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Frank Milautzcki: schwarz drosseln

Rezensionen/Lesetipp > Rezensionen, Besprechungen

Armin Steigenberger

Kaum gedrosseltes Schwarz


Ende letzten Jahres erschien in der reihe staben im gutleut verlag ein neuer Band von Frank Milautzcki. schwarz drosseln ist eines der Bücher, bei denen sehr viel Wert gelegt wird auf Gestaltung. Allein schon das auffaltbare Poster als Cover ist eine sensationelle Idee. Lange habe ich es mir aufgespart, als Leckerbissen sozusagen, hatte das Buch als Urlaubslektüre dabei. Während des viele Stunden dauernden Sonnenuntergangs auf dem langen „Nachmittagsflug“ von London Heathrow nach San Francisco, habe ich zu Jazz von Dinosaur¹ aus den Kopfhörern das toll gestaltete Buch aus seiner Hülle gepellt. Immer habe ich eine gewisse Scheu vor neuen Büchern, mag sie erst ein paar Tage von außen bewundern.

Normalerweise gehe ich an Gedichtbände so heran, dass ich nach Möglichkeit nicht (mehr) naschend und rosinenpickend darin herumblättere, weil die allermeisten wohldurchdachte Kompositionen sind, und genau das habe ich mir hier auch vorgenommen. Ein Konzeptalbum soll von Anfang an seine Chance bei mir haben: Alles, was es kann und sein möchte, mir zu offenbaren. Sehr bald allerdings wurde allein schon wegen der angenehmen Haptik und meiner Neugierde auf das zusammengefaltete Cover die Lust dann doch zu groß, mal daumenkinomäßig einfach rein und „drinrumzublättern“, ob denn das, was der Untertitel verspricht, nämlich gedichte und cut-ups, sich auf den ersten Blick erfüllt (natürlich ist das sehr oberflächlich, dennoch war die Entdeckerfreude zu groß), inwiefern es formal eher geschlossen oder offen aussieht.

Die Texte wirken rein optisch sehr heterogen. Was da „überspringt“, ist zunächst eine gewaltige Bandbreite an Form(ation)en. Es gibt Blocksatz, Gedichte mit Absätzen und ohne, teils Kleinschreibung². Es gibt sogar an konkrete Poesie erinnernde Textzuschnitte³.

Und flugs war auch das Poster entfaltet: Der Einband ist – wie bei allen Büchern aus der reihe staben – zu einem Plakat gefaltet, dessen dem Leser zugewandte Außenseite eine Installation zeigt, die an Joseph Beuys erinnert: den Fußboden in einem Arbeitsraum bedecken weißlackierte Spanplatten, deren Ecken abgesplittert und im Raum verteilt sind. Sie sehen aus wie Füllelemente einer größeren Fläche, die gerade von hinten mit den Platten verfüllt wird. Die andere, inwendig eingeklappte Seite beinhaltet Zum Schluss: Monature (excerpts) | Unkorrigierte Notizen, überschrieben mit:

»JETZT ALSO WEISS ICH DAVON./ UND ES KOMMT DARAUF AN. / OB MAN AB-

Diese Überschrift ist bis hierher am oberen Buchrand zu lesen, da sie aus der Faltung übersteht und setzt sich innen fort mit:

SCHIEDE KANN UND SEINEN EIGENEN NOTFALL.«

Allein schon die Vielfältigkeit des Bandes reizt immer wieder zum Wild-darin-Herumblättern. Und weil die Gedichtsammlung eine gewisse Düsternis hat, der ich mit Exaktheit und präziser Ordentlichkeit begegnen möchte, brachte ich mich wieder auf Linie (!) – und las der Reihe nach. Dabei war ich ständig hin- und hergerissen, ob mich das ungedrosselte Schwarz der Illustrationen anlockt oder abstößt; darin ist neben Hintergrundschwärze viel Grau, dennoch es ist nicht wirklich düster, kein finsteres Grau-in Grau – es ist eher eine „dunkle Pracht“. Es steigert die Unterkühltheit und, wenn ich es so sagen darf, die spezifische Kälte des Buches.

gerne kalt

Es waren einzelne Räume möglich, die es nicht gab.
Es gab sogar Betten, in denen wir uns erzählten, daß alles falsch war.
Und Hausschuhe, die den Schnee nicht aufhielten, Holz in einem
Verschlag ohne Kitschsensor, du wolltest es nicht nur
in Scheite gespalten sehen, sondern die Schlieren
und den Tee warm auf der Platte des Ofens
(…)
                 
