anderen verrichte.
Bartleby saß
derweilen in seiner Klause, auf nichts bedacht als auf seinen eigenen
Schreiberkram.
Einige Tage
vergingen; Bartleby saß wieder über einer langwierigen Arbeit. Das seltsame
Verhalten, das er jüngst an den Tag gelegt, ließ mich mit Genauigkeit auf ihn
achten. Ich beobachtete, daß er nie zum Essen ging, genau gesagt, daß er
überhaupt nie das Haus verließ. Außerhalb meines Büros war er mir, soviel ich
mich erinnerte, noch nie begegnet. Als ewiger Wachtposten hauste er in seinem
Winkel. Doch stellte ich fest, daß um elf Uhr vormittags Pfeffernuß auf die
Öffnung in Bartlebys spanischer Wand zutrat, als würde er von einer, von meinem
Platz aus unsichtbaren Handbewegung stillschweigend dorthin befohlen. Er
verließ sodann die Kanzlei, mit einigem Kleingeld klimpernd, und erschien wieder
mit einer Handvoll Pfeffernüsse, die er in der Klause ablieferte, nicht ohne
zwei Stück als Lohn für seine Mühe zu empfangen. Er lebt
also von Pfeffernüssen, dachte ich. Mittagbrot, oder was man so nennt, ißt er
nicht. Er muß demnach Vegetarier sein – aber nein: er ißt ja auch keine
Vegetabilien, er ißt lediglich Pfeffernüsse. Mein Geist erging sich in allerlei
müßigen Betrachtungen darüber, welche Wirkung es wohl auf die menschliche
Konstitution ausüben müsse, wenn jemand ausschließlich von Pfeffernüssen lebte.
Pfeffernüsse heißen deshalb so, weil sie als charakteristischen Bestandteil und
als entscheidende Geschmackszutat Pfeffer enthalten. Und was war Pfeffer? Etwas
Hitziges, Gewürziges. War Bartleby hitzig und gewürzig? Durchaus nicht. Pfeffer
tat demnach auf Bartleby keine Wirkung. Wahrscheinlich war es ihm lieber so.
Nichts kann
einen ernsthaften Menschen so aufbringen wie passiver Widerstand. Ist der, dem
auf solche Weise begegnet wird, von einigermaßen humaner Gemütsart und der
Widerstandleistende seinerseits harmlos in seiner Passivität, dann wird der
Fall eintreten, daß jener, bei einigermaßen guter Stimmung, Mitleid walten läßt
und mit Hilfe seiner Einfühlungsgabe auszudeuten versucht, was ihm verständlich
unerklärlich bleibt. Dergestalt beurteilte auch ich, von Ausnahmefällen
abgesehen, meinen Bartleby und seine Eigenarten. Der arme Kerl!, dachte ich; er
meint es nicht böse; offensichtlich hat er keine Unverschämtheit im Sinn; sein
Aussehen schon bietet die Gewähr dafür, daß keine Absicht hinter seinen
Verschrobenheiten steckt. Er ist mir nützlich. Ich komme mit ihm zurecht. Wenn
ich ihn an die Luft setze, gerät er womöglich an einen weniger nachsichtigen
Brotgeber und dann wird er grob angepackt und verhungert vielleicht
zuguterletzt ganz elendiglich. So ist es. Für mich bietet sich hier eine
wohlfeile Gelegenheit, mich so zu benehmen, daß ich mit mir selbst zufrieden
sein kann. Wenn ich mich des Bartleby annehme, wenn ich ihn in seiner kuriosen
Dickköpfigkeit gewähren lasse, so kostet mich das wenig oder nichts, und ich
lege mir damit seelisch eine Art Kapital an, das mir dereinst vielleicht einen
süßen Gewissenstrost bedeutet. Freilich erlitt diese Einstellung Bartleby
gegenüber mitunter auch eine Unterbrechung. Bartlebys Passivität ging mir manchmal
auf die Nerven. Es trieb mich rätselhaft, ihn auf einer neuen Widersetzlichkeit
zu ertappen – einen Zornesfunken aus ihm hervorzulocken, an dem ich mich selber
entzünden könnte. Ich hätte genau so gut versuchen können, mit meinen
Fingerknöcheln aus einem Stück Windsorseife Feuer zu schlagen. Eines
Nachmittags übermannte mich der böse Trieb, und folgende kleine Szene entspann
sich: »Bartleby«, sagte ich, »wenn diese Papiere alle
abgeschrieben sind, werde ich sie mit Ihnen kollationieren.«
»Ich möchte
lieber nicht.«
»Wie denn?
Sie werden sich doch nicht auf diese eigensinnige Grille versteifen wollen?«
Keine
Antwort.
Ich riß die
Flügeltür neben mir auf und wandte mich an Puter und Beißzange mit dem, Ausruf:
»Bartleby erklärt schon wieder, daß er seine Papiere nicht kollationieren will.
Was halten Sie davon, Puter?«
Es war
Nachmittag, nicht zu vergessen. Puter saß glühend da wie ein Teekocher; seine
Glatze dampfte, seine Hände tasteten fahrig zwischen seinen beklecksten
Papieren.
»Was ich
davon halte?« brüllte er; »ich halte das davon, daß ich demnächst mal zu ihm
hintergehe hinter seine spanische Wand und ihm eine runterhaue.«
Mit diesen
Worten sprang er auf und warf die Arme in eine Ringkämpferpositur. Er wollte
alsbald losrennen und sein Versprechen erfüllen, aber ich hielt ihn zurück,
weil ich mir mit Schrecken überlegte, welche Folgen es haben könnte, wenn ich
Puters nachmittägliche Kampfeslust unvorsichtig wachriefe.
»Setzen Sie
sich hin, Puter«, sagte ich, »und hören Sie, was Beißzange zu sagen hat. Was
meinen Sie, Beißzange? Hätte ich nicht das Recht, Bartleby fristlos zu
entlassen?«
»Verzeihung,
das haben Sie zu entscheiden, Sir. Meiner Meinung nach ist sein Verhalten
durchaus ungewöhnlich und, Puter und mir gegenüber, unbillig. Vielleicht
handelt es sich aber nur um eine vorübergehende Laune von ihm.«
»So, so?«
rief ich, »Sie haben Ihre Ansichten ja erstaunlich geändert. Sie sprechen auf
einmal sehr nachsichtig von ihm.«
»Das Bier!«
schrie Puter dazwischen, »die ganze Nachsicht kommt nur vom Bier! Beißzange und
ich haben heute zusammen gegessen. Schauen Sie nur, wie nachsichtig ich bin,
Sir! Soll ich hinein und ihm eine langen?«
»Sie
sprechen von Bartleby? Nein, Puter, heute nicht«, erwiderte ich. »Nehmen Sie
bitte die Fäuste herunter.«
Ich schloß
die Tür und trat abermals auf Bartleby zu. Mehr noch als zuvor verspürte ich
die Lust, es aufs Ganze ankommen zu lassen. Widerspruch zu erleben wäre mir
hochwillkommen gewesen. Ich entsann mich, daß Bartleby nie die Kanzlei verließ.
»Bartleby«, sagte ich, »Pfeffernuß ist ausgegangen; gehen
Sie doch eben mal rüber aufs Postamt, bitte«, – es war nur drei Minuten
entfernt – »und sehen Sie nach, ob etwas für mich da ist.«
»Ich möchte
lieber nicht.«
»Sie wollen
nicht?«
»Ich möchte
nicht.«
Ich taumelte
zu meinem Pult und versank in tiefes Nachdenken. Die zwanghafte Lust von vorhin
kehrte wieder. Gab es noch etwas, worin ich mir von diesem armseligen
Hungerleider, meinem bezahlten Angestellten, eine schmähliche Abfuhr holen
konnte? Fand sich nicht noch ein Auftrag, ein durchaus vernünftiger und
billiger Auftrag, den auszuführen er sich, bestimmt weigern würde?
»Bartleby!«
Keine
Antwort!
Lauter: »Bartleby!«
Keine
Antwort!
Mit
Stentorstimme: »Bartleby!«
Wie der
leibhaftige Geist, nach den Gesetzen magischer Beschwörung erst der dritten
Aufforderung erbötig, erschien er im Eingang seiner Klause.
»Gehen Sie
hinüber und sagen Sie Beißzange, er soll kommen.«
»Ich möchte
nicht«, sagte er langsam und ehrerbietig und verschwand mit einer Miene der
Sanftmut.
»Schön,
schön, Bartleby«, sagte ich in einem gesammelten Ton, der, zwischen Strenge und
Gelassenheit schwankend, meinen unabänderlichen Entschluß ausdrücken sollte,
demnächst mit einem fürchterlichen Strafgericht aufzuwarten. Tatsächlich hatte
ich dergleichen halb und halb im Sinn. Doch hielt ich es schließlich, zumal da
die Stunde meines Nachtmahls herannahte, für geraten, meinen Hut aufzusetzen
und für den heutigen Tag nach Hause zu gehen. Ratlosigkeit und Kümmernis
quälten mich sehr.
Soll ich es
gestehen? Das Ende des Handels bestand darin, daß als eine stehende Einrichtung
meiner Kanzlei ein blasser junger Schreiber namens Bartleby ein Pult daselbst
einnahm; daß er für mich kopierte, zum üblichen Satz von vier Gents für die
Folioseite zu hundert Wörtern; daß er aber dauernd von der Pflicht entbunden
war, seine Abschriften zu kollationieren, welche Pflicht den Herren Puter und
Beißzange übertragen blieb, vermutlich in Anerkennung ihres höher entwickelten
Scharfsinns. Überdies durfte besagter Bartleby niemals und
unter keinen Umständen auch nur zu dem bescheidensten Botengang entsandt
werden, und auch wenn er höflichst gebeten wurde, dergleichen auf sich zu
nehmen, mußte damit gerechnet werden, daß er »lieber nicht mochte« – mit
anderen Worten, daß er sich rundheraus weigerte.
Die Tage
gingen dahin, und ich machte mehr und mehr meinen Frieden mit Bartleby. Seine
solide Art, die ihn allen Zerstreuungen abgeneigt machte, sein unermüdlicher
Fleiß (wenn er nicht gerade einmal, hinter seinem Wandschirm stehend, in eine
gewisse Träumerei verfiel), seine Lautlosigkeit, sein unter allen Umständen
gleichbleibendes Benehmen – all dies machte ihn zu einer wertvollen Erwerbung.
