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Felix Philipp Ingold: Der große Bruch

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Jan Kuhlbrodt

Epoche und Jahrhundert


2013 jährt sich zum hundertsten Mal das Jahr 1913. Was nach einer mathematischen Banalität klingt, ist gesellschaftspolitisch und kunstgeschichtlich eine dramatische Feststellung und Anlass für den Berliner Verlag Matthes & Seitz, ein Buch in einer erweiterten Ausgabe wieder aufzulegen, das schon einmal im Jahr 2000 im Verlag C.H. Beck erschienen ist. Um es vorwegzunehmen: bei der Lektüre bekommt man den berechtigten Eindruck, dass das Jahr 1913 an Bedeutung dem Jahr 1492 nicht nachsteht.

Akmeismus, Kubofuturismus, Neoprimitivismus  … wohl keine Zeit hat mehr Ismen produziert als der Anfang des vergangenen Jahrhunderts, zumal in Russland. Und vieles passierte, ent- und bestand gleichzeitig, obwohl inhaltlich oder formal Epochen dazwischen liegen. Zum Beispiel erscheint der großartige symbolistische Roman Petersburg von Andrej Belij, aber es wird auch die futuristische Oper „Sieg über die Sonne“ uraufgeführt. Einschneidende Momente im russischen und europäischen Kunstleben.

Warum mir das Buch bei seinem ersten Erscheinen nicht aufgefallen ist, und ich nicht derart atemlos darin lese und herumblättere, wie ich es jetzt tue, mag unterschiedliche Gründe haben, aber der Hauptgrund besteht wohl darin, dass der Untergang des Sowjetreiches vor dreizehn Jahren noch nicht lange genug zurück lag, und ich noch befangen in Vorstellungen war, die man mir in Kindheit und Jugend eingeimpft hatte, und nach denen die sogenannte Neue Zeit mit der Erstürmung des Winterpalais in Petrograd am 7. November 1917, nach russischem Kalender war es Oktober, begann. Dass es sich bei dieser Revolution um den Putsch auch einer Minderheit innerhalb der russischen Sozialdemokratie handelte, die sich als volksnahe Mehrheit apostrophierte, wurde mir erst nach und nach klar.


Komischerweise hatte sich meine Kopfwelt, meine Kopfgeschichte, noch nach dieser Ordnung geregelt, noch lange nachdem sie sich als ideologisch und falsch erwiesen hatte. Viele Texte, Arbeiten, Bilder, Bewegungen, Manifeste, die mir einiges bedeuteten, sah ich  in der Zeit, die auf die Oktoberrevolution folgte, entstehen. Den Futurismus und den Konstruktivismus dachte ich zum Beispiel als ihr Produkt und nicht als Bewegungen, die ihr vorausgingen bzw. vollkommen unabhängig von ihr aufkamen. Nun begegnen mir viele davon in diesem Buch.

Es war ein politisches Ordnungsprinzip, nach dem man Geschichte um uns herum sortierte, diktiert von der Blockspaltung, ihre Schreibung galt der Legitimation des Bestehenden. Und noch heute bin ich zuweilen erstaunt über das frühe Erscheinen bestimmter Kunstwerke. Nicht wenige davon begegnen mir nun in einem immer noch erstaunlichen Kontext in diesem Buch, welches das Jahr 1913 inszeniert als einen epochalen Umbruch.
Einiges was in diesem Jahr in Russland aber auch in Europa entstand, wurde also im Folgenden ideologisch verdeckt, benutzt, zum Verschwinden gebracht. Im Vorwort von 2013 schreibt Ingold:

Dass weder von Majakowski noch von Krutschonych, den beiden herausragenden Exponenten des „großen Bruchs“ von 1913, eine postsowjetische Werkausgabe vorliegt, ist ebenso bezeichnend, wie die Tatsache, dass heute manch ein Emigrant der „ersten Welle“ - zumeist politisch „reaktionäre“ antisowjetische Dichter … in Russland besondere Wertschätzung genießen und gegenüber den einstigen Kulturrevolutionären als die besseren Russen gefeiert werden.


In seiner unglaublichen Materialfülle trägt dieses Buch zu einer besseren Sicht auf die Kunstentwicklung, aber auch die politische, bei. Wir erfahren etwas über die Bildung, die Wirtschaft die politische Konstitution Russlands und darüber hinaus auch Europas und in diesem Kontext etwas über das Erscheinen neuer und die Revolutionierung bestehender Gattungen. Gerade der Film ist eine für das Kunstleben einschneidende Neuerung, und wie sich das neue Medium in seiner Breite in seinen technischen Möglichkeiten erfindet und austestet ist gerade in Russland auf einzigartige Art und Weise zu verfolgen.

1913 war das letzte Friedensjahr vor einem lange währenden Krieg, wenn man die Zeit zwischen erstem und zweitem Weltkrieg als Kampfpause begreift, und einer jahrzehntelangen europäischen Spaltung, und gleichzeitig ist es das Jahr eines epochalen künstlerischen Aufbruchs. Und wesentliche Impulse dafür gehen von Russland aus. Ingolds Buch versammelt einige der wichtigsten Dokumente, die in diesem Jahr, oder im Gedenken an, entstanden. Unter anderem zum Beispiel den Text „Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack“, mit dem die russischen Futuristen lautstark die Bühne betraten, oder Erinnerungen Viktor Schklowskijs, eines Exponenten der Russischen Formalen Schule. (Schklowskijs Text „Kunst als Verfahren“, der an anderer Stelle in einer Übersetzung des großen Slawisten Fritz Mierau vorliegt, zählt für mich nach wie vor zu einem der zentralen Texte hinsichtlich meines Kunstverständnisses.)



Felix Philipp Ingold (Hg.): Der große Bruch - Russland im Epochenjahr 1913. Erweiterte Neuauflage. Berlin (Matthes & Seitz) 2013. 645 S. 49, 90 Euro.

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