Der Titel als solcher ist ein Vexierbild. Als relativ unbe-wanderter Unflorist und -faunist hielt ich schwarz drosseln zunächst für eine Vogelart, obwohl das (hinterlistige) Leerzeichen Hinweis genug sein könnte. Und tatsächlich ist Schwarzdrossel eine weniger bekannte andere Bezeichnung für Amsel, aus der Gattung der Drosseln. Genauso gut lässt sich der Titel auch als Aufforderung lesen, als Imperativ: Schwarz drosseln! Ist das vielleicht sogar die (un)aus-gesprochene Maxime dieses Bandes?

Ich möchte sogleich vorausschicken, dass sich die Beschäf-tigung mit Frank Milautzckis Gedichtband wirklich lohnt, auch wenn er es einem nicht immer ganz leicht macht.

Der Band selbst gliedert sich in fünf Kapitel. Der Titel des ersten, abfährts – Capu Biancu, könnte den Googlereferenzen nach ein Luxushotel an der Südspitze Korsikas bezeichnen. Das so dunkel Gehaltene fängt also mit einem weißen Kap an. Und abfährts als Wortspiel zu abwärts klingt, zumal neben der Fotografie eines Schildes Licht aus (mit dünnem Fragezeichen), wie eine Anweisung, den Film abzufahren – Los gehts also!

Der Eröffnungstext dreht sich um so mancherlei: ums Einpökeln und Verspeisen. Eine – ich möchte sagen – seltsam verschnürte Realität wird beschrieben. Es geht eingangs um das Pökelsalz unseres Wünschens. Das Wünschen – schon im Eingangsgedicht vorhanden – ist so gesehen ein Motiv, das immer wiederkehrt.

(…) Serviert bei lebendigem Leib, zuckte derweil im Wal das Verb Ich, tanzten Worte im Gaumen, hinter den Zungen balgten sich Wesen im Kopf.

Das lyrische Wir fliegt vom Mond zum Mars. Verschiedene Ebenen kommen zusammen. Der Text schillert in einer breiten Palette an Themen und sich ineinander verschränkenden Ebenen. Dieses Verfahren trifft man sehr häufig an.

Anfangs war ich etwas hilflos. Immerzu hatte ich beim Lesen den Antrieb, herauszufinden, was der große rote Faden (sofern es so etwas überhaupt gibt), das Geheimnis des Bandes sei. Je länger ich in Frank Milautzckis Buch unterwegs war, desto weniger wusste ich, wo man da genau ansetzen kann. Anders ausgedrückt: Wem nützt es, wenn eine Rezension lediglich wiedergibt, was hier gemacht worden ist? Wenn ich anfange, Text für Text nach Sprachmaterial und Verfahren abzuklappern? Irgendwann kam ich drauf, dass die Texte simplerweise nach dem Anfangsbuchstaben ihrer Titel sortiert sind, was auch eine Form von roter Linie ist. Es erklärt andererseits den aleatorischen Charakter der Komposition. Es entstehen Übergänge von Gedicht zu Gedicht (oder von Text zu Text), die geradezu wundervoll passen und solche, die (zu?) hart sind. Das Zueinander wird ein Aneinander. So gesehen wird die „normale“, alltägliche Disharmonie des Zufalls zum Konzept. Es erscheint zudem, als würde jeder Text, völlig sich selbst überlassen, irgendwo hin driften. In diesem Sinn gleicht jedes Gedicht einer Kapsel, einem Miniuniversum und ist ein in sich abgeschlossenes Ding, das nicht nach links und nicht nach rechts schaut. Man hat lauter einkokonierte (An-und)Fürsichs. In den Kapiteln wird, so gesehen, nichts be- oder abgehandelt. Schillernde Blasen schwarzgrauer Avantgarde?