Ganz unübertrefflich war dies: er war stets zugegen – morgens der Erste
am Platze, tagsüber ständig anwesend, und abends der Letzte. Auf seine
Ehrlichkeit verließ ich mich felsenfest. Meine wertvollsten Papiere, fühlte
ich, waren in seinen Händen völlig sicher. Natürlich kam es dann und wann vor,
daß ich, ob ich wollte oder nicht, in eine plötzliche jähzornige Aufwallung
ihmgegenüber geriet. Es war über alle Maßen schwierig, sich beständig die
seltsamen Eigenbröteleien, Vorrechte und unerhörten Ausnahmebestimmungen vor
Augen zu halten, die für Bartleby die stillschweigenden Voraussetzungen seines
weiteren Wirkens in meinem Büro bildeten. Bisweilen forderte ich in der Eile
drängender Geschäfte Bartleby, ohne mir Böses dabei zu denken, in einem kurzen,
hastigen Ton dazu auf, sagen wir seinen Finger auf eine im Entstehen begriffene
Schleife zu legen, wenn ich Papiere mit rotem Faden zu heften gedachte. Wie
sich denken läßt, kam hinter der spanischen Wand hervor unweigerlich die
übliche Antwort: »Möchte lieber nicht«, und wie konnte da ein menschliches
Geschöpf, behaftet mit den Schwächen der Menschennatur, umhin, sich bitter über
dergleichen Widersinn, dergleichen Unvernunft zu beklagen? Immerhin trug jede
neue Zurechtweisung, die ich mir auf solche Art zuzog, weiter dazu bei, daß
sich die Wahrscheinlichkeit fernerer Unachtsamkeit meinerseits verminderte.
Es ist hier
zu berichten, daß ich, wie die meisten in dichtbesiedelten Juristenhäusern
praktizierenden Rechtskundigen, mehrere Schlüssel zu meiner Kanzleitür besaß.
Den einen hatte eine Frau in Aufbewahrung, die, im Dachgeschoß wohnhaft, meine
Räume täglich fegte und abstaubte und einmal wöchentlich gründlich sauber
machte. Einen zweiten hatte aus praktischen Gründen Puter in Verwahr. Den
dritten hatte ich selber manchmal in der Tasche. Wer den vierten hatte, wußte
ich nicht.
An einem Sonntagmorgen nun besuchte ich zufällig die
Trinity Kirche, um einen berühmten Prediger zu hören, und war etwas zu früh zur
Stelle, weshalb ich mich entschloß, noch kurz in meine Kanzlei hinüberzugehen.
Zum Glück hatte ich meinen Schlüssel bei mir; als ich ihn aber ins Schloß
steckte, stieß ich auf einen Widerstand und merkte, daß von innen etwas im
Türschloß stak. In meiner Überraschung tat ich einen lauten Ausruf, und wer beschreibt
mein Staunen, als innen der Schlüssel gedreht wurde und Bartleby durch die halb
offen gehaltene Tür sein hageres Gesicht zu mir herausstreckte – eine
Erscheinung in Hemdsärmeln und merkwürdig zerlumptem Morgenrock – und mir in
aller Ruhe erklärte, es tue ihm leid, er habe aber gerade im Augenblick
dringend zu tun und – möchte mich lieber nicht einlassen. In knappen Worten
fügte er hinzu, es sei vielleicht angezeigt, daß ich zwei- oder dreimal um den
Häuserblock herumspazierte; bis dahin werde er voraussichtlich mit seinen
Angelegenheiten zu Ende sein.
Bartlebys
durchaus unvermutete Erscheinung als Sonntagmorgengast in meiner
Anwaltskanzlei, seine abgestorbene und doch weltmännische Nonchalance dabei,
die gepaart war mit einer großen Bestimmtheit und Kaltblütigkeit – all das
zusammen machte auf mich einen so seltsamen Eindruck, daß ich mich
unwillkürlich von meiner eigenen Tür davonschlich und seinem Verlangen nachkam.
Allerdings nicht ohne viel ohnmächtiges inneres Aufbegehren gegen die sanfte
Frechheit meines rätselhaften Schreibers. Es war ja in der Tat vor allem seine
erstaunliche Sanftmut, die mich nicht nur entwaffnete, sondern schon förmlich
entmannte. Denn das möchte ich doch wohl einen Zustand der Entmannung nennen,
wenn man sich von seinem bezahlten Angestellten Vorschriften machen und aus dem
eigenen Geschäftslokal hinausweisen läßt. Zu allem anderen beunruhigte mich die
Frage, was Bartleby am Sonntagmorgen in Hemdsärmeln und einem auch sonst
verwahrlosten Aufzug in meinem Büro verloren hatte. Gingen da fragwürdige Dinge
vor sich? Nein, das war ausgeschlossen. Keinen Augenblick wagte ich zu denken,
daß Bartleby etwa gegen die Gebote der Sittlichkeit verstoßen könne. Aber was
trieb er dort? Kopierte er etwa? Wiederum nein: bei all seiner Verschrobenheit
war Bartleby ein Mensch, der ungemein auf äußeren Anstand hielt. Er wäre der
Letzte gewesen, der sich in einem auch nur einigermaßen entblößten Zustande an
seinem Pult niedergelassen hätte. Außerdem war Sonntag, und etwas an Bartleby
entkräftete von vornherein den Verdacht, als könne er mit weltlicher
Beschäftigung den Tag des Herrn schänden. Doch kam ich
keineswegs mit mir ins reine, und ruhelos vor Neugierde kehrte ich schließlich
an meine Tür zurück. Ohne Behinderung steckte ich den Schlüssel ins Schloß,
öffnete und trat ein. Bartleby war nicht zu sehen. Ich schaute mich aufs
genaueste um, guckte auch hinter seinen Wandschirm, mußte aber bald erkennen,
daß er fort war. Bei genauerer Untersuchung der Örtlichkeit drängte sich mir
die Vermutung auf, daß Bartleby offenbar seit einer nicht näher zu bestimmenden
Zeit in meiner Kanzlei gegessen, sich angekleidet und geschlafen hatte, und
zwar ohne Geschirr, ohne Spiegel und Bett. Die gepolsterte Sitzfläche eines
wackligen alten Sofas trug in einer Ecke den schwachen Abdruck einer mageren
Gestalt, die dort geruht hatte. Unter seinem Pult fand ich eine
zusammengerollte Wolldecke; unter dem leeren Kaminrost Schuhwichse und Bürste;
auf einem Stuhl ein Blechgefäß mit Seife und zerrissenem Handtuch; in eine Zeitung
eingeschlagen einige Pfeffernußkrumen und ein Stückchen Käse. Ja, dachte ich,
nun ist es klar: Bartleby hat sein Heim hier aufgeschlagen und ganz allein
einen Junggesellenhaushalt geführt. Sogleich überfiel mich auch der Gedanke,
welch unendlich freundearmes, einsames und elendes Leben hier zutage käme. Arm
ist er im höchsten Maß – aber nun erst seine Einsamkeit, wie entsetzlich! Man
bedenke nur: am Sonntag ist Wall Street verlassen wie Petra, die Ruinenstadt;
und auch an jedem gewöhnlichen Werktag versinkt sie nachts ins Leere. Und das
Haus hier, das während der Woche von Leben und Betriebsamkeit summt, hallt bei
Einbruch der Nacht wider vor Verlassenheit, und den ganzen Sonntag regt sich
keine Menschenseele dort. Und hier schlägt Bartleby sein Heim auf: einziger
Betrachter der Einsamkeit, die er auch menschenüberfüllt gekannt hat – ein
anderer, unschuldiger Marius, auf Karthagos Trümmern brütend!
Zum ersten
Mal in meinem Leben ergriff mich ein Gefühl überwältigender, herzverzehrender
Schwermut. Bis dahin hatte ich dergleichen nicht gekannt, nur eine leichte,
nicht unangenehme Art von Melancholie. Jetzt aber zog mich die Fessel
gemeinsamen Menschentums unwiderstehlich in Trübsinn hinab. Brüderliche
Schwermut! – denn beide, Bartleby und ich, waren wir ja Adams Söhne. Die
prächtigen Seidenkleider, die von Wohlleben gerundeten Gesichter kamen mir in
den Sinn, die ich heute erst, in ihrem Sonntagsstaat, schwanengleich den
Mississippi des Broadway hatte hinabgleiten sehen; und ich stellte mein
blaßgesichtiges Schreiberlein dagegen und dachte bei mir: Siehe, das Glück
wiegt sich im Licht, also daß wir uns bedünken lassen, die Welt sei heiter; das
Elend aber verbirgt sich, also will uns bedünken, es gebe
des Elends nicht. Diese traurigen Phantasien – Hirngespinste sicher eines
kranken, dumpfen Kopfes – führten mich weiter zu anderen, mehr ins Einzelne
gehenden Gedanken über Bartlebys wunderliches Wesen. Das Vorgefühl seltsamer
Entdeckungen tastete auf mich zu. Des Schreibers bleiche Gestalt trat mir vor
Augen: unter lauter fremden gleichgültigen Menschen lag er hingestreckt,
frostblaß im Leichentuch.
Unvermittelt
zog Bartlebys verschlossenes Schreibpult meine Aufmerksamkeit auf sich. Der
Schlüssel stak deutlich sichtbar im Schloß.
Ich plane
nichts Unrechtes, will auch keine herzlose Neugier stillen, dachte ich bei mir;
außerdem gehört das Pult mir und der Inhalt ebenso; also darf ich mich wohl
erdreisten und hineinschauen. Alles war ordentlich eingerichtet; die Papiere
lagen sauber geschichtet. Die Fächer reichten tief nach innen: ich schob die
Aktenfaszikel beiseite und tastete ins Dunkle. Plötzlich stieß ich gegen etwas
und zog es hervor. Es war ein altes seidenes Schnupftuch, schwer und wohl
verknotet. Ich machte es auf und sah: es diente als eine Art Sparstrumpf.
Mit einem
Schlag kamen mir die stillen Heimlichkeiten wieder in den Sinn, die ich an dem
Menschen wahrgenommen hatte. Er sprach nur, wenn er Antwort geben mußte; ich
hatte ihn, obwohl er zuweilen ganz viel Zeit für sich hatte, nie lesen sehen,
nicht einmal eine Zeitung; oft stand er lang an seiner blassen Fensterluke
hinter der spanischen Wand und blickte auf die blinde Ziegelmauer hinaus. Nie
ging er zu einem Mittagstisch oder Speisehaus, und sein blasses Gesicht bezeugte
hinlänglich, daß er auch kein Bier trank, wie Puter, und auch nicht Tee oder
Kaffee wie andere Leute. Niemals, es hätte denn hinter meinem Rücken geschehen
müssen, begab er sich zu irgend einer Veranstaltung; er ging auch nicht
spazieren, es sei denn im gegenwärtigen Augenblick, Und er hatte es abgelehnt
mir zu sagen, wer er sei, woher er kam, ob er irgendwo Verwandte besaß. Auch
klagte er, so mager und bleich er aussah, nie über schlechte Gesundheit. Am
stärksten aber stand mir der unbewußte Ausdruck eines – wie soll ich es nennen?
