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Hans Thill: Ratgeber für Zeugleute

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Michael Braun

Das heiße Fleisch der Wörter
Hans Thill und sein „Ratgeber für Zeugleute“

Die stärkste Triebfeder der neuen Poesie, hat einst der Surrealist Guillaume Apollinaire behauptet, ist die Überraschung. Wer sich an die Übereinkünfte der geläufigen Sprachordnung hält, an die herkömmliche Grammatik der Poesie mit ihren vorhersehbaren Motiven und Metaphoriken, ist aus dieser Perspektive als Dichter schon verloren. Der Heidelberger Lyriker und Übersetzer Hans Thill, der sich bereits in seinem ersten Gedichtband „Gelächter Sirenen“ (1985) als enthusiastischer Fürsprecher der surrealistischen Bewegung zu erkennen gab, hat aus Apollinaires Credo schon früh die Konsequenzen gezogen. Thill favorisiert eine Gedichtsprache, die sich einer Poetik der Überraschung verpflichtet sieht, jeder Konvention eine Nase dreht, alle Forderungen nach Kohärenz unterläuft und stattdessen ins Offene, Ungesicherte ausbricht, sobald sich eine Gelegenheit dazu bietet. In einer Poetikvorlesung in Mainz bekannte er sich 2013 zu einem sprunghaften poetischen Schreiben „mit ungewissem Ausgang“, ein nervöser Scout der Wörter, der auch den sprachlichen Zufallsfund in eine kühne Verszeile integriert und immer wieder neue Haken schlägt: „Der Rhapsode in mir rät: schön unregelmäßig schreiben! Damit bin ich auf der Höhe der Zeit, die Formen verbraucht, ohne mich um Erlaubnis zu fragen.“

Sein neuer Gedichtband „Ratgeber für Zeugleute“ bildet nun den flirrenden Auftakt zu Ulf Stolterfohts listenreicher „Brueterich Press“. Bereits vor 12 Jahren hatte Stolterfoht in einem „Zwischen den Zeilen“-Heft elf „Widerstandsnester“ renitenter Poesie angelegt. Hans Thill bekannte sich darin zu den „schönen krummen Sätzen der Moderne“ und zu seinen surrealistischen Gewährsleuten Apollinaire, Breton, Soupault und Quéneau. Als ein Alter Ego des Autors wird im „Ratgeber für Zeugleute“ nun „Hans Harfe“ eingeführt, eine wörtliche Übersetzung des Namens Jean Arp. Von Raymond Quéneau wiederum adoptiert Thill das Verlangen, „das heiße Fleisch der Wörter“ in allen nur erdenklichen Spielarten auszukosten.

Der „Ratgeber für Zeugleute“ geht aber in seinen sieben Zyklen sehr unterschiedliche Wege, die nur auf den ersten Blick als Variationen surrealistischer Poetik zu beschreiben sind. Allenfalls der erste Zyklus „Aus dem Babylonischen“ ist als Fortschreibung der ästhetischen Programme von Hans Arp und Hugo Ball zu lesen, eine „Fischpredigt“, die auf die Verflüssigung der Sprache und des Körpers zielt und in bester Spiellaune auch mal beim imaginären „dritten Satz des Konfusius“ Anleihen nimmt. Das Abenteuer der Glossolalie wird hier in originellen Fügungen und großer Lust an Sprachkomik durchgespielt. Ein großer „Lärm des Alphabets“ wird entfacht beim Nachvollzug babylonischer Sprachverwirrung: „wir quirlten das Wolkenmaterial / quakten Küstenschwäbisch und ein/ Gemisch aus / Kopfschütteln und Suaheli“.

Je weiter man sich aber in den „Ratgeber für Zeugleute“ vorwagt, desto stärker verdunkelt sich das Bild und desto mehr vermischen sich die Tonlagen, wechseln die hellen, spielerischen Wortexplorationen mit elegischen Diskursen und Anmutungen von Vergänglichkeits-Motiven. Der dritte Zyklus „Die kleinen Tagzeiten der Abgestorbenen“ operiert nur noch an der Textoberfläche mit surrealistischen Verknüpfungen, entpuppt sich stattdessen immer mehr als Fortschreibung barocker Vanitas-Motive, als „Staubbesichtigung“ und elegische Gedenkrede. In den Gedichten „Der Nektar der Abgestorbenen“ und „Das Öl der Abgestorbenen“ wird der wortspielerische Übermut des surrealistischen Abenteurers dann immer weiter gedämpft. Das lyrische Subjekt, das hier keine austauschbare Spielfigur mehr ist, sondern dem empirischen Ich des Autors sehr nahe rückt, wandert hier durch die Städte Mannheim und Ludwigshafen, überquert den Rhein, erforscht die Atmosphären und protokolliert die einfallende Dunkelheit: „Die Fische tragen das Licht. Die Paarhufer speichern/ das Licht in ihrem Fell. Ich spreche mit den Vögeln, / die sich von den Dachsteinen erheben, / weil die Dunkelheit kommt.// Die Blitze der Abgestorbenen sammeln sich im Teich/ einer Welt nebenan. Die Bunttiere, die Feldtiere/ und die Katzen haben sich eingedunkelt/ in ihm.“

Das Titelgedicht des Bandes schließlich führt in eine andere dunkle Welt. Die Fügung „Ratgeber für Zeugleute“ ist einem Text des schizophrenen Künstlers Heinrich Klett entnommen, dessen Texte zu den faszinierendsten Zeugnissen der berühmten Prinzhorn-Sammlung gehören. In diesen scheinbar sinnlosen, oft einem wahnhaften Ordnungssinn verfallenen Texten haben schon die historischen Avantgardebewegungen die Impulse einer verzweifelten Subjektivität aufgesucht. Hans Thill hat seinen Rückgriff auf den Prinzhorn-Künstler Klett aufschlussreich begründet: „Und auch die eigenen Gedichte entstanden bald nicht mehr spielerisch, sondern in einem durchaus strapaziösen Prozeß, begleitet von Selbstzweifeln und Vanitas-Anwandlungen.“ Gegen den Herrschaftsanspruch der „alternativlosen“ Vernunft setzt die Poesie die undomestizierten Triebkräfte des Unbewussten und eine Poesie der ästhetischen Abweichung. Hans Thills „Ratgeber für Zeugleute“ liefert dafür sehr lesenswerte Beispiele. Sie geben sich oft heiter-launig, um dann plötzlich die Falltür ins existenziell Bodenlose zu öffnen.  


Hans Thill: Ratgeber für Zeugleute. Gedichte. Brueterich Press, Berlin/Reitenegg 2015. 128 Seiten. 20,00 Euro.

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