Ich fasse meine Erkundungsgänge im Buch mal wie folgt zusammen: Alle unterkühlten Ideale werden hier in einer gewissen Strenge durchdekliniert. Auffällig wird dabei immer wieder a) ein radikales Sprechen, b) ein stetiges Unterlaufen von (Rest-)Romantik. Es finden sich darin c) viele Idiosynkrasien vor (sprich Neologismen, deren Bedeutung sich dem Leser zunächst nicht erschließt – einiges davon wirkt aus einem sehr privaten Erlebnisraum heraus in eigenwilliger Orthografie augenzwinkernd aufgeschrieben), „selfklebend“eWeltabschlüsse, d) das Buch „folgt dem Skript“, will heißen, es bedient allein mit all seinem mustergültigen Schwarz ein Ideal: eine spezielle Form der unterkühlten Moderne, alles Idealische wird demzufolge skriptgerecht desavouiert e) d.h. es steigert sich die Kälte da, wo Wärme aufkommen könnte, d. h. die Gedichte schlagen jede Art von „Affekt“ wie konventionell poetische (An)Rührung en passant und sind darin oft sehr ernüchternd, f) die Gedichte re-agieren ungeschmeidig auf „Welt“ und „Ding“, sind trocken und widerborstig und kämmen „Welt“ und „Ding“ gegen den Strich, g) sie reagieren: auf Zustände, zeigen ihre kalten Schultern und machen sich dennoch daran, h) in erprobten Arten und Weisen des Sprechens (Cut-up, Experiment, Konkrete Poesie u.a.), in verschiedenen Sprechakten zu verharren. Die Gedichte sind durch ihre i) subversive Tendenz nicht zweitrangig j) hochpolitisch und generieren einiges an anarchischem Potenzial. Dabei kommt zu keinem Zeitpunkt irgendein k) System auf, die Texte haben insofern keine Systematik, kein wiedererkennbares Ordnungsprinzip (wie z.B. durchgängige Kleinschreibung, abgekürzte Wörter) oder auch typische Manierismen. Es ergeben sich l) hochkomplexe Strukturen und dergestalt m) extrem durchgefeilte Gedichte, die zumeist aus einem n) experimentellen Forschungswillen heraus entstanden zu sein scheinen.

Letzteres allerdings könnte ein Widerspruch sein, denn Experiment und jeder Art von Verfahren, die Texte kraft aleatorischer Faktoren neu arrangieren, haftet Frische und Spontaneität an; sie wirken i. d. R. wie mal eben aufs Blatt improvisiert. Viele der Texte in schwarz drosseln erscheinen mir dennoch formal weitgehend bis extrem zu Ende getrieben¹⁰, und das in aller Konsequenz, was mir sehr gefällt; was aber dem sporadisch-lockeren Charakter des frei Arrangierten in gewisser Weise widerspricht. Und dennoch sind die Gedichte, bei aller bis zur Disparatheit¹¹ ausgereizten Vielfalt, wiedererkennbar „echte“ Milautzckis.

Woran liegt das? Es ist vermutlich eine spezielle Form des prosaischen Duktus, der so markant ist, dass man diesen Sprecher durch alle wechselnden Formen und Chamäleonhäute dennoch erkennen kann.

Schwarz ist Mythos, Schwarz ist kühl, Schwarz ist punkig, Schwarz ist zeitlos, Schwarz ist die Farbe¹² des Anti-. Und obwohl es zeitlos ist, ist es altmodisch aber immer sehr „stylish“. Schwarz wird allweil zelebriert. Bei Bekleidung gibt es auch so neudeutsch klingende Farbtöne wie „schwarz-melange“. Es gibt ein gewisses Schwelgen im Schwarzen: Schwarz ist eine Spielart der Romantik, schwarz ist der¹³ Gore usw. Schwarz wirkt unheimlich, Schwarz ist gemäß der landläufigen Vorstellung die Farbe des Bösen, die Farbe der Gothics, des Teuflischen, der Nacht, des Todes, der Gräber und somit Matrize für alle Arten des Finsteren. Schwarz ist antithetisch-dunkel. Schwarz ist selbst ein Klischee. Nichtsdestotrotz sind Schwarz und Weiß in extremem Kontrast die am häufigsten gewählten Farben von Gedichtbänden. Frank Milautzckis Schwarz dagegen ist brüchiger, wirkt fragil, ist kaum durchgängig monochrome Schwärze.

Der Tatsache physikalischer Farblosigkeit entgegen steht der Text Indigo, ein wildes Farbgedicht, mit dem das Bennsche Diktum¹⁴ unterlaufen wird. Fast scheint es, als unterlaufe Frank Milautzcki damit nicht nur seine eigene Ästhetik.