– eines fahlen Hochmuts vor Augen, oder vielleicht besser gesagt einer herben
Zurückhaltung, die mich buchstäblich eingeschüchtert hatte, so daß ich mich auf
alle seine Wunderlichkeiten einließ, sobald ich fürchten mußte, etwas noch so
Geringfügiges, außer der Reihe Liegendes von ihm zu verlangen. Und das auch
dann, wenn ich nach seiner langanhaltenden Regungslosigkeit ganz genau wußte, daß er hinter seinem Wandschirm nur dastand und
träumerisch auf seine Feuermauer hinausstarrte.
Das alles
überlegte ich bei mir und hielt es mit der soeben entdeckten Tatsache zusammen,
daß Bartleby meine Kanzlei zu seinem dauernden Absteigequartier und Wohnsitz
erkoren hatte; auch erinnerte ich mich seines launenhaften und mürrischen
Wesens und fühlte, indem ich mir dies alles vergegenwärtigte, eine Stimmung der
nüchternen Überlegung über mich kommen. Mein erstes Empfinden war das einer
reinen Schwermut und aufrichtigen Mitleids gewesen. Je mehr aber Bartlebys
Verlassenheit in meiner Phantasie sich steigerte und immer noch steigerte,
desto mehr steigerte sich auch meine Schwermut zur Furcht, mein Mitleid zum
Widerwillen. So wahr es ist, so schrecklich wahr, daß der Anblick oder die
Vorstellung des Elends bis zu einem gewissen Punkt unsere besten Regungen
wachruft, so gilt doch in gewissen besonders gelagerten Fällen die Tatsache,
daß jenseits jenes Punktes die Wirkung aufhört. Irrtümlich wäre die Behauptung,
daß daran einfach die angeborene Selbstsucht des Menschenherzens schuld sei. Es
kommt vielmehr aus der Aussichtslosigkeit, einem allzu grenzenlosen organischen
Übel zu steuern und Heilung zu spenden. Für ein empfindsames Gemüt ist Mitleid
nicht selten Schmerz. Wenn sich dann schließlich herausstellt, daß das Mitleid
doch zu keiner wirklichen Hilfe führt, verlangt die Selbsterhaltung, daß sich
die Seele davon frei macht. Was ich an jenem Morgen sah, brachte mich zu der
Überzeugung, daß mein Schreiber an einer angeborenen, unheilbaren Krankheit
litt. Ich konnte seinem Leib gewisse almosenartige Erleichterungen zuteil
werden lassen; aber sein Leib quälte ihn ja nicht, sondern seine Seele war es,
die litt, und seine Seele konnte ich nicht erreichen.
Meine
Absicht, in die Trinity Kirche zu gehen, blieb an jenem Morgen unausgeführt.
Was ich gesehen hatte, machte mich für den Augenblick irgendwie ungeeignet zum
Kirchbesuch. Ich wanderte statt dessen heimwärts, in Überlegungen versunken,
was mit Bartleby zu geschehen habe. Schließlich kam ich zu folgendem Entschluß.
Ich wollte ihm am nächsten Morgen in aller Ruhe einige Fragen stellen, seinen
Lebenslauf und dergleichen betreffend, und wenn er es ablehnte, sie offen und
rückhaltlos zu beantworten (und ich vermutete allerdings, daß er es »lieber
nicht« tun würde), so wollte ich ihm über das hinaus, was ich ihm schuldig war,
einen Zwanzig-Dollar-Schein geben und ihm erklären, daß ich seiner Dienste
nicht länger bedürfe. Zu jeder anderen Hilfe jedoch, würde ich ihm erklären,
sei ich mit Freuden bereit; vor allem würde ich, wenn er an
seinen Heimatort zurückkehren wollte (wo der auch immer liegen mochte), mich
gern an den Kosten beteiligen. Nicht nur das; auch wenn er nach seiner Heimkehr
irgendwann der Hilfe bedürfe, brauche er mir nur zu schreiben und werde sicher
eine Antwort bekommen.
Der nächste
Morgen kam heran.
»Bartleby«,
sagte ich; ich, rief es, so sanft ich konnte, hinter seinen Wandschirm.
Keine
Antwort.
»Bartleby«,
sagte ich noch sanfter. »Kommen Sie her. Ich werde Ihnen nichts auftragen, was
Sie lieber nicht tun möchten. Ich möchte nur mit Ihnen sprechen.«
Daraufhin
kam er lautlos zum Vorschein.
»Wollen Sie
mir sagen, Bartleby, wo Sie geboren sind?«
»Ich möchte
lieber nicht.«
»Wollen Sie
mir überhaupt Auskunft über sich geben?«
»Ich möchte
lieber nicht.«
»Was haben
Sie denn um Gotteswillen für einen Grund, daß Sie nicht mit mir sprechen
wollen? Ich meine es doch gut mit Ihnen.«
Er schaute
mich nicht an, während ich sprach, sondern hielt seinen Blick auf meine
Cicerobüste geheftet, die sich unmittelbar hinter meinem Stuhl befand, sechs
Zoll hoch über meinem Kopf.
»Was haben
Sie zu antworten, Bartleby?« sagte ich, nachdem ich längere Zeit gewartet
hatte. Sein Antlitz blieb die ganze Zeit regungslos, nur um den weißen,
eingetrockneten Mund bebte es kaum wahrnehmbar.
»Ich möchte
im Augenblick lieber keine Antwort geben«, sagte er und zog sich in seine
Klause zurück.
Ich gebe zu,
es war kein Zeichen meiner Stärke – aber seine Art bei diesem Gespräch
erbitterte mich. Zunächst einmal schien sich darin eine gewisse stille
Nichtachtung zu verbergen; und außerdem wirkte seine Halsstarrigkeit undankbar
auf mich, nach all der unbestreitbar guten Behandlung und Nachsicht, die ihm
von mir zuteil geworden war.
Wieder saß
ich da und grübelte, was zu tun sei. Ich war gekränkt über sein Verhalten und
hatte, als ich ins Büro kam, den festen Entschluß in mir getragen, ihn zu
entlassen – und doch fühlte ich etwas wie bange Ahnung an mein Herz pochen und
mir sagen, ich dürfe keinesfalls meine Absicht ausführen, es wäre ein wahrer
Schurkenstreich, wenn ich auch nur ein bitteres Wort gegen dieses verlassenste
Geschöpf auf Gottes Erde von mir gäbe. Ich schleppte schließlich wie ein guter
Freund meinen Stuhl hinter seinen Wandschirm, setzte mich
zu ihm und sagte: »Bartleby, lassen wir es gut sein – Sie brauchen mir nichts
aus Ihrem Leben zu offenbaren – nur das eine bitte ich Sie, unter Freunden:
fügen Sie sich, soweit als möglich, in die Gepflogenheiten unserer Kanzlei ein.
Sagen Sie nur, daß Sie morgen oder übermorgen auch mitmachen wollen, wenn wir
Manuskripte kollationieren. Ich meine, sagen Sie mir, daß Sie in den nächsten
Tagen anfangen wollen, ein bißchen vernünftig zu sein – sagen Sie mir nur das,
Bartleby!«
»Im
Augenblick möchte ich lieber nicht ein bißchen vernünftig sein«, war seine
geisterhaft milde Antwort.
In diesem
Augenblick öffnete sich die Flügeltür und Beißzange kam herein. Er hatte
offenbar eine ungewöhnlich schlechte Nacht hinter sich; sein Magenleiden hatte
sich wohl schlimmer geäußert als sonst. Er hörte Bartlebys letzte Worte eben
noch mit an.
»Möchte
lieber nicht, he?«, knirschte er. »Dem Möchtenicht würde ich's mal zeigen, wenn
ich Sie wäre, Sir – –« – an mich gewandt – »– ich würde ihm mal zeigen, was
Mögen ist, dem Möchtenicht, dem Maulesel, dem störrischen! Was ist es denn
schon wieder, Sir, bitte schön, was er lieber nicht möchte?«
Bartleby
rührte kein Glied.
»Herr
Nippers«, sagte ich, »ich möchte lieber, Sie zögen sich eine Weile zurück.«
Auf
rätselhafte Weise hatte ich es mir neuerdings angewöhnt, das Wort »möchte
lieber« bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten zu verwenden. Ich
zitterte bei dem Gedanken, daß meine nahe Berührung mit meinem Schreiber mich
womöglich bereits ernstlich geistig geschädigt habe. Zu welchen weiteren und
tieferen Verirrungen mochte es noch kommen? Die Besorgnis davor war nicht ohne
Einwirkung auf meinen Entschluß gewesen, zu summarischen Maßregeln zu greifen.
Beißzange war kaum verschwunden, mit äußerst sauerem und verdrießlichem
Gesicht, als Puter geschmeidig und ergeben seine Aufwartung machte.
»Mit
schuldiger Ehrerbietung, Sir«, sagte er; »ich habe gestern über unseren
Bartleby nachgedacht, und ich möchte meinen, wenn er nur lieber mal täglich ein
Viertel gutes Bier trinken möchte, würde es bald besser mit ihm und er könnte
auch wieder dabei sein, wenn wir seine Papiere kollationieren.«
»So, Sie gebrauchen den Ausdruck also auch schon?«
sagte ich, leise aufgebracht.
»Mit
schuldiger Ehrerbietung, Sir: welchen Ausdruck?«, fragte Puter, indem er sich
respektvollst in den beengten Raum hinter der spanischen Wand drängte, so daß ich
mit Bartleby eng aneinander geriet. »Welchen Ausdruck, Sir?«
»Ich möchte
hier innen lieber allein bleiben«, sagte Bartleby, gleichsam ungehalten
darüber, daß eine Volksmenge sich störend in seine Zurückgezogenheit drängte.
