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Fabian Widerna: Gewässer

Montags=Text


Fabian Widerna


Gewässer



Er betritt das Kaffeehaus (und stürzt über die Kante) und lässt sich nieder. Und. Unruhe ebenso. Und. Großen Kaffee bitte. Die Unruhe sitzt tief. Verzweigter als gedacht. Punkt. Wasser dazu, bitte. Bis in die Lungen. Räuspert sich. Danke; nippt, verbrennt sich die Zunge. Danke, passt so. Aufgebracht, ein wenig. Zurückblickend. Durchs Fenster nach draußen. Durchatmen; er versucht, sich auf die anderen Gäste zu konzentrieren, begegnet den Unterhaltungen, lässt sich durch den Raum schweifen. Denkt zurück. Nicht nachfolgen.
    Diese Gestalt aber. Steht ganz weit hinten im Bild. Dreht langsam, unter andauernder Einwirkung der Widerstandslosigkeit des Gegenübers dessen Kopf vom Körper. Die Gestalt verzieht keine Miene, kein Blick über die Schulter zurück, kein Blick übrig, keine Rührung feststellbar, er reagiert nicht; sieht man genauer hin, ist eine Flut darin angelegt, der er sich nicht entziehen würde. Unvermeidlich verknüpft. Folgte man der Szene, eigentlich lachhaft, lächerlich: er würde die Bildpunktkomplexe auseinandernehmen und neu arrangieren und eine andere Welt daraus bilden, als jene, die ihn zur Bewegung zwingt, die er in Reglosigkeit zerbrechen möchte; und eben, den Bewegungen folgt er, zwischen den eng gesetzten Grenzen des schmucklosen Rahmens. Möchte etwas … Er räuspert sich, dreht sich, wie um sich zu fassen, einmal um die eigene Achse, ohne zu sehr auf die anderen Besucher zu achten, die die Räume der Galerie zu achtlos für seinen Geschmack besetzen. Das Bild im Gegensatz ist im Fluss. Er tritt einen Schritt näher heran, einen halben zurück, verharrt, speichert jedes Detail, das sich im Vorgang der Betrachtung erschließt oder hinzufügt, er betrachtet … Beginnt dessen Transformation zu erschließen. Erst spät erkennt Cristof die Schemen, halb im Umkreis festgehalten, aus den Dingen heraustretend, teilweise im Übergang und wieder bloß angedeutet im Hintergrund der Figuren verschwindend, dem der Beobachter fortwährend, im Andauern der Betrachtung jenem Sog folgend selbst sich hinzuzuzählen begonnen haben musste, als er die Szene auf 's Papier zu bringen begonnen hatte. Anstrengend. Anregend. Überwältigung in Pinselstrichen, deren Wogen ihm noch mehr Szene zu sein scheint, als die Oberfläche, Bildinhalt selbst. Das irritiert, das setzt ihn in Bann, das stößt ihn ab. Und dennoch: er möchte hineintreten und aus den Winkeln den Vorgang betrachten, als Teil der Wand und noch mehr ein Teil dessen werden, was sich zwischen verwischten Grenzen der Gegenstände zu bewegen scheint. Das ist ein ganz klarer Blick. Das ist möglichste Desillusion. Das ist eine ganz beschränkte Welt, die er mit Bewegung füllt. Ein Ansatz, ein Aufbruch, er möchte die Ränder überschritten sehen, über den Rahmen hinaus in den Strukturen hängend, das Sichtbare in seiner Sichtbarkeit markierend, die Andeutung eines unheimlichen Kosmos ausführen, der noch im Moment nur als Teil jener Welt verweilen muss, die seine Bewegungen steuert und voraussetzt, als winzigstes Fragment, als Puzzleteil einer Massivität, die man nicht nachvollzieht. Und dieser ganz klare Blick, diese Schärfe der Gegenstände, wie zwischen Schraubstöcken sengender Melancholie aufgespannt. Er betrachtet die fein verlaufenen Stoffbahnen, die Teile des Interieurs verdecken, als eine wässrige Schicht. Er folgt den Faltenbildungen, die jene Dunkelheit umrahmen, den Raum durchbreitend; tatsächlich ist da kein Licht, nur ein fahles Schimmern, das jene Schemen gespenstisch unwirklich andeutet, nicht zu Figuren, Akteuren des Geschehens werden lässt; dennoch nimmt er an, dass die beiden klar konturierten Gestalten sie sehen können, als reale Dinge, um dem Aufbau gemäß, fensterlos, ohne Kerzen, Lampenlicht, nicht im dunklen zu tappen, mordend, ermordet werdend, denkt er  – so ruhig, fast gelassen … Er will in den Gedanken des Opfers Platz nehmen, während kein stummer Schrei die Züge deformiert, während der Kopf immer noch aus der Lebendigkeit der Fassung seiner Schultern gedreht wird; da ist kein Leiden, nichts schmerzlich Fassbares. Und es mag sich um die Folgen aussetzenden Atmens handeln.