Das Aufkommen jedweder poetischer Stimmung (oder was man außerhalb der Lyrikszene davon hält), scheint hier regelrecht störend. Infolgedessen wird angetäuscht, es wird ironisiert. Nichts ist so wie es scheint. Geht es Milautzcki hierbei um ein bewusstes Erzeugen von Bedeutungs- und Pointenlosigkeit? Ich muss an eine Zeile bei Martín Gambarotta denken, dessen übersetzten Band ich letztes Jahr rezensiert habe¹⁵, und kann mir vorstellen, dass hier (ähnlich dem lyrischen Ich dort) „gegengesteuert“ werden muss: Das lyrische Ich versucht, wie Gambarotta schreibt: „el zumbido / de la dignidad, also das Brummen der Würde (mit der z. B. ein Dichter versucht, sein weißes Blatt zu füllen?) aus dem Kopf zu bekommen. „Der Gedichtband ist voller Absurditäten und Widersprüche. Das Gesagte lässt sich an keiner Stelle komplett aufschlüsseln.“, schrieb ich in meiner Rezension zu jenem Dichter. Genau das trifft auch auf Frank Milautzcki zu.

Es gibt z. B. im Gedicht a kind of limbo Anklänge an Liebeslyrik, die teils extrem „hart“ unterlaufen werden: wie ein Gebläse, das ein Gebläse bleibt, / bedeutest du etwas. Eine Selbstschußanlage in Hotelruinen. (…) du erschaffst im überwölbten Geplätscher / den Wunsch des Gedankens. Hier wird eine etwas andere Liebeslyrik ad absurdum geführt, ihre überhöhte metaphysische Komponente als Überwölbung (Illusion?) vorgeführt. Es wird damit klargemacht, dass Dinge wie Bedeutung und Inhalt möglicherweise stören. Auch hier ist wieder der Wunsch genannt.

Aus dem Text Geröllfeld (pathologische Übung):
(...)
Kratzer knistern, altes Lied, wie dieses Fließen Zittern trinkt
und was der Finger malt im Angesicht der dunklen Häfen
der Zeilen wie ein Gedicht, das ich lebte mit dir und zahlte,
während die Sonne versank, die Stirn gegen den kühlen Lack des Lächelns
                                                                                                                           Joe
noch einen für die Schläfen und und den grauen Tag im Magen
im Rahmen steht die Tür von Morgen
ein Schimmel deckt den Zweifel zu mit Schubidu.
                 
Bleiben wir einen Moment beim Limbo: Immer wieder geht es auch um Musik, Tuxedomoon taucht als explizite Referenz auf, Das Album Oxygene von Jean-Michel Jarre, dem Altmeister der elektronischen Musik, wird sogar sehr prominent platziert. Frank Zappas Tinseltown, im gleichen Text geht es um Morissey, den britischen Sänger (und ehemaligen Frontman von The Smiths). Das Gedicht Karre, neu umbrochen spricht von einem Candy-Man, polyphon bis in mikrotonale Bereiche. Schon beim Text Alexandras Song wird klar, dass eine Text„phrase“ wie Grau zieht der Nebel (Alexandra) Anlass bietet, um sich intensiv daran zu reiben.
 
Aus heutiger Sicht, wo viele Collagen gemacht werden und es Diskurspop schon von der Stange gibt, wirkt – im Gegensatz zu der Epoche, wo Cut-ups radikal neu waren und gesellschaftlich so manches im Aufbruch war – vieles an Sampletechnik geradezu seltsam museal, obwohl ich gestehen muss, mich in solchen Texten sehr heimisch zu fühlen. Ein Blick in die Vergangenheit?¹⁶

Im Zeitalter der Überschreibungen und der wild überklebten und übermalten Texte, die ihren prozessualen Charakter offen vorzeigen, in denen darüber hinaus auch im Print via QR-Code u.ä. hypertextuelle Referenzen geschaffen werden, wirken Frank Milautzckis Cut-ups und alphabetisch geordnete Experimente wie sehr korrekte, „altehrwürdige“ Logbucheinträge. Ich habe an ihnen noch nicht ganz die angestrebte Ordnung im Chaos verstanden, die Hierarchie in der Anarchie, oder das autoritäre (?) Strukturprinzip in der Rebellion. Ist es ein spielerisches Sich-Stemmen gegen allzu konsequente Systeme? Oder umgekehrt ein konsequentes Sich-Stemmen gegen allzu spielerische Systeme? Die Drosselung des sonst überbordenden Schwarzen?