»Da haben
Sie den Ausdruck, Puter«, sagte ich. »Da hören Sie ihn.«
»Achso:
möchte lieber ... – ja, komischer Ausdruck; Kommt bei mir nicht vor. Was ich
sagen wollte, Sir: wenn er nur lieber das Viertel Bier trinken möchte ...«
»Puter«,
unterbrach ich, »ziehen Sie sich bitte zurück!«
»Aber gewiß,
Sir, wenn Sie lieber möchten ...«
Als er die
Flügeltür öffnete und hinausging, fühlte sich Beißzange an seinem Pult zufällig
von meinem Blick getroffen und fragte mich, ob ich ein bestimmtes Schriftstück
auf blauem oder lieber auf weißem Papier abgeschrieben haben möchte. Es lag
beileibe kein arglistiger Ausdruck auf dem Wort »lieber möchte«; ganz offenbar
floß es ihm in aller Unbefangenheit von der Zunge. Bei Gott, dachte ich, ich
muß den Wahnsinnigen loswerden, der mir und meinen Angestellten schon bis zu
einem gewissen Grad die Zunge, wenn nicht gar den Kopf verdreht hat. Doch
schien es mir geraten, die Entlassung nicht auf der Stelle vorzunehmen.
Am nächsten
Tag mußte ich feststellen, daß Bartleby nicht arbeitete, sondern nur den ganzen
Tag am Fenster stand und in seiner träumerischen Art auf die Brandmauer
hinausstarrte. Auf meine Frage, weshalb er nicht schreibe, erklärte er, er habe
sich entschlossen, das Kopieren überhaupt aufzugeben.
»Wie? Was
soll das heißen?« rief ich aus. »Das Kopieren aufgeben?«
»Ganz
richtig.«
»Und aus
welchem Grunde?«
»Sehen Sie
den Grund denn nicht selber?«, erwiderte er gleichgültig.
Ich schaute
ihn von oben bis unten an und bemerkte, daß seine Augen einen trüben, glasigen
Ausdruck hatten. Die Vermutung drängte sich mir auf, daß der beispiellose
Eifer, mit dem er während der ersten Wochen seiner Tätigkeit bei mir am trüben
Fensterchen kopiert hatte, seinem Augenlicht vorübergehend geschadet haben
möchte.
Der Gedanke rührte mich. Ich äußerte einige
teilnehmende Worte und brachte zum Ausdruck, daß es recht getan sei, wenn er
sich nun eine Zeitlang des Kopierens enthielte; er möge, schärfte ich ihm ein,
die Gelegenheit benützen und sich einer gesunden Tätigkeit im Freien zuwenden.
Dies tat er jedoch nicht. Als einige Tage darauf meine anderen Angestellten
abwesend waren und ich Briefe rasch zur Post zu bringen hatte, kam ich auf den
Gedanken, Bartleby werde jetzt, wo er auf Gottes Erdboden nichts weiter zu tun
hatte, weniger unbeugsam sein als sonst und mir die Briefe zum Postamt bringen.
Er schlug es jedoch rundheraus ab. So ungelegen es mir fiel: ich mußte selber
gehen.
Die Tage
kamen und gingen. Ob sich Bartlebys Augen gebessert hatten oder nicht,
vermochte ich nicht zu sagen. Allem Anschein nach ging es ihm besser, doch wenn
ich ihn fragte, wie es mit seinen Augen stehe, ließ er mir keine Antwort zuteil
werden. Schreibarbeiten jedenfalls machte er keine. Als ich wiederholt danach
fragte, erklärte er mir schließlich ausdrücklich, er habe das Kopieren
endgültig aufgegeben.
»Was?«, rief
ich, »gesetzt Ihre Augen werden wieder ganz gut – vielleicht sogar besser als
zuvor – wollen Sie dann trotzdem nicht kopieren?«
»Ich habe
das Kopieren aufgegeben«, antwortete er und glitt von dannen.
Im übrigen blieb
alles beim alten: er war eine stehende Einrichtung in meiner Kanzlei. Oder
vielmehr: er wurde, wenn möglich, immer noch mehr zur stehenden Einrichtung.
Was sollte ich tun? Er leistete keine Arbeit im Büro – warum also blieb er bei
mir? Nüchtern betrachtet, war er allmählich geradezu ein Mühlstein um meinen
Hals: als Zierat nicht zu brauchen und unerquicklich zu tragen. Und dennoch tat
er mir leid. Ich bleibe hinter der Wahrheit zurück, wenn ich sage, daß ich, und
zwar ausschließlich um seinetwillen, eine Art Bedrücktheit empfand. Hätte er
mir nur einen einzigen Verwandten oder Freund namhaft gemacht, so hätte ich
sofort hingeschrieben und veranlaßt, daß man den armen Kerl an irgend einen
geeigneten Zufluchtsort gebracht hätte. Aber er schien allein, durchaus allein
auf der weiten Welt. Ein Wrack mitten auf dem Atlantik. Der Augenblick kam, wo
geschäftliche Rücksichten alle anderen Überlegungen in den Schatten rückten. So
schonend ich konnte, teilte ich Bartleby mit, binnen sechs Tagen müsse er unter
allen Umständen mein Büro verlassen. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß er
in der Zwischenzeit gut daran tue, sich nach einer anderen Bleibe umzusehen.
Bei diesem Unternehmen würde ich ihm gern behilflich sein, wenn er nur
seinerseits den ersten Schritt zum Umzug tue. »Und wenn Sie
mich dann endgültig verlassen, Bartleby«, setzte ich hinzu, »werde ich zusehen,
daß Sie nicht ganz unversorgt von mir gehen. Sechs Tage von diesem Augenblick
an, vergessen Sie es nicht!«
Nach Ablauf
der Frist guckte ich hinter den Wandschirm, und siehe da: Bartleby war zugegen.
Ich knöpfte
mir den Rock bis oben zu und sammelte mich; dann trat ich langsam auf ihn zu,
berührte ihn an der Schulter und sprach: »Die Zeit ist gekommen – Sie müssen
fort von hier. Es tut mir leid für Sie – hier ist Geld – aber Sie müssen jetzt
fort.«
»Ich möchte
lieber nicht«, erwiderte er, immer noch den Rücken mir zugekehrt.
»Sie müssen!«
Er verharrte
in Schweigen.
Ich hatte,
muß man wissen, ein grenzenloses Vertrauen zu Bartlebys grundsätzlicher Ehrlichkeit.
Er hatte mir öfters Sixpence- und Schillingstücke wiedergegeben, die achtlos
auf dem Fußboden verstreut worden waren, denn ich neige in solchen
Kleinigkeiten zur Schlamperei. Die folgende Szene möge also nicht unglaubwürdig
wirken.
»Bartleby«,
sagte ich, »ich bin Ihnen laut Konto zwölf Dollar schuldig. Hier haben Sie
zweiunddreißig – die restlichen zwanzig gehören Ihnen – hier, nehmen Sie doch
bitte!« – damit reichte ich ihm die Geldscheine hin.
Er rührte
sich nicht.
»Ich lasse
das Geld also hier liegen«, sagte ich und schob die Scheine unter einen
Briefbeschwerer auf dem Tisch. Hierauf nahm ich meinen Hut und meinen Stock und
setzte, an der Tür noch einmal ruhig kehrt machend, hinzu: »Wenn Sie Ihre
Sachen hier fortgeschafft haben, Bartleby, verschließen Sie doch bitte die Tür
– es ist ja jetzt außer Ihnen niemand mehr hier. Den Schlüssel schieben Sie
bitte unter den Abstreifer, damit ich ihn morgen früh finde. Wiedersehen werden
wir uns nicht – leben Sie also recht wohl. Und wenn ich Ihnen später, in Ihrer
neuen Unterkunft, von Nutzen sein kann, lassen Sie es mich ungeniert brieflich
wissen. Leben Sie wohl, Bartleby, und viel Glück!«
Er
antwortete kein Sterbenswörtchen. Wie die letzte Säule eines verfallenen
Tempels anzusehen, stand er stumm und einsam in dem sonst so gänzlich kahlen
Raum.
Nachdenklich
ging ich nach Hause, und allmählich gewann meine Eitelkeit das Übergewicht über
mein Mitleid. Ich war doch recht stolz darauf, wie
meisterhaft ich es eingerichtet hatte, Bartleby los zu werden. Ich sage meisterhaft,
und wer die Sache unvoreingenommen überdenkt, muß mir recht geben. Das Schöne
an meinem Vorgehen bestand, wie mir schien, darin, daß es sich völlig ruhig
abgespielt hatte. Es war ohne ordinäres Auftrumpfen meinerseits abgegangen,
ohne Aufschneiderei und gereiztes Herumkommandieren; auch war ich keineswegs
aufgeregt durch die Räume gerast und hatte Bartleby angeherrscht, er möge
seinen lächerlichen Krempel zusammenpacken. Nichts dergleichen. Statt Bartleby
laut und grob zum Gehen aufzufordern – wie ein untergeordneter Geist es
vielleicht getan hätte – machte ich stillschweigend die Voraussetzung, daß er
fort müsse, und baute auf diese Voraussetzung alles auf, was ich ihm zu sagen
hatte. Je länger ich mir mein Verfahren überlegte, desto mehr sagte es mir zu.
Am ändern Morgen allerdings, als ich erwachte, hatte ich meine Zweifel – ich
hatte gewissermaßen die Dünste der Eitelkeit ausgeschlafen. Zu den kühlsten,
besonnensten Augenblicken im Menschenleben gehören ja die Stunden morgens
unmittelbar nach dem Erwachen. Mein Verfahren kam mir scharfsinnig vor wie
zuvor – aber nur in der Theorie. Wie es sich in der Praxis bewähren würde – da
lag der Haken. Es war gewiß ein trefflicher Einfall, Bartlebys Auszug einfach
stillschweigend vorauszusetzen; die Voraussetzung galt aber ausschließlich
meinerseits und ging durchaus nicht von Bartleby aus. Der entscheidende Punkt
lag nicht darin, ob ich annahm, daß er mich verlassen würde, sondern ob es
seinem Belieben entsprach. Er war mehr ein Mensch des Beliebens (»möchte
lieber«) als der stillschweigenden Voraussetzungen.
Nach dem
Frühstück wanderte ich stadtwärts und überlegte mir die Wahrscheinlichkeit des
Für und Wider. Bald kam mir der Gedanke, die Sache werde sich als Schlag ins
Wasser erweisen und Bartleby werde bestimmt in alter Frische in der Kanzlei
anwesend sein; bald war ich durchdrungen davon, daß ich seinen Stuhl leer
finden würde. So schritt ich unschlüssigen Gemüts einher. An der Ecke
Broadway-Canal Street sah ich eine Gruppe erregter Menschen in ernster Unterhaltung
beieinanderstehen.