    Vielmehr zeigt sich der Schrecken, jetzt, im zur Grimasse verzerrten Gesicht des Täters, das vom fahlen Schein beleuchtet einen zahnlosen Mund erkennbar werden lässt, eingefallene Lippen, gezeichnet vom Alter, frühzeitig, innerhalb kurzer Zeiten, erst jetzt erkennt er das, Haar in verwischten Strähnen, wirr; deutlich nimmt Cristof die ins Fleisch gegrabenen, vor Schmutz und Schmiere dunklen Hände wahr, in den Schläfen versenkt-wulstige Nägel  – ein Trick, denkt er, sowie nicht darzustellen ist, ob von der Nase noch mehr feststeht, als schwarze Ränder. Stechende Augen, als starrte jener geradewegs ihn an. Die andere Figur: unentscheidbar …  Sie trägt einen olivfarbenen Mantel. Vereinzelt helle Hautpartien, lebendiger, als die an Händen und Gesicht ihres Mörders. Die Arme unnatürlich an die Seiten gedrängt. Die Schemen eilen zu ihr hin, stellt er fest, sie geben sich Mühe, hängen fest, müssen entstehen, sind nicht wirklich, blind müssten die Augen sein für ihr Erscheinen, aus einem Stuhl heraustretend, sich lösend, von der fein aufs Blatt gebrachten Maserung eines halb vom Stoff bedeckten Tischs, aus den Vorhängen fallend die keine Fenster umrahmen, um die Hitze sommerlicher Sonne nicht abhalten zu müssen, oder die starrenden Vögel … Behelligen das Gesicht; sie scheinen sich aufzurichten; einzig ein Spiegel … allein diese Oberfläche scheint ihnen verwehrt, denkt er, als er den Schlieren folgt, die sie ihm durch den sich eröffnenden Raum aus Unwahrscheinlichkeiten zu ziehen scheinen, der sich mit jedem Moment der Betrachtung verbreitert. Ausgerechnet. Er sieht zur Seite, weil er eine Hand auf seiner Schulter spürt, die dort nicht hingehört. Er blickt auf und zur Seite und …  Er folgt der Bewegung und begegnet den wachen Augen der jungen Frau … nur kurz, und begegnet der eigentlichen Präsenz der Wachheit im Zentrum der vom Licht kleinen, dunklen Pupillen, von je nach Winkel Grünlich-türkisem umrahmt. Zur Seite … Sie lächelt, bemerkt er, möchte sich ab-, wieder dem Bild zuwenden.
    … ausgerechnet, denkt er, aus der wiedergebenden Fläche starrt … Er räuspert sich, überrascht, könnte schwören, dass sie zuvor nicht dagewesen ist, dass ihm ein Streich gespielt wird, für den Augenblick, dass das nicht seines ist, seine Variante, worauf er blickt, oder zu sehr, will er hoffen, nicht Ausdruck des Ungleichgewichts der Stimmungen, auf die er zurückblickt, sieht die Gestalt im Spiegel, aber nicht, wo sie herrührt. Überlegt, das zu recherchieren. Dass doch, dass seine Augen klar sehen, dass irgendwer, irgendwann, obwohl gerade er sie, aber auch den Spiegel zuvor nicht gesehen zu haben meint – aber irgendwer irgendwann sie verzeichnet haben musste. Sie räuspert sich. Stottert etwas herum, von Wegen seiner starren Versunkenheit, dass ihr das Sorgen bereitet habe; will seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Er tritt jetzt näher heran, an die beiden Gestalten, von Geistern umringt, die nicht die ihren sein mochten. Er versucht, sich das klar zu stellen, dass das Bild sich veränderte, dass das nichts war, was er zuvor schon hätte gesehen haben können. Nochmals räuspert sie sich. Nennt ihren Namen: „Karolin Zeier“ und reicht ihm die Hand. Noch näher; mit der Nase berührt er beinahe die fein aufgetragenen Farbschichten, mustert die Figur im Spiegel. Kurz denkt er, ihr entgangen zu sein. „Nein, nein.“ Ruft er, „aber sehen Sie das denn nicht?“ weicht er aus, weil er dieser Hand nicht begegnen möchte, zusammenhangslos. „Geht es Ihnen gut?“ Aber wie es ihm … „Cristof Anders, mein Name.“ wirft er dazwischen, um sie zu besänftigen. Er deutet jetzt auf den Spiegel, der das Gesicht jener Frau in sich trägt. „Ja, ja, schon gut.“ Sie lässt die Hand sinken.  … deren Gesicht er vor Jahren gesehen hatte. Die Enttäuschung sieht er ihr an, wendet sich ab, weil er das nicht zur Kenntnis nehmen, zu seiner Betrachtung zurückkehren möchte. Sie tippt ihn nochmals an, irritiert. „Ich glaube, sie stehen zu nah davor“ Sagt sie. „Sie stehen zu nah an dem Bild.“ Wiederholt sie. „Ich denke nicht, dass Sie so nah dran stehen sollten. Man wird Sie auffordern, zu gehen.“ Er reagiert nicht, Stirn in Falten, die Augen zusammengekniffen, konzentriert, fährt mit der Hand, durchs kurze Haar. „Noch etwas?