Frank Milautzcki muss zum Glück nichts neu erfinden und will sich genauso wenig mit einer neuen alten Erfindung brüsten. Er weiß um die Kraft der Verfahren, denen nur eine Kraft heute fehlt: Selbstverständlichkeit. Oder ist es das letzte Aufbäumen des alten, weißen Mannes vor dem Verschwinden, von dem ich hie und da lese? Frank Milautzckis Lyrik scheint mir noch längst nicht alt geworden. Es ist vielmehr eine (fast möchte ich sagen:) stoisch und zeitlos wirkende Replik auf das Weltgeschehen, derweil aktuell alle zwei Minuten etwas Neues daher getweetet kommt und man sich an immer neuen Hysterien ergeht.
 
Kein Text ist wie der nächste. Es scheint, dass Frank Milautzcki ein Autor ist, der sich selbst mit jedem Text neu überraschen möchte. Es scheint, dass für ihn am Ende immer ein Gedicht herauskommen muss, mit dem er nicht rechnet. Nur diese Gedichte lässt er gelten. Das ist mir sehr sympathisch. Nichts ist bisweilen ermüdender als ein Schwung elaborierter, gleichförmiger Texte in immer der gleichen „Masche“, die sich zueinander wie zu „Welt“ und „Ding“ immer gleich verhalten, die immer gleiche Distanz wahren. Das ist hier anders. Und es scheint, als fühle der Dichter sich keinem literarischen Idiom verpflichtet. Erst war ich irritiert.

Da, wo eine gedichtige (gewichtige?) Stimmung aufkommt, unterläuft Frank Milautzcki das mit launigem Humor – und tut das auch gelegentlich kalauernd. Gleich beim ersten Aufschlagen des Buches empfand ich Sprachspiele wie „abfährts“ oder „Gieraffe“ ein wenig störend, sie sprangen mir schon glatt ins Auge. Gleich zu Anfang gab es für mich eine Verdichtung solcher Wortspiele, später dann „Café Olé“ usw. Wobei ich gegen einen guten Kalauer keinen Einwand habe. Der Kalauer wird im Allgemeinen völlig unterschätzt. Immerhin schaffen es Leser und Autor, für den Fall, dass ihnen die „Welt“ und die „Dinge“ zu schwer werden und der Text anfängt, in seinem dunklen Reich tiefzugründeln, durch einen „banalen“ Joke bzw. durch ein leichtes (und leicht durchschaubares), „helles“ Wortspiel wieder zurück an die Oberfläche. Beide kriegen Luft. An ein paar Stellen war mir manches zu ausgesprochen, zu kommentierend, beispielsweise wo es wie im Text gerne kalt (s. o.) um den Kitschsensor geht oder um eine ziemliche Behauptung. Als Gedichtschluss funktioniert es, wie ich meine. Das Poem stülpt hier seine Poetik sichtbar nach außen. Das hat postmoderne Qualität. Der Text eliminierte Harmonik dreht sich generell um Ästhetik und Inszenierung. Es kommt jeweils auf einen Versuch an, es kann durchaus gelingen. Immerhin schreckt Milautzcki vor nichts zurück, sondern hat den Mut, so etwas zu riskieren. Das trifft auf ganz vieles zu, was seine Gedichte tun. Noch einmal aus dem Gedicht Karre, neu umbrochen:

(…) Frei bewegliche Spiegelsäulen drehen und wenden sich
nur, um vor ihrer Folie eine umso größere existentialistische Wucht zu entwickeln
bis hin zur Peinlichkeitsgrenze. (...)
     
So arbeitet Milautzcki teilweise auch mit der „etwas anderen“ Orthografie, Beispiele sind Tutto real und Augenbrowing oder gar Neologismen wie Türchenplunder, ganze Figuren wie Weg aus dem Hobbypferd. Hierdurch werden die Worte regelrecht aufgebohrt, ihr Sinn solcherart verändert und neue Konnotationen freigesetzt. Die Texte sind oftmals Mixturen, und im Gegensatz zu Centos o. ä. wird hier „ordentlich zitiert“(!). Fußnoten weisen darauf hin, wo aus Texten anderer Autoren etwas „gecuttet“ wurde. Auch Inspirationslinien des Autors werden qua Fußnote nachgezeichnet. Auf derartige Idiosynkrasien habe ich schon hingewiesen.