»Wetten, daß
er's nicht wird!«, sagte jemand, als ich vorbeiging.
»Daß er
nicht gehen wird? – da halt' ich dagegen!«, sagte ich. »Raus mit Ihrem Geld!«
Ich schob
instinktiv die Hand in die Tasche und wollte meinen Einsatz hervorholen, als
mir einfiel, daß wir Wahltag hatten. Die von mir aufgeschnappten Worte bezogen
sich nicht auf Bartleby, sondern auf die Aussichten eines
der Bewerber um das Bürgermeisteramt. Bei meinem gespannten Gemütszustand hatte
ich mir unwillkürlich eingebildet, der ganze Broadway müsse meine Erregung
teilen und sich über dieselbe Frage ereifern wie ich. Ich ging weiter, recht
dankbar, daß der Straßenlärm meine vorübergehende Geistesabwesenheit so gut
beschirmte.
Wie
beabsichtigt war ich früher als sonst vor meiner Kanzlei. Ich lauschte einen
Augenblick. Alles war still. Er mußte fort sein. Ich drehte am Türknopf – die
Tür war versperrt. Ja, mein Verfahren hatte sich wunderbar bewährt – er war
gegangen. In meinen Triumph mischte sich jedoch eine gewisse Schwermut – ich
war beinahe betrübt, daß mir alles so glänzend gelungen war. Ich suchte unter
der Matte nach dem Schlüssel, den Bartleby dort für mich deponiert haben
sollte, und stieß dabei zufällig gegen die Türfüllung, so daß ein Geräusch
entstand wie ein Anklopfen. Sogleich erscholl von innen Antwort: »Noch nicht –
ich bin beschäftigt.«
Es war Bartleby.
Ich war wie
vom Donner gerührt. Einen Augenblick stand ich da wie jener Mann, der, vor
langer Zeit im Staate Virginia an einem wolkenlose Nachmittag, mit der Pfeife
im Mund, vom Wetterleuchten erschlagen wurde. An seinem offenen,
wärmedurchfluteten Fenster traf ihn der Blitz, und er lehnte weiter in den
schläfrigen Nachmittag hinaus, bis jemand ihn anrührte – da fiel er um.
»Nicht
fort!«, sagte ich leise vor mich hin. Abermals gehorchte ich der wunderlichen
Gewalt, die der rätselhafte Schreiber über mich auslebte und der ich, so sehr
es mich verdroß, nicht völlig entgehen konnte, und ging langsam die Treppe
hinunter und auf die Straße hinaus, wo ich, den Häuserblock umwandernd, bei mir
überlegte, was nun in dieser unerhörten Verlegenheit als Nächstes zu geschehen
habe. Mit Körpergewalt konnte ich den Menschen nicht wohl hinauswerfen; ihn
durch Beschimpfungen von dannen zu treiben, schien mir nicht recht angebracht;
die Polizei herbeizurufen, widerstrebte mir ebenfalls; ihm aber seinen makabren
Triumph über mich zu gönnen, – das paßte mir noch weniger in den Kram. Was war
zu tun? – oder, wenn nichts zu tun war, gab es wenigstens eine weitere stille
Voraussetzung, auf die ich mich in der Angelegenheit stützen konnte? In der
Tat: so wie ich bisher vorsorglich angenommen hatte, Bartleby werde gehen, so
konnte ich jetzt, nachträglich betrachtet, die Voraussetzung machen, daß er
bereits gegangen sei. In der rechtmäßigen Anwendung dieser meiner Annahme
konnte ich beeilten Schritts meine Kanzlei betreten und, unter dem Anschein,
als sähe ich Bartleby gar nicht, ihm in den Weg treten, als
wäre er Luft. Wenn ich mich so verhielte, hätte ich zweifellos einen
unverkennbaren Gegenschlag getan. Es war kaum anzunehmen, daß Bartleby der
derart deutlich angewandten Lehre von den stillschweigenden Voraussetzungen
widerstehen konnte. Allein bei näherem Nachdenken schien mir die Wirksamkeit
meines Plans doch recht zweifelhaft. Ich beschloß die Sache noch einmal mit
Bartleby durchzusprechen.
»Bartleby«,
sagte ich beim Betreten der Kanzlei mit einem Ausdruck ruhiger Strenge, »Ich
bin ernstlich ungehalten. Sie enttäuschen mich, Bartleby. Ich hatte Besseres
von Ihnen erwartet. Ich dachte, Sie wären so vornehm veranlagt, daß in einer
delikaten Situation eine bloße Andeutung genügen würde – eine stillschweigende
Voraussetzung. Es scheint aber, ich habe mich da geirrt. Da –« – ich sagte es
mit unwillkürlicher Überraschung – »– Sie haben ja nicht einmal das Geld
angerührt! ...«, und ich deutete auf die Geldscheine, die immer noch da lagen,
wo ich sie am Abend vorher hingelegt hatte.
Er gab keine
Antwort.
»Wollen Sie
nun eigentlich gehen oder nicht?« fragte ich, jählings aufgebracht, und trat
nah an ihn heran.
»Ich möchte
lieber nicht gehen«, erwiderte er, mit einer zarten Betonung auf dem »nicht«.
»Mit welchem
Recht wollen Sie denn aber bleiben? Zahlen Sie hier Miete? Zahlen Sie meine
Steuern? Gehört dieses Büro Ihnen?«
Er gab keine
Antwort.
»Sind Sie
denn wenigstens bereit, wieder für mich zu schreiben? Haben Ihre Augen sich
gebessert? Können Sie heute morgen ein kleines Schriftstück für mich kopieren?
oder ein paar Zeilen kollationieren helfen oder rüber aufs Postamt gehen? Mit
einem Wort: wollen Sie wenigstens irgend etwas tun, damit Ihre Weigerung,
diesen Ort zu verlassen, doch den Anstrich der Vernunft erhält?«
Er schwieg
und wandte sich seiner Klause zu.
Ich war bei
alledem in einen derartigen Zustand der Empfindlichkeit und Erregung geraten,
daß es mir angezeigt schien, mich im Augenblick weiterer Äußerungen zu
enthalten. Ich war mit Bartleby allein, und das tragische Ereignis kam mir in
den Sinn, das sich zwischen dem unglücklichen Adams und dem noch
unglücklicheren Colt in des letzteren einsamer Kanzlei abgespielt hatte: der
arme Colt war von Adams aufs unerträglichste gereizt worden, hatte sich
unvorsichtigerweise seiner Erregung überlassen und war so
unversehens zu einer kopflosen, verhängnisvollen Tat hingerissen worden – einer
Tat, die wahrscheinlich dem Täter selbst am allermeisten leid getan hat. Ich
hatte oft über den Vorfall nachgedacht und war dabei zu der Ansicht gelangt,
daß die Meinungsverschiedenheit, wenn sie auf offener Straße oder in einer
Privatwohnung vor sich gegangen wäre, wohl schwerlich den bekannten
verhängnisvollen Ausgang genommen hätte. Der Umstand aber, daß sie allein in
einem verlassenen Büro waren, im Obergeschoß eines von gesitteten, häuslichen
Schwingungen gänzlich unberührten Gebäudes, – in einem Büro noch dazu ohne
Teppiche, wo alles sicher denkbar verstaubt und wüst aussah – dieser Umstand
hat sicher wesentlich dazu beigetragen, daß der unselige Colt sich noch weiter,
in seine gereizte, verzweifelte Stimmung hineinsteigern ließ.
Als der alte
Adam der Empfindlichkeit denn also in mir hochsteigen und mich in Bartlebys
Sache versuchen wollte, packte ich ihn herzhaft an und brachte ihn zu Fall. Und
wie gelang mir dies? Einfach, indem ich mir Gottes Gebot vor Augen hielt: »Eine
neue Satzung gebe ich euch, daß ihr einer den andern lieben sollt.« Dies
Gotteswort hat mich gerettet. Von allen höheren Überlegungen abgesehen, erweist
sich die Nächstenliebe oft auch als ein höchst weises und vorsichtiges Prinzip:
als ein großer Schutz für den, der sie besitzt. Man hat Morde begangen aus
Eifersucht und aus Zorn, aus Haß und Selbstsucht und aus geistiger Hoffahrt – nie
aber habe ich gehört, daß jemand aus süßer Nächstenliebe einen teuflischen Mord
begangen hätte. Schon die bloße Selbsterhaltung sollte also, wenn kein höheres
Motiv aufgeboten werden kann, die Menschen, und zumal die leicht erregbaren,
zur Nächstenliebe und zur Menschenfreundlichkeit anhalten. Bei der
augenblicklichen Gelegenheit jedenfalls legte ich es darauf an, meine
Erbitterung gegen den Schreiber dadurch zu unterdrücken, daß ich mir sein
Verhalten in einem Geiste des Wohlwollens zurechtlegte. Der arme Kerl, der arme
Kerl, dachte ich – er denkt sich nichts dabei – und außerdem hat er harte
Zeiten erlebt und verdient Nachsicht.
Ich suchte
denn auch alsbald nach einer Beschäftigung, um auf diese Weise meiner verzagten
Stimmung Herr zu werden. Dabei malte ich mir aus, wie Bartleby im Laufe des
Vormittags, wenn es ihm gelegen wäre, freiwillig aus seiner Einsiedelei
hervorkommen und einen entschlossenen Kurs in Richtung auf die Tür einschlagen
würde. Aber nein. Es wurde halbeins; Puters Gesicht begann zu erglühen, er warf
das Tintenfaß um und wurde auch sonst laut und unangenehm;
Beißzange flaute ab zu Ruhe und Höflichkeit; Pfeffernuß kaute an seinem
Mittagsapfel – und Bartleby stand am Fenster, in seine tiefste
Brandmauer-Träumerei versunken. Wird man es mir glauben? Und soll ich es
bekennen? An jenem Nachmittag verließ ich die Kanzlei, ohne auch nur noch ein
weiteres Wort an ihn zu richten.
Einige Tage
vergingen, während deren ich ab und zu, wie sich die Gelegenheit bot, in zwei
Büchern schmökerte: »Über den Willen« von Edwards und »Über die Notwendigkeit«
von Priestley. In meiner Lage boten mir diese Bücher einen heilsamen Eindruck.