“ Fragt er, murmelt gedankenversunken: „Noch etwas …“Tritt einen Schritt zurück. „Entschuldigen Sie“ Greift sich ihre Hand aus der Luft, schüttelt sie. „Entschuldigen Sie … Cristof Anders, mein Name“; und verlässt ohne ein Weiteres die Galerie. Sie überlegt kurz, ihm zu folgen, ihn darauf anzusprechen, was er gesehen habe, das ihn so entgeistert haben mochte. Nimmt ein Glas Sekt vom Tablett der Bedienung, nippt. Merkwürdig. Sieht die gläsernen Schiebetüren sich hinter ihm schließen, seine Gestalt in der Kastanienallee verschwinden. Wendet sich zum Bild; liest: „Gewässer“, der Maler ist ihr kein Begriff, es gefällt ihr nicht.
    Nervös läuft er an Bäumen entlang. Nach draußen, denkt er in Schleife. Weg hier. Versichert sich, das gesehen zu haben, das Gesicht komme nicht von ungefähr. Dass das zu alt sei. Ein klarer Blick, ihm begegnend, in der Andeutung von Reflexion, intelligente Blauäugigkeit, ultramarin, leicht geweitete Pupillen, schmale Lippen, zu deutlich meint er das gesehen zu haben, als dass ihm der Zweifel am klaren Verstand plausibel erscheinen kann. Dieser ganz klare Blick, denkt er und möchte dahin zurückfinden. Er hat daran vorbeizudenken gelernt. Nicht dass er das vergessen hätte. Eine Lächerlichkeit. Er möchte kehrtmachen, zurückkehren, sich davon überzeugen, dass doch alles ganz anders ist. Diesem ihrem Desinteresse hat er nichts entgegenzusetzen. Mit einem Willensakt bestreiten, dass er den Verstand verliert. Und eigentlich doch ist das nicht aufregend, denkt er, einen kleinen Moment lang an der Sache vorbeigeschaut und etwas Anderes darin entdeckt, das verborgen geblieben war. Ein paar Schritte setzte er ins Gras neben dem Weg, das ihm sorgsam zwischen den Wurzelbögen der Bäume aufgespannt erscheint und lässt sich in die Hocke sinken, um die Komplexität der Gebilde zu mustern, die sich aus dem unübersehbaren Für- und Gegeneinandertreten der länglichen Halme ergibt; um die Präsenz des Gemäldes in diesen Strukturen vielleicht wiederzuerkennen, das Fluten der Stoffbahnen, das daraus Hervortreten indefiniter Wesenheiten in drängender Umkreisung des Paars, in dessen Zusammenhängen die Mordabsicht in diesem kurzen Dasein neuerlicher Versunkenheit nicht mehr unmissverständlich erscheint. Es mag etwas ganz Liebevolles darin liegen, das er der Versunkenheit, davorstehend, nicht abgewinnen hatte können. Er beginnt die Nuancen zu sehen, wie sie vor ihm, zu Boden gesunken, ins Grün der Rasenflächen, offensichtlich werden  – oder nur im Rahmen der Spielart der Situation …? Raus, hatte er gedacht. Und schon damals! Ins Freie treten. Als er sie noch gekannt hatte. Bloß nicht sentimental werden. Und vor einem Krater zu stehen kommen. Bloß nicht abstürzen. Oder am Abhang ins Rutschen kommen.
    Durchatmen. Langsam. Aufstehen. Langsam, denkt er. Setzt sich erneut in Bewegung. Die Bäume weichen zurück. Keiner da hier. Die Straße weitet sich. Das Unbehagen, das ihn beschleicht, will seinen Schritten nicht ausweichen. Die Stadt liegt fern zu beiden Seiten der Fahrbahn. Er betritt ein Kriegsgebiet. Die Stadt ist zerstört. Ruinen säumen die Blicke. Schon vernimmt er Detonationen einschlagender Geschütze. Das ist nicht hier. Geruch von Schlacht. Dunkel. Schon Explosionen der Ampelanlagen. Etwas überträgt sich. Etwas. Irritiert öffnet und schließt er die Augen, blinzelt mehrmals, bis das Bild sich wieder klärt. Etwas hatte sich übertragen. Vergangen, denkt er. Wie die Abbildung des Spiegels, deren Mangel an plastischem Gegenwert innerhalb der Ordnung des Gemäldes ihn dermaßen irritiert. Das ist nicht da. Eine Art Nachhallen, niemals mehr. Er wacht daraus auf, betritt das Kaffeehaus, das dort vor Kurzem erst eröffnet haben musste, lässt die gegeneinander stürmenden Parteien hinter sich. Wie Fallwinde ineinanderstürzend. Nie gesehen. Er nimmt am einzigen noch unbesetzten der altmodischen, runden Tische Platz, die in lockerer Formation über die recht weitläufigen Erd- und Halbgeschossflächen verteilt sind. Er kennt ihre Anführer. Der Geräuschpegel ist niedrig; keiner flüstert. Er bestellt eine große Tasse Kaffee. Bezahlt sofort.


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