Manchmal ist es mir tatsächlich ein Ticken zu banal, was da an Material „gesampelt“ wird. Na klar, es kann nicht immer großes Kino sein, aber Worte wie „fungsonnierst“ entwickeln für mich kaum Mehrwert. Im Kontrast wirkt ein Begriff wie ichoativ hochgestochen bzw. hochironisch. Einige fast dadaistische Wortfindungen wie Wunschwurst¹⁷, Glotzung, Dingblicker, Zeitlupenmuff, makulieren oder trinkflügge werden mir bleiben, werde ich sogar gerne in meinen Sprachgebrauch übernehmen. Es ist schwierig, immer zu registrieren, wann der Tonfall switcht, von Ironie zu heiterem oder auch bitterem Ernst.

Minusgrade

(…)
ein zusammengerolltes Paket Schnapszahlen.
Dazwischen die Fahne eines Parfums und Gesichter,
die rasch verwehen. Einer summt sich hin
und in der Luft am Wärmetor verwirbeln 1000 Paradiese.

Abgesehen davon, dass in diesem Absatz extrem viel auf „Bilderzeugung“ im Leser gesetzt wird, hat es neben den Epiphanien, die beim Lesen einschießen, auch sehr viel Humor. Es lässt sich nicht erraten, ob hier Bilder aus der tagtäglichen Arbeitswelt eingeflossen sind, ob diverse Duftnoten eines Parfums den Einatmenden Gesichte erstehen lassen, oder ob die 1.000 Paradiese, die da kurzlebig verwirbeln, eine Anspielung an die 72 Jungfrauen sind, die ein männlicher Islamist dort zu ergattern erhofft?
 
Es lässt sich nicht nachvollziehen, wo „es“ herkommt. „Es“ bleibt so gesehen immer ein Stück weit hermetisch. Eine Hermetik, die sich mir aber nicht als „Beliebigkeit“¹⁸ vorstellt. „Es“ schreibt sich um so manche Bedeutung herum. „Es“ setzt (auf) schnoddrige Antithesen, „es“ setzt (auf) Pointen. Einige kennen Frank Milautzcki als handfesten und streitbaren Dichter, was poetologische Diskussionen angeht, für seine fundierten Einlassungen. Er weiß, wovon er spricht, und geht dabei herzhaft zur Sache. Insofern setze ich voraus, dass hier nichts mal so eben zauberlehrlingshaft hingeschrieben ist. Die Texte sind virtuos und wortgewandt.

mein ich ist ein bananenkuchen
dein stich ist eine ampelbluse und es tropft
kein fisch hat sich den mond gepudert (…)

Es gibt: Die Humorebene, die Technikfreak-Ebene, die Düsternis-Ebene dicht an dicht. Es gibt die hintergründig aufbietende Ebene. Die sich über ganz vieles lustig macht. Die dadurch aber auch mit allem Möglichen und Unmöglichen abrechnen will.

Pure Donquichotterie¹⁹? Wie schon angesprochen ist das ganze logischerweise politisch. Nicht nur der Gestus als solcher, auch explizit finden sich deutliche Stellen wie White trash in gekonnt verschmutzten Hemden²⁰. Aus meiner Sicht reibt er sich gewissermaßen an Feindbildern. Ebenen durchkreuzen sich permanent. Die Texte wirken in der Gesamtschau auf mich vielfältig, sperrig, keiner Textgattung zugehörig; es gibt brodelnde Improvisationen neben genau ausgezirkelten, streng in die Form gearbeiteten „Brettern“. Immer wieder habe ich das Gefühl, der Band lege sich quer, lege sich an mit gewissen anderen derzeit „virulenten“ Debatten und Diskurse, reibe sich – was seine eigene Poetologie angeht, in die er einzureihen wäre – an so manchen lyrikpolizeilichen Dogmen. Es gibt obendrein eine, fast möchte ich sagen, psychedelische Note (in welcher der Anspruch Cut-up dann wirklich auch eingelöst wird). Die genaue Herkunft der Cut-ups ist nicht genau geklärt, da Anfänge und Experimente auch schon vor der Beat Generation gemacht wurden, bei James Joyce u.a. ist das Verfahren belegt. Manche Reime bzw. Assonanzen entladen Bitterkeit. Und ich gehe dich in die Stadt, Pflaster und Rinnstein / sind näher als Kindsein²¹.

Was ganz interessant ist: Dass ich die Texte, obwohl sie so vielfältig sind (und bei denen die Vielfältigkeit auch Programm ist), doch in summa mehr und mehr als Einheit und deshalb als zusammengehörig gelesen habe. Das eine gehört zum anderen, trotz der Brüche und teils harten Fügungen, obwohl es sich formal ja eher verweigert. Ich fing an, diese etwas krude Melange aus Wortschnipseln, Sprachspielen, Wort(er)findungen, augenzwinkernden Kalauern, anerzählten Geschichten mehr und mehr liebzugewinnen. Wie schon angesprochen, entspricht vieles der Ästhetik einer (ich nenne sie:) schwarzen Moderne.