Allmählich gewöhnte ich mich an die Überzeugung, daß meine Anfechtungen mit
meinem Schreiber mir von Ewigkeit her zugemessen waren und daß Bartleby aus
rätselhaften Gründen von einer allweisen Vorsehung, die ein geringer Erdenwurm
wie ich nicht zu ergründen vermochte, bei mir einquartiert sei. Ja, Bartleby,
bleib du nur hinter deinem Wandschirm, dachte ich mir. Ich werde dich nicht
mehr verfolgen; du bist harmlos und still wie einer von den alten Stühlen hier
– ich muß auch sagen, mir ist nie so traulich zumut wie wenn ich weiß, daß du
hier bist. Jetzt endlich seh ich's und weiß es: ich dringe ein in den
vorbestimmten Zweck meines Daseins. Ich bin zufrieden. Andere mögen erhabenere
Rollen zu spielen haben; meine Aufgabe auf dieser Welt besteht darin, daß ich
dich, Bartleby, mit Kanzleiraum versehe, so lang es dir belieben mag, bei mir
zu bleiben.
Ich glaube,
diese weise und gesegnete Gemütsverfassung wäre mir erhalten geblieben, wenn
mir nicht meine Geschäftsfreunde, wenn sie mein Büro besuchten, mit ihren
ungebetenen und unbarmherzigen Bemerkungen in die Parade gefahren wären. So
geht es ja oft; der stete Tropfen engherziger Gesinnungen höhlt schließlich den
Stein der besten und großmütigsten Entschlüsse. Es war ja allerdings, wenn
ich's recht überlege, nicht weiter erstaunlich, daß die Besucher meiner Kanzlei
vom wunderlichen Anblick des unerklärlichen Bartleby einigermaßen betroffen
waren und sich zu abschätzigen Bemerkungen über ihn veranlaßt sahen. So kam es
wohl vor, daß ein Anwalt, der geschäftlich mit mir zu tun hatte und bei mir
vorsprach, dort nur meinen Schreiber antraf und sich von ihm genauer
auseinandersetzen lassen wollte, wo ich zu finden sei. Bartleby jedoch achtete
überhaupt nicht auf des Besuchers müßiges Gerede, sondern blieb unbeweglich
mitten im Zimmer stehen. Dem Anwalt blieb nichts anderes übrig als sich den
Mann eine Weile anzusehen und dann von dannen zu gehen, nicht klüger als zuvor.
Oder es war eine Zeugenvernehmung im Gang, der Raum
war voll von Rechtsanwälten und Zeugen, und die Geschäfte drängten; dann
entdeckte vielleicht einer von den anwesenden, tief beschäftigten Advokaten den
so gänzlich untätigen Bartleby und ersuchte ihn, er möge doch rasch in seine
(des Advokaten) Kanzlei hinübergehen und dies oder jenes Schriftstück für ihn
holen. Die Folge war, daß Bartleby gelassen ablehnte, jedoch ebenso müßig blieb
wie vorher. Der Rechtsanwalt machte dann gewöhnlich ein langes Gesicht und
wandte sich an mich. Was konnte ich ihm aber sagen? Mit der Zeit mußte ich mir
eingestehen, daß überall im Kreise meiner Geschäftsfreunde geflüstert und
getuschelt wurde, was ich da für eine seltsame Kreatur in meiner Kanzlei beherbergte.
Das war für mich doch sehr quälend und unangenehm. Der Gedanke dämmerte in mir
auf, daß Bartleby womöglich uralt werden, in alle Ewigkeit meine Kanzlei
bewohnen und meine Autorität in Frage stellen könnte. Er würde meine Besucher
erschrecken und auf meinen geschäftlichen Ruf ein übles Licht werfen; er würde
als eine Art Spuk meines Geschäftslokals gelten; würde dabei bis zum Schluß mit
seinen Ersparnissen Leib und Seele zusammenhalten (denn was brauchte er schon?
noch keine fünf Cent am Tag!) und mich womöglich noch überleben und mit dem
Rechte seiner beständigen Anwesenheit Ansprüche auf meine Kanzlei erheben.
Diese und andere düsteren Ahnungen bedrängten mich mehr und mehr, und dazu
kamen meine Freunde mit ihren unablässigen, unbarmherzigen Bemerkungen über die
Erscheinung in meinem Büro – kurz, es kam in mir zu einer großen Wandlung. Ich
beschloß alle Kraft zusammenzunehmen und mich ein für allemal von dem
unerträglichen Alp zu befreien.
Bevor ich
mir indessen irgendwelche umständlichen Pläne zu diesem Zweck zurechtlegte,
legte ich Bartleby noch einmal nahe, das Schickliche zu tun und endgültig
abzureisen. In ruhigem, ernstem Ton empfahl ich meinen Vorschlag seiner
sorgfältigen und reiflichen Überlegung. Er nahm sich drei Tage Bedenkzeit und
benachrichtigte mich dann, sein ursprünglicher Entschluß bestehe nach wie vor:
er möchte, kurz gesagt, lieber bei mir wohnen bleiben.
Was soll ich
tun? sagte ich nun zu mir selbst und knöpfte meinen Rock bis zum obersten Knopf
zu. Was soll ich tun? Was tut man in dieser Lage? Was rät mir mein Gewissen,
mit diesem Menschen, diesem Gespenst zu beginnen? Loswerden muß ich ihn; gehen
soll er mir. Aber wie? Du wirst ihn doch nicht, den armen, blassen, niemandem
ein Haar krümmenden Menschen – du wirst ihn doch nicht in seiner Hilflosigkeit einfach zur Tür hinaus werfen? Du wirst dir doch nicht die
Schande einer solchen Grausamkeit antun? Nein, das will ich nicht, das kann ich
nicht. Lieber laß ich ihn schon hier leben und sterben und maure seine
Überreste in die Hauswand ein. Gut, was willst du also tun? Wenn du ihm auch
noch so süß zuredest, er rührt sich nicht vom Fleck. Bestechungsgeld läßt er
einfach unter deinem Briefbeschwerer auf dem Schreibtisch liegen. Mit einem
Wort: ganz offensichtlich möchte er lieber hier bei dir hängen bleiben.
Also muß
etwas Durchschlagendes, etwas Ausgefallenes geschehen. Aber was? Du willst ihm
doch sicher nicht den Wachtmeister auf den Hals hetzen und dieses bleiche
Unschuldsgebilde kurzerhand ins Kittchen bringen? Außerdem: aus welchem Grunde
könntest du dergleichen überhaupt bewirken? – Ein Landstreicher, ist er das?
Wie – er ein Landstreicher, ein Herumwanderer – er, der sich überhaupt nicht
von der Stelle rührt? Weil er kein Landstreicher sein möchte, willst du ihn als
Landstreicher anschwärzen! – Das ist doch zu unsinnig! Keine nachweisbaren
Unterhaltsmittel – da habe ich ihn! Nein, wieder falsch: denn zweifellos
unterhält er sich, und das ist der einzige unanfechtbare Beweis, daß man die
Mittel dazu besitzt. Nichts weiter also. Da er mich nicht verlassen will, muß
ich ihn verlassen. Ich wechsle meine Kanzlei; ich ziehe woanders hin und lasse
ihn wissen, daß ich ihn bei einem Betreten meines neuen Lokals als unbefugten
Eindringling gerichtlich belange.
Diesem
Vorsatz gehorchend sprach ich meinen Bartleby anderen Tages folgendermaßen an:
»Meine Kanzlei liegt mir doch zu weit vom Rathaus entfernt; außerdem ist die
Luft unbekömmlich. Kurz und gut, ich beabsichtige, nächste Woche mein Büro zu
verlegen, und werde Ihre Dienste nicht länger benötigen. Ich sage es Ihnen
schon heute, damit Sie sich einen anderen Posten suchen können.«
Er gab keine
Antwort und wir sprachen nicht länger darüber.
Am
festgesetzten Tage mietete ich Wagen und Arbeiter, fuhr zur Kanzlei und hatte,
da mir wenig Einrichtungsgegenstände vorhanden waren, den Umzug in einigen
Stunden hinter mich gebracht. Mein Schreiber blieb, während der ganzen Zeit
hinter seiner spanischen Wand stehen, die ich wohlweislich als letzten
Gegenstand entfernen ließ. Endlich kam auch sie an die Reihe; sie wurde
zusammengefaltet wie ein riesiger Foliant, und der hinter ihr stehende blieb
als regungsloser Bewohner in einem kahlen Raum zurück. Ich stand noch unter der
Tür und betrachtete ihn einen Augenblick, während eine Art innerer Vorwurf in
mir emporkroch. Ich trat noch einmal ein, die Hand in der
Tasche – und, ich muß es gestehen, in atemloser Spannung.
»Leben Sie
wohl, Bartleby, ich gehe jetzt – leben Sie wohl, und Gott segne Sie, so gut es
geht. Hier, nehmen Sie –« ich schob ihm etwas in die Hand, aber es fiel zu
Boden – und da – seltsam zu sagen – riß ich mich schier mit Gewalt von ihm, den
loszuwerden ich mich so gesehnt hatte.
Als ich in
meiner neuen Kanzlei eingerichtet war, hielt ich erst einmal einige Tage die
Tür verschlossen und fuhr bei jedem Schrittegeräusch auf den Gängen zusammen.
Kam ich nach kurzer Abwesenheit ins Büro zurück, so hielt ich auf der Schwelle
einen Augenblick inne und lauschte erst angestrengt, ehe ich meinen Schlüssel
ins Schlüsselloch schob. Meine Furcht war jedoch unnütz. Bartleby nahte sich
mir nicht.
Ich dachte
schon, alles ginge gut, als mich ein verstört aussehender Herr aufsuchte und
wissen wollte, ob ich der Mann sei, der bis vor kurzem Kanzleiräume in der Wall
Street Nr. ... innegehabt hatte.
Voll böser
Ahnungen sagte ich, ja, der sei ich.
»Dann, Sir«,
sagte der Fremde, der sich als Rechtsanwalt zu erkennen gab, »sind Sie für den
Mann verantwortlich, den Sie dort zurückgelassen haben. Er will keine
Kopierarbeit machen, er will überhaupt nichts tun; er sagt nur immer, er möchte
lieber nicht, und das Lokal zu verlassen, weigert er sich auch.«
»Ich bedaure
unendlich, Sir«, sagte ich mit angenommener Ruhe, innerlich aber zitternd und
zagend, »aber der Mann, von dem Sie sprechen, geht mich nichts an. Er ist weder
mit mir verwandt noch steht er bei mir in Dienst – ich wüßte also nicht,
inwiefern ich für ihn verantwortlich sein sollte.«
»Aber in
Gottes Namen: wer ist denn der Mann?«
»Ich kann
Ihnen leider keine Auskunft geben. Ich weiß nichts von ihm. Ich habe ihn eine
Zeitlang als Kopisten beschäftigt, er hat aber schon eine ganze Weile nicht
mehr für mich gearbeitet.«
»Dann werde
ich also selbst die Sache mit ihm ins reine bringen – guten Morgen, Sir.«
Mehrere Tage
vergingen, und ich hörte nichts mehr. Mehr als einmal empfand ich eine
barmherzige Regung, die mich anhalten wollte, in meiner alten Kanzlei
vorzusprechen und den armen Bartleby zu besuchen, aber eine gewisse Scheu, ich
weiß nicht wovor, hielt mich zurück.
