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Fernando Pessoa: (Paganini)

Montags=Text


Fernando Pessoa

übersetzt von Werner Wanitschek


Es gab einen Mann, einen Spanier, einen Gitarristen, der lange Zeit mit Paganini reiste: es war vor der Zeit des großen bekannten Ruhmes von Paganini.Sie führten zu zweit das große ungebundene Leben von Bohémiens, von Wandermusikern, von Leuten ohne Familie und ohne Vaterland. Beide, Geige und Gitarre, gaben überall, wo sie vorbeikamen, Konzerte. Sie sind auf diese weise recht lange in verschiedenen Ländern umhergezogen. Dieser Spanier hatte solch ein Talent, das er wie Orpheus sagen konnte. »Ich bin der Meister der Natur.«
    Überall, wo er durchkam, auf seinen Saiten klimpernd und sie harmonisch unter dem Daumen springen lassend, war er sicher, daß eine große Menge ihm folgte. Mit einem solchen Geheimnis stirbt man nie Hungers. Man folgte ihm wie Jesus Christus. Wie auch Mittagstisch und Herberge einem Mann, einem Genie, einem Zauberer verweigern, der Ihrer Seele die schönsten, geheimsten, unbekanntesten, geheimisvollsten Melodien zum Singen brachte! Man hat mir versichert, daß dieser Mann von einem Instrument, das nur aufeinanderfolgende Töne hervorbringt, leicht übergangslose Töne zustande brachte. Paganini verwaltete den Geldbeutel, er hatte die Geschäftsleitung des Sozialfonds, was niemanden verwundern wird.
    Die Kasse reiste auf der Person des Verwalters; mal war sie oben, mal war sie unten, heut in den Schuhen, morgen zwischen zwei Nähten der Kleidung. Als der Gitarrist, der ein starker Trinker war, fragte, wie es mit der finanzielle Lage bestelt wäre, antwortete Paganini, daß er nichts mehr hätte, zumindest fast nichts; denn Paganini war wie die alten Leute, die immer fürchten, zu ermangeln. Der Spanier glaubte ihm oder tat so, als glaubte er ihm, und, die Augen auf den Horizont der Straße gerichtet, bearbeitete er klimpernd seinen unzertrennlichen Begleiter. Paganini lief auf der anderen Seite der Straße. Es war ein gegenseitiges Abkommen, bestimmt, um sich nicht zu belästigen. Jeder studierte auf diese Weise und arbeitete im Gehen.
    Waren sie schließlich an einen Ort gelangt, der gewisse Einnahmechancen bot, spielte der eine von ihnen eine seiner Kompositionen, und der andere improvisierte an seiner Seite eine Variation, eine Begleitung, eine Unterlegung. Was es an Freuden und Poesie in diesem Troubadourleben gab, wird nie jemand erfahren. Sie trennten sich, ich weiß nicht weshalb. Der Spanier reiste allein. Eines Abends kommt er in eine kleine Stadt des Jura; er läßt ein Konzert im Saal der Bürgermeisterei ankündigen und durch Plakate anschlagen. Das Konzert ist er, nichts weiter als eine Gitarre. Er hat sich durch Klimpern auf seiner Gitarre in einigen Cafés bekanntgemacht, und es gab einige Musiker in der Stadt, die überrascht, von diesem ungewöhnlichen Talent beeindruckt waren. Schließlich kamen viele Leute.
    Mein Spanier hatte in einem Winkel der Stadt, neben dem Friedhof, einen anderen Spanier ausgegraben, einen Landsmann. Dieser war eine Art Grabstättenunternehmer, ein Marmorwarenfabrikant von Grabmälern. Wie alle Leute mit Bestattungsberufen trank er wacker. Die Flasche und das gemeinsame Vaterland führten sie daher weit; der Musiker trennte sich nicht vom Marmorschneider. Am Tag des Konzertes sogar, als die Stunde gekommen war, waren sie beisammen, doch wo? Dies galt es zu erfahren. Man suchte alle Wirtshäuser der Stadt ab, alle Cafés. Schließlich grub man ihn mit seinem Freund in einer unbeschreiblichen Spelunke aus, vollkommen betrunken, der andere auch. Entsprechend sind die folgenden Szenen, à la Kean und à la Frédérick. Schließlich willigt er ein, spielen zu gehen; doch da wird er von einer plötzlichen Idee gepackt: »Du spielst zusammen mit mir«, sagt er zu seinem Freud. Der lehnt ab; er hatte eine Geige, doch er spielte darauf wie der entsetzlichste Bierfiedler. »Du spielst, oder ich spiele nicht.«
Es gibt keine Predigten noch gute Gründe, die wirken; man mußte nachgeben. Da sind sie also auf der Bühne, vor dem vornehmen Bürgertum des Ortes. »Bringt Wein«, sagte der Spanier. Der Grabmalhersteller, der von aller Welt bekannt war, doch mitnichten als Musiker, war zu betrunken, um schamhaft zu sein. Wie der Wein gebracht wird, hat man nicht mehr die Geduld, die Flaschen zu entkorken. Meine schlimmen Taugenichtse guillotinieren sie mit kurzerhand mit dem Messer, wie die schlechterzogenen Leute. Stellen Sie sich vor, welch schöner Eindruck auf die Provinz im Festkleid! Die Damen zogen sich zurück, und angesichts dieser beiden Trunkenbolde, die halbverrückt aussahen, ergreifen viele entrüstet die Flucht.
     Doch wohl taten die, bei denen die Schamhaftigkeit nicht die Neugierde auslöschte und die den Mut hatten zu bleiben. »Fang an«, sagte der Gitarrist zum Marmorschneider. Es ist unmöglich auszudrücken, welche Art von Tönen aus der betrunkenen Geige herauskam; Bacchus im Wahnsinn, wie er  mit einer Säge Steine schneidet. Was spielte er, oder was versuchte er zu spielen? Unwichtig, die erstbeste Weise. Eine kräftige und angenehme, zugleich launisch und einheitlich umhüllt, erstickt, löscht, verbirgt plötzlich den kreischenden Lärm. Die Gitarre spielt so laut, daß die Geige nicht mehr zu hören ist. Und doch ist es eben die Melodie, die weingetränkte Melodie, die der Marmorschneider begonnen hatte.
    Die Gitarre drückt sich mit einer gewaltigen Klangfülle aus; sie schwatzt, sie singt, sie deklamiert mit einer gewaltigen Begeisterung und einer Sicherheit, einer Reinheit im Ausdruck ohnegleichen. Die Gitarre improvisierte eine Variation auf das Thema der Blindengeige. Sie ließ sich von ihr führen, und sie kleidete glänzend und mütterlich die grelle Nacktheit ihrer Töne. Mein Leser wird verstehen, daß dies unbeschreibbar ist; ein glaubwürdiger und ernsthafter Zeuge hat mir die Sache erzählt. Das Publikum war am Schluß betrunkener als er. Der Spanier wurde mit einer grenzenlosen Begeisterung gefeiert, beglückwünscht, geehrt. Doch hat ihm wohl der Charakter der Leute vom Land mißfallen; denn es war das einzige Mal, daß er zu spielen bereit war.
    Und jetzt, wo ist er? Welche Sonne hat seine letzten Träume gesehen? Welcher Boden hat seine kosmopolitische Hülle aufgenommen? Welcher Straßengraben hat seinen Todeskampf behütet? Wo sind die betäubenden Parfüme der verschwundenen Blumen? Wo sind die zauberischen Farben der ehemaligen Sonnenuntergänge?
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