Was die Illustrationen anbetrifft, würde ich das Gezeigte als Bilder aus einer Werkstatt interpretieren. Man sieht u. a. Jean-Michel Jarres Debütalbum auf einem Stuhl, der wie eine optische Eschertäuschung darum platziert ist. Die Fotografien sind oft Negative. Sie zeigen gestapelte Stühle, eine Ateliertür mit der Aufschrift LICHT aus? Es sind durchweg Aufnahmen von Objekten, also unpersönliche Bilder, karg und in allen Schattierungen von Dunkeltönen, (schwarz, anthrazitfarben sowie mindestens 50 Schatten spendende Graustufen). Das Gedicht über den Regen und das Nichts ist eine (schwarz verfremdete) Tabellengrafik aus Rudolf Carnaps Werk Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache von 1931/32. Der Titel klingt programmatisch.

Maus auf 150 Meter

Gläserklirren. Meine Sätze sind aufgebraucht. Es gibt noch
Musik, die wie ein Möbel ist. Eulen durchkämmen den Rest
dieses Abends, der sich am Abtritt sichert, er hängt steil in
der Wand. Und grau hängt der Mond an der Türe als Lampe
für Schwimmer und Kauz. Im Glas verperlen sich die Schwüre.

Milautzckis Sätze wirken dabei so gar nicht aufgebraucht und es gibt eine gewisse tänzerische (um nicht zu sagen: akrobatische) Qualität, die sich auch manchmal knapp am mitgedachten Sinn vorbeischreibt, z. B. bei Im Glas verperlen sich die Schwüre würde man Schnüre immer mitlesen. Es sind Gedichte wie diese, die Atmosphären aufsteigen lassen und mit (ich nenne sie:) Restromantiken operieren, sogar Symbolismen wie Eulen enthalten, die vielleicht für Weisheit stehen. Türe und Schwüre bilden zudem einen (Binnen-)Reim.
 
Die Gedichte gehen mir unter die Haut. Ich weiß, es ist nicht wirklich gerne gesehen, aus Gedichten Rückschlüsse auf die Person des Autors zu ziehen; das möchte ich auch gar nicht tun. Es geht darum, wie man sich selbst mit einem Buch fühlt, was es mit einem anstellt. Mir wird folgendes Kriterium immer wichtiger: Wie das Buch (zu) einem passt, wie es sich anfühlt: Als wäre es ein Kleid, ein Hemd, eine Bluse, vielleicht auch ein Sakko oder ein superleichtes, enganliegendes, durchgeschwitztes T-Shirt ... vielleicht auch eine Brille, mit der man die Welt erlebt? Alles ist möglich. Für mich war es ein Oberteil, ein dicker, dunkler, warmer Pullover, er fühlte sich robust und fast etwas schwer an, als hätte ich darin eine schwere Kindheit gehabt, als hätte ich in einer Art Underdogdasein viele Widerstände überwinden müssen und neue erst überwinden lernen, als wäre mir obendrein vieles an meiner Herkunft verhasst. Ein Pullover, der anfangs ein bisschen kratzt, der aber bald gut sitzt und den man nach und nach zu schätzen lernt, da er trotz seiner dunklen Farbe wärmt. Man lernt beim Anprobieren und Tragen dieses etwas anderen, ungewohnten Gewandes auch einiges über sich selbst.
 
Ein letzter Punkt ist, dass ich mich teils gefragt habe, woher (abgesehen vom Titel) der permanente Eindruck des Dunklen, der Schwärze kommt – neben der schwarzweißgrauen Monotonie der Illustrationen (zumal ja alle Bücher der reihe staben diese „Farbigkeit“ haben, nur dass es hier auf mich intensiver wirkt.) Es liegt vermutlich daran, dass durch das zufällige Arrangement der Texte sowie das strikte Unterlaufen von Bedeutung jegliches Aufkommen einer Utopie²² abgeblockt wird. Zwischen den Zeilen (ent)steht Vieles und Vielerlei.
 