Die Sache
ist ja inzwischen doch vorüber, dachte ich mir, als mich eine weitere Woche
hindurch keine neue Nachricht erreichte. Aber schon am Tage
darauf fand ich beim Eintreffen in meinem Büro mehrere aufs höchste empörte
Menschen vor meiner Tür warten.
»Das ist er
– da kommt er!« rief der Vorderste von ihnen. Ich erkannte ihn: es war der
Rechtsanwalt, der mich damals allein aufgesucht hatte.
»Sie müssen
ihn auf der Stelle wegholen, Sir«, rief ein wohlbeleibter Mensch und trat auf
mich zu. Auch ihn kannte ich: es war der Hausherr von Wall Street Nr. ...
»Diese Herren, meine Mieter, halten es nicht länger aus. Herr B. –« er deutete
auf den Rechtsanwalt, »hat ihn aus der Kanzlei gewiesen, nun treibt er sich
überall im Hause herum, sitzt bei Tag auf dem Treppengeländer und schläft
nachts unter der Tür. Das ist für alle Beteiligten lästig; die Kundschaft fängt
schon an, die Kanzleien zu meiden, und manche fürchten, es entwickelt sich ein
öffentlicher Skandal daraus. Sie müssen unbedingt etwas unternehmen, und zwar
unverzüglich.«
Ich war
schreckensstarr über diesen Sturzbach und hätte mich in meines nichts
durchbohrendem Gefühl am liebsten in meinem neuen Büro eingeschlossen.
Vergeblich berief ich mich darauf, daß Bartleby mich nichts angehe – nicht mehr
als irgend jemanden sonst. Vergeblich: ich war der letzte, von dem man wußte,
daß er mit ihm zu schaffen gehabt hatte, und sie hielten sich an mir schadlos.
Gepeinigt von dem Gedanken, man könne mich in der Presse bloßstellen (denn das
hatte einer der Anwesenden in dunklen Andeutungen angedroht), überlegte ich hin
und her und erklärte schließlich, wenn mir der Rechtsanwalt in seinem Büro
Gelegenheit zu einer vertraulichen Besprechung mit dem Schreiber gebe, wollte
ich noch desselbigen Nachmittags nach besten Kräften versuchen, die
Herrschaften von der mir geschilderten Plage zu befreien.
Als ich zu
meinem alten Quartier hinaufstieg, fand ich Bartleby still auf dem
Treppengeländer sitzen, da, wo die Treppe einen Absatz machte,
»Was tun Sie
hier, Bartleby?« sagte ich.
»Ich sitze
auf dem Treppengeländer«, erwiderte er milde.
Ich winkte
ihm, mir in das Anwaltsbüro zu folgen; dort ließ man uns allein.
»Bartleby«,
sagte ich, »ist es Ihnen bekannt, daß Sie den Anlaß zu mir sehr beschwerlichen
Mißverständnissen geben, indem Sie sich hartnäckig hier im Hauseingang
herumtreiben, nachdem man Sie aus dem Büro hinausgewiesen hat?«
Keine
Antwort.
»Es muß
jetzt eines oder das andere geschehen. Entweder Sie fassen einen Entschluß oder
er wird über Ihren Kopf weg gefaßt. In was für einem
Berufszweig würden Sie sich gern betätigen? Möchten Sie wieder für jemanden
Abschreibearbeiten machen?«
»Nein, ich
möchte mich lieber nicht verändern.«
»Würde Ihnen
ein Posten als Kommis in einem Kurzwarengeschäft zusagen?«
»Da ist man
zu sehr an einen Fleck gebunden. Nein, ein Posten als Kommis sagt mir nicht zu
– ich bin aber nicht wählerisch.«
»Zu sehr an
einen Fleck gebunden«, rief ich. »Sie binden sich ja selber an einen Fleck!«
»Nein, einen
Posten als Kommis möchte ich lieber nicht annehmen«, versetzte er, als wolle er
diesen bescheidenen Punkt sofort geklärt wissen.
»Und wie
wäre es mit einem Posten als Schenkkellner? Dabei strengt man die Augen nicht
an.«
»Das würde
mir in keiner Weise zusagen – obwohl ich, wie gesagt, nicht wählerisch bin.«
Seine
ungewohnte Gesprächigkeit ermutigte mich. Ich versuchte von neuem mein Heil.
»Na schön –
vielleicht möchten Sie im Land herumreisen und für Kaufleute Rechnungen
einziehen? Das käme Ihrer Gesundheit zustatten.«
»Nein, ich
möchte lieber etwas anderes tun.«
»Aha – und
als Reisebegleiter nach Europa fahren, einen jungen Herrn gesellschaftlich
unterhalten – wie würde Ihnen das passen?«
»Sehr
schlecht. Für mein Gefühl ist da gar nichts Dauerndes dabei. Ich möchte gern
seßhaft werden. Aber ich bin nicht wählerisch.«
»So,
seßhaft? Na, seßhaft sollen Sie also werden!« schrie ich ihn an, denn ich
verlor nun alle Geduld und geriet zum erstenmal, seit ich diese auf die Nerven
gehende Bekanntschaft unterhielt, in eine wirkliche Wut. »Wenn Sie nicht bis
heute abend dieses Grundstück verlassen, sehe ich mich veranlaßt – und nicht
nur veranlaßt, sondern verpflichtet – das – das Grundstück selbst zu verlassen
...« Ich kam zu diesem etwas sinnlosen Schluß, weil ich nicht wußte, mit
welcher Drohung es mir gelingen möchte, den unbeweglichen Gesellen hinlänglich
zur Raison zu bringen. Jede weitere Bemühung schien mir unnütz, und ich wollte
schon davonstürzen, als mir ein letzter Einfall kam – ein Einfall, mit dem ich
auch vorher schon zuweilen geliebäugelt hatte.
»Bartleby«,
sagte ich, so freundlich ich es in meiner gegenwärtigen Erregung vermochte,
»wollen Sie mit mir nach Hause kommen – nicht in mein Büro, sondern zu mir in
meine Wohnung? Und bei mir bleiben, bis wir uns in aller
Ruhe und Gemütlichkeit auf einen passenden Ausweg geeinigt haben? Kommen Sie,
wir wollen gleich zusammen losziehen!«
»Nein, im
Augenblick möchte ich mich lieber überhaupt nicht verändern.«
Ich gab
keine Antwort mehr. In jäher, rascher Flucht, die mich denn auch vor jeder
Begegnung bewahrte, stürzte ich auf die Straße hinaus, lief die Wall Street
hinauf nach dem Broadway und sprang dort in den ersten Omnibus, der mich bald
jeder Verfolgung entzog. Sobald mir die ruhige Besinnung wiederkehrte, konnte
ich mir in voller Deutlichkeit sagen, daß ich das Menschenmögliche getan hatte,
sowohl mit Rücksicht auf die Forderungen des Hausherrn und seiner Mieter, wie
auch im Hinblick auf meinen Wunsch und mein Pflichtgefühl, die mich drängten,
Bartleby Gutes zu tun und ihn vor roher Verfolgung zu bewahren. Ganz bewußt
strebte ich nun nach einer Gemütsstimmung der Ausgeglichenheit und
Sorglosigkeit, und mein Gewissen gab mir darin recht – aber freilich, ganz so
wie ich wollte, gelang mir der Versuch nicht. Meine Furcht, der aufs äußerste
gereizte Hausherr und seine ergrimmten Mieter könnten mir aufs neue auf den
Hals kommen, war so groß, daß ich Beißzange für einige Tage mit der Führung des
Geschäfts beauftragte und in meinem Kütschchen in die obere Stadt und in die
Vororte hinausfuhr. Auch nach Jersey City und Hoboken setzte ich über und
stattete Manhattanville und Astoria flüchtige Besuche ab. Ich lebte während
dieser Zeit geradezu in meiner Kutsche.
Als ich
wieder in die Kanzlei kam, lag denn auch tatsächlich ein Brief von dem
Hausherrn auf meinem Pult. Ich öffnete ihn mit zitternder Hand. Mir wurde
mitgeteilt, der Absender habe nach der Polizei geschickt und Bartleby als
Landstreicher in die sogenannten Gräber einliefern lassen. Da ich besser über
ihn Bescheid wisse als sonst jemand, ersuche er mich, dort vorzusprechen und
den Hergang in zweckmäßiger Weise zu Protokoll zu geben. Die Nachricht machte
auf mich einen zwiespältigen Eindruck. Zuerst war ich empört; schließlich aber
empfand ich doch so etwas wie Zustimmung. Indem der Hausherr derart energisch
durchgegriffen hatte, war er auf einen Ausweg verfallen, zu dem ich mich
höchstwahrscheinlich nicht entschlossen hätte. Andererseits war es, unter
diesen eigentümlichen Umständen, das einzig mögliche letzte Auskunftsmittel.
Wie ich
später erfuhr, erhob der arme Schreiber bei der Nachricht, er werde nach den
Gräbern abgeführt, nicht den mindesten Widerstand, sondern ließ
in seiner bläßlichen, regungslosen Weise alles ruhig mit sich geschehen.
Von Mitleid
oder Neugier getrieben schlossen sich etliche von den Zuschauern dem Zuge an,
und so schob sich denn – an der Spitze ein Polizist Arm in Arm mit Bartleby –
eine schweigende kleine Prozession durch den Lärm, die Hitze und die vergnügte
Betriebsamkeit der mittäglichen Verkehrsadern.
Am gleichen
Tag noch, an dem ich den Brief erhalten, begab ich mich nach den Gräbern oder,
um mich korrekter auszudrücken, nach der Strafanstalt. Ich fragte mich zum
zuständigen Beamten durch, setzte ihm den Zweck meines Kommens auseinander und
erfuhr, die von mir beschriebene Person befinde sich allerdings im Hause. Ich
versicherte dem Beamten, Bartleby sei ein durchaus redlicher Mensch und
verdiene großes Mitleid – er sei nur in einer ganz unerklärlichen Weise
überspannt. Ich erzählte, was ich von ihm wußte, und regte schließlich an, man
möge ihn in einer tunlichst gelinden Haft im Hause behalten, bis sich eine
Möglichkeit zu noch versöhnlicherem Verfahren biete – wiewohl ich nicht recht
wußte, was sich da bieten sollte. Für den Fall, daß man zu keinem Entschluß
gelangte, mußte ihn das Armenhaus aufnehmen. Zum Schluß bat ich um die
Erlaubnis, ihn zu sprechen.