Alles Vorige darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ein einzigartiges Buch ist, das in all seiner Vielfalt mitsamt all den Brüchen, den sperrigen Tonfällen, der formalen Disparatheit auch ein großes, großartiges Buch ist. Dessen Schwarz elegant ist und schon an sich undrosselbar. Es ist, das zumindest wünsche ich mir, ein Buch über das Wünschen.




¹   z. B. https://www.youtube.com/watch?v=hjyNliJIsxY, was ganz gut passte.
²   Es wird auch teils die alte Rechtschreibung verwendet.
³   
Gedicht Kreuz dich mir an, S. 60.
 Die Titel der anderen vier Kapitel bestehen ebenfalls aus jeweils zwei durch Bindestrich gekoppelte Überschriften.
  Ich habe dieses Verfahren für meinen 2. Band ebenfalls erwogen, aber nicht durchgeführt, weil die Fügungen dadurch teils sehr hart wurden und man vermutlich als Leser das eigenwillige Nacheinander nicht mehr versteht, zumal die „Auflösung“ des geheimnisvollen Ordnungsprinzips dann recht banal erscheinen könnte.
 Dass die Titel der Gedichte nachträglich der alphabetischen Reihung angepasst worden wären, hat sich mir nicht erschlossen.
⁷   Nach dem Gedichtband von Lütfiye Güzel.
 ... wie sie eigentlich schon kraft einiger Post-, De- und sonstiger Gegenströmungen etwas abhanden gekommen ist.
  die Summe aller ungeschmeidigen Dinge.
¹⁰  Dieser Eindruck entsteht durch das Fehlen “schnoddriger” Ecken und Kanten. Etwas, das nonchalant aufs Papier gerotzt wird, hätte wohl eher nicht durchweg diesen Anschein einer ausgearbeiteten, abgewogenen, perfekten Wohltemperiertheit bis hinein ins Detail.
¹¹  Sie scheren sich gar nicht um Disparatheit. Auch das gefällt mir.
¹²  Jajaja, “Schwarz ist physikalisch gesehen keine Farbe”, ich weiß …
¹³  Der? die? das?
¹⁴  Farbadjektive seien in Gedichten tunlichst zu vermeiden!
¹⁵  http://www.signaturen-magazin.de/martin-gambarotta--pseudo.html
¹⁶   Wer schreibt heute noch Cut-ups, oder wer weiß überhaupt noch, was das ist? Wissen vielleicht ja, im Zuge der Akademisierung der Dichterwelt, aber praktizieren? Wenn, dann macht man heute eher etwas eigenes und gibt es für „selbst erfunden“ aus, lieber gibt man sich – diesen Eindruck habe ich zeitweise – kreativ und holt nicht den alten Wein in einem neuen Schlauch hervor. Glaubt man zumindest. Denn man reibt sich doch heutzutage nicht an Dingen, die in die Nähe der „Alt(?)68er“ gerückt werden könnten. Also bitte! Manchmal denke ich, wenn sich die heutige „Avantgarde“ mit all dem, was schon gemacht wurde, auseinandersetzen würde, wären viele Bezüge als dünne Neuaufgüsse augenfällig. Aber warum sich rückbeziehen, wenn man das Rad neu erfinden kann!?
¹⁷  Auch hier wieder das Wünschen!
¹⁸ Ich kann dieses Wort im poetischen Diskurs nicht leiden, weil es immer voraussetzt, der Autor schriebe einfach irgendwie(!) drauflos, denn selbst wenn er es täte, würden derart „beliebige” Worte, die ihm einschießen, einer inneren (=unbewussten) Logik bzw. Figur folgen. In diesem Sinn kann nichts “beliebig” sein.
¹⁹  Kampf gegen alle Wortmühlen, die sich seit Urgedenken im Kreis drehen.
²⁰  Aus dem Gedicht La région d’Amour.
²¹  Aus dem Gedicht Alexandras Song.
²²  Auch Utopien könnten gerade aus der Mode kommen: Popstar und Sängerin Björk sagte zu ihrem jüngsten Album (erschienen im November 2017), das den Titel Utopia trägt: "I kind of like the fact that it's a cliché, that word [...] it has a fascistic, 'I want the world to be like this!' feeling about it, because it's a proposal (of) how we can live with nature and technology in the most optimistic way possible." (Zitat auf Wikipedia)
 
Frank Milautzcki: schwarz drosseln. gedichte und cut-ups. Frankfurt a. M. (gutleut verlag - reihe staben) 2017. 116 Seiten. 21,00 Euro.
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