Da er keines
groben Vergehens bezichtigt war und sich in jeder Weise still und harmlos
verhielt, hatte man ihm gestattet, sich frei innerhalb des Gefängnisses zu
bewegen und sich besonders in den eingefriedeten, grasbewachsenen Höfen
aufzuhalten. Da fand ich ihn denn, allein in dem stillsten von den Höfen, das
Gesicht einer hohen Mauer zugekehrt, während ringsum, so mußte ich denken, aus
den engen Schlitzen der Zellenfenster die Blicke von Mördern und Dieben nach
ihm ausspähten.
»Bartleby!«
»Ich kenne
Sie«, sagte er, ohne umzublicken, »und ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
»Ich war es
nicht, der Sie hierher gebracht hat, Bartleby«, sagte ich, schmerzlich
betroffen von dem in seinen Worten angedeuteten Verdacht. »Sie sollten auch
nicht so bitter von Ihrem Aufenthalt hier denken. Es hat nichts Ehrenrühriges,
daß Sie hier sind. Sie sehen ja auch, es ist kein so trauriger Platz, wie man
meinen sollte. Schauen Sie, da ist der Himmel, und da das Gras ....«
»Ich weiß,
wo ich bin«, erwiderte er. Mehr war nicht aus ihm herauszubringen, und ich
verließ ihn.
Als ich wieder auf den Gefängnisgang kam, sprach mich
ein breiter, wie ein Stück Fleisch aussehender Mensch mit einer Schürze an. Er
schlenkerte den Daumen über die Schulter und fragte: »Ist das ein Freund von
Ihnen?«
»Ja.«
»Will der
verhungern? Dann brauchen Sie ihn nur auf Gefängniskost zu setzen – das
genügt.«
»Wer sind
Sie?« fragte ich. Ich wußte nicht recht, was ich aus einem so wenig amtlich
redenden Gesellen an diesem Ort machen sollte.
»Ich bin der
Mann mit dem Essen. Die Herrschaften, die Freunde hier sitzen haben, stellen
mich an, damit sie etwas Gutes zu futtern bekommen.«
»Ist das
so?« fragte ich, an den Beschließer gewandt.
Er sagte, es
stimme.
»Na schön«,
sagte ich und ließ dem Essensmann (denn so nannte man ihn) etwas Silbergeld in
die Hand gleiten, »ich möchte, daß Sie auf meinen Freund besonders achtgeben.
Besorgen Sie ihm das beste Essen, das Sie auftreiben können. Und dann: seien
Sie immer recht höflich zu ihm.«
»Stellen Sie
mich doch bitte vor«, sagte der Essensmann und schaute mich mit einem Ausdruck
an, der mir zu bedeuten schien, er sei ganz Ungeduld und wünsche sich dringend
eine Gelegenheit, seiner guten Erziehung die Zügel schießen zu lassen.
In der
Erwartung, es werde für den Schreiber von Vorteil sein, erklärte ich mich
einverstanden. Ich bat den Essensman um seinen Namen und ging mit ihm zu
Bartleby hinaus.
»Bartleby,
da ist ein Mann, der es gut meint. Er wird Ihnen manches nützen können.«
»Ihr Diener,
Sir, Ihr Diener«, sagte der Essensmann und machte hinter seiner Schürze eine
tiefe Verbeugung. »Hoffentlich sagt es Ihnen zu hier, Sir? gepflegtes
Grundstück – kühle Wohnräume – hoffentlich bleibt der Herr eine Weile bei uns –
alles tun, daß Sie sich behaglich fühlen. Was möchten Sie heute zum Essen
haben?«
»Ich möchte
heute lieber nicht essen«, sagte Bartleby und wandte sich zum Gehen. »Es würde
mir nicht bekommen – ich bin an Mahlzeiten nicht gewöhnt.« Mit diesen Worten
entfernte er sich langsam nach der anderen Seite des Hofes und stellte sich vor
einer kahlen Mauer auf.
»Nanu?« sagte der Essensmann, mit einem erstaunten
Blick an mich gewandt. »Der ist wohl komisch, was?«
»Ich glaube,
er ist ein bißchen gestört«, sagte ich traurig.
»Gestört?
Gestört also? Wissen Sie, Ehrenwort, wenn Sie mich gefragt hätten, ich hätt'n
für einen von den Herren Falschmünzers gehalten. Die sind immer so bleich und
wohlerzogen, die Falschmünzers. Mir tun sie immer leid, Sir, weiß Gott, mir tun
sie immer leid. Haben Sie Monroe Edwards gekannt?« fragte er eindringlich und
wartete, daß ich antworten sollte. Er legte seine Hand mit einem wehleidigen
Ausdruck auf meine Schulter und seufzte: »Er ist in Sing-Sing gestorben, an der
Schwindsucht. Sie haben ihn also nicht gekannt, den Monroe?«
»Nein, ich
habe nie in Falschmünzerkreisen verkehrt. Aber ich kann mich leider nicht
länger aufhalten. Kümmern Sie sich um meinen Freund da drüben. Es soll Ihr
Schade nicht sein. Auf Wiedersehen.«
Einige Tage
später erhielt ich abermals Zutritt zu den Gräbern und lief durch die Gänge auf
der Suche nach Bartleby. Ich konnte ihn aber nicht finden.
»Es ist noch
nicht lang her, da hab ich ihn aus seiner Zelle kommen sehen«, sagte ein
Wärter. »Vielleicht ist er auf den Hof hinaus und macht sich Bewegung.«
Ich wandte
mich der angegebenen Richtung zu.
»Suchen Sie
nach dem Stillen?« sagte ein anderer Wärter, an dem ich vorüberkam. »Draußen
liegt er – schläft da draußen im Hof. Vor 'ner Viertelstunde hab ich gesehen,
wie er sich niederlegte.«
Im Hof
herrschte völlige Stille. Die gemeinen Sträflinge durften nicht hinein. Die
Mauern ringsum, erstaunlich dick gebaut, hielten jeden Laut ab. Die gleichsam
ägyptische Architektur lastete düster auf mir. Unter meinen Füßen aber sproß
ein weicher, hier eingefangener Rasen, Man war hier wie im Herzen der uralten
Pyramiden, wo kraft seltsamer Magie, von Vögeln vertragen, durch die Ritzen
Grassamen eingedrungen war und aufgegangen.
Seltsam
zusammengesunken zu Füßen der Mauer, die Knie angezogen, auf der Seite liegend,
den Kopf auf den kalten Steinen – so fand ich ihn liegen, den verkommenen
Bartleby. Nichts rührte sich. Ich wartete; dann trat ich nahe hinzu, beugte
mich über ihn und sah, daß seine trüben Augen offen standen; im übrigen schien
er tief in Schlaf versunken. Es trieb mich, ihn anzufassen. Ich fühlte seine
Hand – da lief ein prickelnder Schauder meinen Arm empor, mein
Rückgrat entlang, bis hinab zu meinen Füßen.
Das runde
Gesicht des Essensmanns blickte auf mich herab. »Sein Essen ist fertig. Will er
heut wieder nicht essen? Oder lebt er ohne Essen?«
»Lebt ohne
zu essen«, sagte ich und drückte ihm die Augen zu.
»He? – Der
schläft doch, was?«
»Mit Königen
und Ratsherren«, sagte ich leise.
Eigentlich
ist dieser Geschichte kaum noch etwas hinzuzufügen. Mit einiger Phantasie kann
man sich die Schilderung von der Beerdigung des armen Bartleby leicht selber
ergänzen. Doch möchte ich, bevor ich mich vom Leser trenne, gern noch das eine
sagen: sollte ihn die kleine Erzählung hinlänglich gefesselt haben, so daß er
etwa wissen möchte, wer Bartleby war, und welches Leben er vor seinem Eintritt
in den Bekanntenkreis des Erzählers geführt haben mag, so kann ich nur
erwidern, daß ich diese Wißbegierde vollauf teile, aber leider durchaus nicht
zu stillen in der Lage bin. Ich weiß auch nicht recht, ob ich hier eine
unbeträchtliche Nachricht mitteilen soll, die mir einige Monate nach dem
Hinscheiden meines Schreibers gerüchtweise zu Ohren gekommen ist. Worauf sie
sich gründete, konnte ich niemals in Erfahrung bringen; kann also auch nicht
sagen, wie weit ihr zu glauben ist. Immerhin, für mich ist der äußerst
unbestimmte Bericht von einem gewissen anregenden Interesse gewesen, so traurig
er auch klang, und so mag es anderen ähnlich ergehen – ich erwähne ihn daher
hier in aller Kürze. Er lautete so: Bartleby habe einen untergeordneten
Schreiberposten im Amt für unbestellbare Briefe in Washington innegehabt und
sei dort infolge eines Wechsels in der Verwaltung plötzlich entlassen worden.
Wenn ich über dieses Gerücht nachdenke, überfallen mich immer unaussprechliche
Empfindungen. Unbestellbare Briefe! – Haben sie nicht etwas von Gestorbenen? Man
stelle sich einen Menschen vor, den schon Natur und Schicksalsungunst für eine
fahle Hoffnungslosigkeit vorbestimmen – kann es für einen solchen Menschen
einen geeigneteren Beruf geben als den beständigen Umgang mit den
unbestellbaren Briefen, den Briefen, die er für den Flammentod sortieren muß?
Denn ganze Wagenladungen solcher Briefe werden alljährlich verbrannt. Manchmal
entnimmt der blasse Beamte dem zusammengefalteten Papier einen Ring – der
Finger, für den er bestimmt war, modert vielleicht schon im Grab; oder eine
Banknote, die Botin rascher Hilfsbereitschaft – aber der, dem sie Hilfe bringen
sollte, weiß nichts mehr von Essen und von Hunger nichts.
Verzeihung denen, die verzweifelnd starben; Hoffnung denen, die hinübergingen
ohne Hoffnung; gute Nachricht denen, die gestorben sind unterm Würgegriff der
ungelinderten Not. Briefe, um des Lebens willen abgesandt, eilen sie dem Tod
entgegen.
Ja,
Bartleby! Ja, Menschentum!